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Griechische visuelle Poesie

Von der Antike bis zur Gegenwart

von Lilia Diamantopoulou (Autor:in)
©2016 Dissertation 499 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht das Formenspektrum griechischer visueller Poesie in ihrer sprachlichen und kulturgeschichtlichen Spannbreite: Vom antiken Technopägnion, den Kuben und Trigona, über die byzantinischen «gewebten Verse» oder die neuzeitlichen figurierten Lobgedichte bis hin zur Vielfalt experimenteller Formen in der Moderne und der Code Poetry unserer Zeit. Die literaturhistorische Darstellung berücksichtigt neben der rein textuellen Seite der entsprechenden Artefakte auch deren medialen und performativen Charakter und setzt sie in Bezug zu den internationalen Strömungen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Rückblick
  • Vorbemerkungen
  • 1. Antike Figurengedichte
  • 1.1. Die Genese der visuellen Poesie im Morgenland und ihr Erbe an die griechische Schriftkultur
  • 1.2. Der Kubus
  • 1.3. Das Trigonon
  • 1.4. Das Technopägnion
  • 1.4.1. Simias von Rhodos: Flügel, Ei und Beil
  • 1.4.1.1. Flügel
  • 1.4.1.2. Ei
  • 1.4.1.3. Beil
  • 1.4.2. Syrinx (Panflöte) des Theokrit
  • 1.4.3. Zwei Altargedichte
  • 1.4.3.1. Iason-Altar, Altar des Dosiadas oder dorischer Altar
  • 1.4.3.2. Musenaltar, Altar des Besantinos oder Ionischer Altar
  • 1.5. Weitere Formen des visuellen Versspiels
  • 2. Byzantinische visuelle Gewebe
  • 2.1. Voraussetzungen byzantinischer visueller Poesie
  • 2.2. Tradierung der Technopägnien und Scholienarbeit der Byzantiner
  • 2.3. Στίχοι υφαντοί – die byzantinischen Gittergedichte
  • 2.4. Das carmen cancellatum als Ausdrucksform kaiserlich-religiöser Propaganda. Das Beispiel der Chalke-Jamben am Palasttor von Konstantinopel im 8. und 9. Jahrhundert
  • 2.5. Akrosticha, Kuben und weitere Randformen
  • 3. Von der Handschrift zum gedruckten Buch: Technopägnienrezeption in Renaissance und Humanismus
  • 4. Lampros Fotiadis: ein bekannter Unbekannter
  • 4.1. Die Figurengedichte von Lampros Fotiadis aus der Handschrift EBE 2390
  • 4.1.1. Beil-, Flügel- und Eigedicht an Gregor Brâncoveanu
  • 4.1.1.1. Doppelaxt auf Gregor
  • 4.1.1.2. Flügel für Gregor
  • 4.1.1.3. Ei für Gregor
  • 4.1.2. Altargedicht für Smaragda Brâncoveanu
  • 4.1.3. Flügelgedicht für Neofytos Kafsokalyvitis
  • 4.1.4. Flügelgedicht für Panagiotis Kodrikas
  • 4.1.5. Flügelgedicht für Filaretos II. von Rymnik
  • 4.1.6. Flügelgedicht für Tleman
  • 4.2. Die Figurengedichte von Manouil Saris Tenedios (1778–1802)
  • 4.2.1. Flügelgedicht für Alexandros Ypsilantis
  • 4.2.2. Flügelgedicht für den Metropoliten Dositheos Filitis
  • 4.2.3. Syrinx an Lampros Fotiadis
  • 4.3. Zusammenfassende Bemerkungen
  • 5. Die Historisierung des ancien régime: die Donaufürstentümer in der Übergangszeit zum Neuen
  • 5.1. Gelegenheitsgedicht und Herrscherhuldigung an den Höfen der Donaufürstentümer
  • 5.2. Fotiadis und die Herrscherpanegyrik am Beispiel dreier Trigona
  • 5.3. Ein rhombenförmiges Namenslabyrinth für Nikolaos Mavrogenis (1789)
  • 5.4. Der Gegenspieler: rhopalische Verse für Napoleon (1813)
  • 6. Neuer Wein in alten Gefäßen
  • 6.1. Figurengedichte und Sprachenfrage
  • 6.2. Das Figurengedicht im Rahmen der antiken Verslehre und Metrik, mit einem Schwerpunkt auf der Metrik von Zinovios Pop (1803)
  • 6.3. Καλλιόπη Παλινοστούσα ή Περί Ποιητικής Μεθόδου [Die heimgekehrte Kalliope oder über die poetische Methode] (1819) von Charisios Megdanis
  • 6.4. Die Στιχουργική [Verslehre] (1891) von Panagiotis Gritsanis
  • 7. Letzte Spuren des Personenlobs in figurierter Form
  • 7.1. Eine säulenförmige Ode von Evanthia Kairi und dem Drucker Konstantinos Tombras an den Metropoliten von Ephesus Dionysios Kalliarchis (1819)
  • 7.2. Alexandros Rizos Rangavis’ verlorene Figurengedichte (1823)
  • 7.3. Neofytos Doukas’ Raute für König Otto I. (1833)
  • 7.3.1. Editionsform und Kontext
  • 7.3.2. Historischer Anlass
  • 7.3.3. Herrscherlob als Kontinuum in der Gattungsgeschichte
  • 7.3.4. Besprechung des Inhalts
  • 7.3.5. Form des Gedichtes
  • 7.3.6. Symbolische Deutung der Form
  • 7.3.7. Fazit
  • 7.4. Ein Tropaion von Anastasios Giannopoulos (1845)
  • 7.5. Altargedichte von Antonios Manousos (1857) und Ioannis Nikolaou (1863)
  • 7.6. Eigedicht auf den Tod des Patriarchen Gregor V. (1863)
  • 7.7. Pyramidengedicht von N. I. Laskaris (1899)
  • 7.8. Die Freude am Spiel: Sprach- und Versspiele der neugriechischen Literatur
  • 8. Poetische Avantgarden des 20. Jahrhunderts: Vom Vers zur Konstellation
  • 8.1. Konstantinos Kavafis: „Εν τω μη[νί] Αθύρ [Im Mon[at] Athyr]“ (1917)
  • 8.2. Odysseas Elytis und die visuelle Poesie
  • 8.3. Potis Psaltiras’ Kalligramme
  • 8.3.1. Pyramidale Gedichte
  • 8.3.2. „Ζάν Μορεάς [Jean Moréas]“
  • 8.3.3. „Πλάτος δικαιωμένο [Berechtigte Weite]“
  • 8.3.4. „Το σονέττο του τυχερού [Das Sonett des Glücklichen]“
  • 8.3.5. „Μια γέφυρα στον έρωτα [Eine Brücke zur Liebe]“
  • 8.4. Giorgos Seferis’ Kalligramme (1941–1943)
  • 8.4.1. Seferis und Apollinaire
  • 8.4.2. Die Kalligramme und der Krieg
  • 8.4.3. Undatierte Widmung: „Της Μαρώς [Für Maro]“
  • 8.4.4. Gedichte aus Südafrika, Oktober 1941
  • 8.4.4.1. „Άν αγγίξεις τη λύρα [Wenn du die Lyra berührst]“
  • 8.4.4.2. „Τί έχασες δυστυχισμένη [Was hast du verloren, Unglückliche]“
  • 8.4.4.3. „Ξενιτιά ανυπόφορη [Unausstehbare Fremde]“
  • 8.4.4.4. „Και τα λουλούδια βγάλαν μια φωνή [Und die Blumen riefen]“
  • 8.4.5. Gedichte aus Ägypten, November 1942
  • 8.4.5.1. „Οι πυραμίδες [Die Pyramiden]“
  • 8.4.5.2. „Επιδρομή [Invasion]“
  • 8.4.5.3. „Πανιά στο Νείλο/ Καλλιγράφημα [Segel am Nil/ Kalligramm]“
  • 8.5. Kypros Chrysanthis’ Kalligramme
  • 9. Experimentelle Poesie und Postmoderne
  • 9.1. Gruppe visueller Dichter [Ομάδα οπτικής ποίησης] 1981
  • 9.2. Visuelle Poesie und elektronische Medien
  • 10. Abschließende Bemerkungen und Typologisierungsversuch
  • Literaturverzeichnis
  • Namensregister
  • Reihenübersicht

Rückblick

Als ich zu Beginn meines Studiums der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität München bei Frau Prof. Erika Greber die Vorlesung und den daran anschließenden Workshop zur Verbindung von Bild und Text besuchte und wir in diesem Rahmen auch die Ausstellung „SchriftBild“ für den Sommer 2000 vorbereiteten, übernahm ich, vom Thema begeistert, die Sektion zur „Visuellen Poesie in der Antike“ und, gemeinsam mit Patrizia Tappeiner, das Kapitel „Kinderlyrik und visuelle Kinderpoesie“.

Im Zuge dessen fragte mich – ich kam direkt von der Schule und war 18 Jahre alt – die Professorin: „…und wie sieht es aus mit zeitgenössischer griechischer visueller Poesie?“ Ich überlegte ein wenig und musste verschämt zugeben: „Ich kenne kein einziges Beispiel…!“ Seitdem beschäftigte mich die Frage und ich sammelte eifrig alles, was Bild und Text kombinierte und in griechischer Sprache verfasst war.

Die vorliegende Studie ist nun also das Ergebnis dieser Nachforschungen, die mich über mein gesamtes Studium begleiteten, das Thema meiner Magisterarbeit („Die byzantinische visuelle Poesie im Vergleich mit der visuellen Poesie des deutschen Barock“) prägten und in einer Doktorarbeit mündeten, deren überarbeitete Version schließlich hier vorliegt. Bedauerlich, jedoch unumgänglich für diese Ausgabe, war die Kürzung des über zweihundert Seiten langen Abbildungsteiles.

Durch die schwierigsten Phasen meiner Forschungsarbeit bestärkte und begleitete mich stets mit Rat und Tat Frau Prof. Marilisa Mitsou, der von dieser Stelle aus zu danken, das mindeste ist, was ich tun kann. Weiterhin schulde ich meinen Mitbetreuern und Gutachtern aus der Komparatistik Prof. Martin von Koppenfels und der Neogräzistik Prof. Miltos Pechlivanos und Prof. Ulrich Moennig für ihre hilfreichen Bemerkungen und anregenden Gespräche großen Dank. Nicht zuletzt, möchte ich auch meinen KommilitonInnen, MentorInnen, Freunden und meiner Familie danken, die meinem Enthusiasmus für visuelle Versspiele, Kalligramme und Figuren wie Lampros Fotiadis und Potis Psaltiras unermüdlich Gehör schenkten und mir beistanden. Außerordentlich dankbar bin ich all jenen, die bei ihren Lektüren zufällig auf visuelle Gedichte gestoßen sind und mich drauf aufmerksam machten; sie sind im Einzelnen an entsprechender Stelle erwähnt.

Ganz besonders freue ich mich über die Aufnahme der Dissertation in der Reihe der „Studien zur Geschichte Südosteuropas“, deren HerausgeberInnen Prof. Olga Katsiardi-Hering, Prof. Andreas E. Müller und Prof. Maria A. Stassinopoulou ich mit Dank verbunden bin. ← 9 | 10

Abb. 1:    „Αυτό είναι ένα ποίημα [Dies ist ein Gedicht ]“ von Ersi Sotiropoulou (Giannoulopoulos 1983: 141).

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Vorbemerkungen

Αυτό είναι ένα ποίημα [Dies ist ein Gedicht] – so lautete der Titel der jüngsten Ausstellung der griechischen Gruppe visueller Dichter in Athen.1 Das Plakat der Ausstellung zierte ein Werk von Ersi Sotiropoulou, worin sie selbst, dem Betrachter den Rücken zugewandt, ebendiesen Satz in den Himmel schreibt, während sie auf einem Steg steht, der ins Meer führt (s. Abb. 1). Dieses Beispiel bietet eine mögliche Interpretation und Definition der Frage: was ist Poesie? Und genauer: was ist visuelle Poesie?

Während die erste Frage für jeden Rezipienten subjektiv zu beantworten ist, versucht die vorliegende Arbeit auf die zweite Frage eine Antwort zu geben und zwar speziell für den griechischen Fall. Man kann beobachten, dass Wertung und Bewertung visueller Poesie in engem Bezug mit der jeweiligen (historisch lokalisierbaren) Auffassung zu den Mischgattungen und der Multimedialität stehen. So wird nicht selten die Frage gestellt, ob die Gattung mehr in den Bereich der Poesie oder doch eher in den Bereich der Kunst zu verorten ist.2 Diese Wechselbeziehung von Dichtung und Kunst, und in Erweiterung auch von Musik, Video, Performance und Internet, ihre ganz und gar multimediale Ausrichtung, ist natürlich nicht neu. Die bei Plutarch überlieferte und in entsprechenden Einleitungen zur visuellen Poesie viel zitierte Aussage von Simonides von Keos, dass die Malerei stumme Poesie und die Poesie sprechende Malerei sei, findet sich etwas abgewandelt auch bei anderen Autoren, beispielsweise bei Platon (Politeia, X 605a), Aristoteles (Poetik, 1, 1447a; 2, 1448a; 25, 1460b) und Horaz (Ars Poetica, 361), und bleibt bis heute aktuell.3 Man kann Michel Foucault zustimmen, wenn er in ← 11 | 12 Die Ordnung der Dinge sagt, dass die Beziehung von Sprache und Malerei eine unendliche sei (Foucault 1999: 38).

Neben dieser vielmehr theoretisch-definitionstechnischen Fragestellung steht auch die Frage nach der historischen Kontinuität der Gattung im Vordergrund. Die Kontinuitätsthese setzt voraus, dass die zu untersuchende Gattung in ihrer historischen Diachronie konstant in Erscheinung tritt. Sie setzt zudem einen einheitlich auftretenden und sich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen bestätigenden Gattungsbegriff voraus. Aus diesem Grund wurde hier der eher breit gefasste Begriff der „visuellen Poesie“ gewählt. Die vorliegende Forschungsarbeit verbindet zwei Perspektiven: einerseits untersucht sie genetisch-evolutiv die Entstehung und Entwicklung des Genres im griechischsprachigen Raum, andererseits geht es ihr um die punktuelle Untersuchung bestimmter historischer Kontexte, in denen visuelle Poesie verstärkt auftritt.

Die visuelle Poesie ist als Gattung gerade für den westlichen Raum mittlerweile relativ gut erforscht, so dass es einige treffliche Darstellungen gibt, auf die man zurückgreifen kann. Dabei kann man sich einerseits auf knappe Überblicksdarstellungen zur Geschichte und Gegenwart der visuellen Poesie auf europäischem oder internationalem Rahmen stützen,4 andererseits auf aufwendig erarbeitete Kompendien (Adler/Ernst 1987, Higgins 1987, Massin 1970, Ernst 1991 und Dencker 2011). Dabei ist es nicht unüblich, dass viele dieser Untersuchungen eine historisch weit übergreifende Darstellung des Phänomens (von der Antike bis in die Gegenwart), sowie eine mehrere Sprachräume umgreifende und den Begriff der visuellen Poesie breit fassende Darstellung anstreben. Zudem kann man auf Spezialuntersuchungen zurückgreifen, die sich entweder auf eine bestimmte Phase,5 oder (häufiger) auf bestimmte Sprachräume und Kulturkreise konzentrieren.6 Schließlich ist auf die Aufarbeitung, Übersetzung und Kommentierung theoretischer und gattungspoetologischer Texte durch Ernst (2012 und 2016) hinzuweisen. ← 12 | 13

Die griechischsprachige visuelle Poesie ist in Bezug auf das antike Technopägnion und die frühen Vorläufer aufgearbeitet worden; es ist die vielleicht am besten untersuchte Gruppe von Figurengedichten überhaupt, obwohl es auch dort noch Forschungsdesiderate gibt.7 Für die byzantinische visuelle Poesie hat Wolfram Hörandner (1990 [gr. Übersetzung V. Petersen 1992]; 1994 und 2009) den Weg erschlossen, dem Ulrich Ernst (1991: 738–764) folgt. In Bezug auf die neugriechische visuelle Poesie sei auf die knappe Übersicht in der Zeitschrift Ανακύκληση (Rombotis 1986) und der an manchen Stellen diesen Beitrag fast plagiierenden Anthologie von Melita Toka-Karachaliou (1995) verwiesen. Auch die Zeitschrift Ομπρέλα (Dandis 1984) beschäftigte sich in einer ihrer Ausgaben speziell mit der visuellen Poesie, setzte aber ihren Schwerpunkt auf einen Autor, nämlich Potis Psaltiras. Dandis, der Autor dieses Artikels, bemängelt an der international ausgerichteten Anthologie konkreter Poesie von Giannoulopoulos (Ανθολογία συγκεκριμένης ποίησης, 1983), dass nur neuere Beispiele erwähnt werden, was allerdings gerade das Anliegen der Anthologie ist. Vielmehr könnte man an der Anthologie bemängeln, dass von den 78 Autoren nur 6 griechisch sind. Dennoch bleibt Giannoulopoulos’ (schon lange vergriffene Anthologie) die bisher einzige Zusammenstellung der Gattung, in der zudem zu Beginn grundlegende theoretische Texte in griechischer Übersetzung dargeboten werden. Obwohl bisweilen auch visuelle Gedichte darin vorkommen, liegt der Fokus bei der konkreten Poesie. Ähnliches gilt für den theoretischen Überblick zur konkreten Poesie von Morfia Malli (2005), deren Beitrag zum griechischen Fall eher gering ausfällt. Die Ausstellungskataloge der griechischen Gruppe visueller Dichter bieten wiederum einen guten Überblick zu den Aktionen der Gruppe seit den 1980ern (s. Stefanidis 2003; Οίνος-Wine 2006; Kokkini 2011). Dazu existieren außerdem einige Einzelstudien zu bestimmten Autoren, die jedoch leider oft durch Marginalität und Oberflächlichkeit gekennzeichnet sind, oder ihren Fokus anders verorten, so dass das Figurengedicht darin bloß als Beispiel vorkommt.8 Die wohl am häufigsten untersuchten Figurengedichte neuerer Zeit sind die Kalligramme von Seferis; dennoch wundert es, dass es dazu noch keine erschöpfende Untersuchung gegeben hat.9 ← 13 | 14

Der vorliegende Beitrag versucht also eine große Forschungslücke – so weit möglich – zu schließen. Er versucht erstmals einen Gesamtüberblick der Produktion visueller Poesie im griechischen Raum zu schaffen, indem punktuell auf konkrete Autoren und Diskurszusammenhänge fokussiert wird. Da historisch ein großer Bogen gespannt wird, kann und soll nicht auf territoriale Grenzen geachtet werden, der zu untersuchende Raum ist vielmehr der griechische Sprachraum. Als eine interessante Fragestellung hat sich herausgestellt, wie die Entwicklung, die die griechische Sprache durchläuft, auch in der visuellen Poesie zum Vorschein tritt und inwiefern sie eine Rolle spielt. Hinsichtlich der griechischsprachigen Figurendichtung des 18. und 19. Jahrhunderts ist festzustellen, dass deren Erforschung noch gänzlich aussteht. Hieraus erklärt sich auch die besondere Berücksichtigung dieser Zeitspanne (und von Protagonisten wie Lampros Fotiadis) innerhalb der vorliegenden Untersuchung. Trotz der im Hinblick auf die neugriechische Figurendichtung bestehenden Lücken und Desiderate ist es aufgrund der skizzierten Forschungslage möglich, die erwähnten Forschungen für das vorliegende Vorhaben fruchtbar zu machen. So können etwa heuristische Begriffe und Konzepte, die für die Figurendichtung im westeuropäischen Raum entwickelt wurden, auf den griechischen Fall übertragen werden.

Die Problematik der uneinheitlichen Bezeichnung und uneindeutigen Terminologie wird in fast allen Forschungsbeiträgen thematisiert.10 Es existiert eine Vielzahl an Begriffen die zudem in den verschiedenen europäischen Sprachen nicht unbedingt bedeutungsidentisch sind.11 Dass manche der Begriffe mit bestimmten Ausprägungen und historischen Epochen verbunden sind (z. B. Bilderreime für Beispiele des deutschen Barock, oder Kalligramme für Figurengedichte der Avantgarde) und dass in der Begriffsverwendung der Anachronismus verbreitet ist, erkennt Guichard (2006: 83) sehr richtig. Gerade die Differenzierung zwischen visueller Poesie und konkreter Poesie fällt aber besonders schwer, da auch visuelle Poesie konkret, konkrete Poesie durchaus visuell sein kann. Auf diese Problematik geht Dencker (2011: 1–16) besonders ausführlich ein und entwickelt für sich den übergreifenden Dachbegriff „optische Textformen“.12 Hiermit ← 14 | 15 versucht er zu vermeiden, den Begriff der visuellen Poesie, der v. a. als Übernahme aus dem italienischen „poesia visiva“ eine ganz bestimmte Ausprägung der 1960er bezeichnet (eine Parallelentwicklung zur „poesia concreta“), übergreifend „über alle Jahrhunderte hinweg auf alles Verwandte oder gar nur Ähnliche“ (Dencker 2011: 1) anzuwenden, wie es beispielsweise Ulrich Ernst (v. a. 1991) in seinen Arbeiten macht. Dieser Denkansatz ist richtig, und wird auch von der griechischen Gruppe visueller Dichter vertreten, die mit Dencker in dieser Frage in Kontakt stand. Der analoge griechische Begriff „οπτική ποίηση [optiki poiisi]“ kann allerdings keine solche Differenzierung zwischen den Begriffen „visuell“ und „optisch“ bieten, zwischen denen im Prinzip auch kein wesentlicher Unterschied besteht. Zudem hat sich gerade in der deutschsprachigen Forschungsliteratur der Begriff „visuelle Poesie“ als übergreifender, übergeschichtlicher Terminus verfestigt.

Demnach soll auch hier der Begriff „visuelle Poesie“ in seiner breiter gefassten Bedeutung angewandt werden und zwar für solche Texte, in denen das optische Element von grundlegender Bedeutung ist, auch um großzügig jene Ausprägungen der konkreten Poesie zu umgehen, die nicht mit dem Bild operieren. Ist das visuelle Element formgebend und formfüllend, so wird der Begriff Figuren- oder Umrissgedicht („σχηματικό ποίημα“) verwendet. Speziell die hellenistischen Figurengedichte werden in der Forschung als Rückgriff auf Decimus Magnus Ausonius (c.a. 310–394 n. Chr.) Technopägnien (oder Technopaignien) genannt, um das zweifache, die Kunst(fertigkeit) und das Spiel auszudrücken. Bei Ausonius ist der Begriff allerdings breiter gefasst und umfasst auch weitere Versspiele. Es ist Fortunio Liceti (1577–1657) der ihn speziell auf Umrissgedichte anwendet. Im Lexikon von Giannaris (1892: 2398) ist der Begriff ebenfalls umfassender verstanden worden und wird wie folgt erläutert: „τεχνο-παίγνιον, τό, παίγνιον τῆς τέχνης, στιχουργικὸν παιγνίδιον [das Technopägnion, Spiel der Kunst, Versspiel]“. Da der Begriff allerdings in der Sekundärliteratur überwiegend und speziell für die hellenistischen Umrissgedichte angewandt wird, folgt die vorliegende Darstellung ebenfalls diesem Begriffsgebrauch. In den Scholien werden sie auch schlicht und einfach als „σχήμα [Form]“ bezeichnet (s. Luz 2010: 330 und Fußnote 14), während Hephaistion den Ausdruck „παίγνια [Spiel]“ verwendet. In Anlehnung darauf, spricht Gritsanis von poetischen Spielen („ποιητικά παίγνια“, Gritsanis 1891: 125). Hephaistion, der in seinem Encheiridion die Figurengedichte erwähnt, verwendet den Begriff „αντιθετικά [gegensätzliche]“, sich auf die metrische Bauweise nur mancher Figurengedichte beziehend:13 ← 15 | 16

       Gegensätzliche sind es, wenn der Dichter so viele ungleiche Kola schreibt wie er will, dann dem letzten den ersten entgegnet, den zweitletzten dem zweiten und so weiter, immer auf diese Weise.14

Megdanis spricht in seiner Metrik von 1819 von „gegensätzlichen und vielförmigen Gedichten“ („Περί των αντιθετικών και ποικιλομόρφων ποιημάτων“, Kap. 6: 82–87). Konstantinos Asopios (1850: 270) bezeichnet in seiner Ιστορία των Ελλήνων ποιητών και συγγραφέων [Geschichte griechischer Dichter und Schriftsteller] die Figurengedichte aus dieser Problematik heraus als „σπουδοπαίγνια“, ein von ihm geschaffener Neologismus (s. auch Koumanoudis 1900, Bd. 2: 921), um wiederum das Zweifache, Fleiß (σπουδή) und Spiel (παίγνιο) zu verbinden.15 Am Anfang von Asopios’ Werk befinden sich außer tabellarischen Darstellungen von Autoren und Werken und ihrer zeitlichen Anordnung auch gattungstheoretische Darstellungen bei der die Textsorten nach ihrer Gattungszugehörigkeit gruppiert werden. In dieser Systematisierung findet sich auch das Technopägnion in die Gruppe von Textsorten eingeordnet, die im Übergang von der epischen zur lyrischen Dichtung stehen (Asopios 1850: 54).16 Raptarchis (1862: 11) schafft wiederum eine eigene Bezeichnung und spricht von „graphischen Spielen oder Spielzeugen [γραφικά παίγνια ή αθύρματα]“.

Als Gittergedichte wiederum werden jene poetischen Formen bezeichnet, bei denen im (meist quadratischen) Haupttext weitere Intexte eingewebt sind und etwa vertikal oder diagonal lesbar sind. Eustathios von Thessaloniki bezeichnet diese Form als „Gewebe [ιστουργήματα]“ οder „gewebte Verse [στίχοι υφαντοί]“. Dieser Bezeichnung folgt auch Lampsides (1982; siehe ausführlicher in Kap. 2). Die von Apollinaire geprägte Form des Kalligramms, einer Form die als eine Zeichnung durch Schrift charakterisiert werden kann, stellt einen weiteren Typus visueller Dichtung dar und wird im Griechischen mit dem Begriff „καλλιγράφημα [Kalligramm]“ bezeichnet. ← 16 | 17

Hiermit sind die Haupttypen visueller Gedichte vorgestellt worden. In der vorliegenden Arbeit werden jedoch weit mehr Spielarten visueller Poesie behandelt, bisweilen auch Randformen und an die Gattung angrenzende Versspiele, deren begriffstechnische Explikation jedoch hier nicht vorausgegriffen werden braucht. Stattdessen sind zwei weitere große Themengebiete anzusprechen, nämlich einerseits die Frage nach der gattungspoetologischen Zugehörigkeit visueller Poesie und andererseits ihre Kanonisierungsproblematik.

Was die Typologisierung und den Klassifizierungsversuch visueller Poesie angeht, so hat Dencker (2011) große Fleißarbeit geleistet.17 Gerade die Darstellung des frühen, auch grafischen Systematisierungsversuchs der intermedialen Beziehungen durch Ludwig Volkmann (1930: 12; vgl. dazu Dencker 2011: 19, Abb. 4) ist besonders interessant. Das kreisförmige grafische Modell stellt die jeweiligen Typen je nach ihrer Nähe zum Bild bzw. zur Schrift dar. Ein weiteres Modell, das die intermedialen Bezüge zwischen Schrift, Bild und auch weiteren Künsten wie etwa Musik, Theater und Philosophie visuell darzustellen versucht, bietet Dick Higgins im Jahr 1976 (s. Dencker 2011: 35, Abb. 7). Er baut das Modell 1995 weiter aus (s. Dencker 2011: 39, Abb. 9), während Vittore Baroni (s. Dencker 2011: 37, Abb. 8) sein Modell in Form eines Baumes zu veranschaulichen versucht und somit das theoretische Modell selbst zum Figurengedicht wird. Dimosthenis Agrafiotis arbeitet im Jahre 2003 Higgins intermediales Modell weiter aus und durch Philippe Castellins (2002) Dissertation zur Zeitschrift DOC(K)S beeinflusst, entwickelt er eine weitere Topologie der Typologie (vgl. Abb. 2 unten). Das grafische Modell von Agrafiotis ist in einem theoretischen Text eingebettet und wurde im Katalog der Ausstellung der griechischen Gruppe visueller Dichter Εικονογραφές (Stefanidis 2003: 22–25) gedruckt.18 In dem Ausstellungskatalog einer weiteren Ausstellung (Kokkini 2011: 7) wird eine Zeichnung von Nanos Valaoritis präsentiert, in der eine Figur ein Schild mit der Aufschrift „visuelle Poesie“ in die Luft hebt, während zu ihren Füßen „nicht-visuelle Poesie“ geschrieben steht (siehe hier Abb. 2 oben). Die Figur, deren Gesicht einem Totenkopf gleicht und die eine Uniform trägt, steht zwischen Hydra und Psara, zwei Inseln, die im ← 17 | 18 griechischen Unabhängigkeitskrieg von großer Bedeutung waren. Obwohl das Modell schwer zu interpretieren ist, sei hier ein Versuch gestattet: die visuelle Poesie basiert auf der nicht-visuellen Poesie und entstammt der griechischen Tradition (vielleicht deutet der uniformierte Totenkopf auf Solomos’ Verse „απ᾽ τα κόκκαλα βγαλμένη των Ελλήνων τα ιερά [aus den heiligen Knochen der Griechen heraus]“ aus der Nationalhymne), sie ist eine revolutionäre Gedichtform (wofür symbolisch die Inseln stehen) und vereint sowohl Tradition (symbolisiert durch die Meerjungfrau zur Linken) als auch Moderne (symbolisiert durch das U-Boot zur Rechten).

Abb. 2:    Oben: Zeichnung von Nanos Valaoritis (Kokkini 2011: 7); Unten: Grafisches Modell von Dick Higgins, erweitert durch Dimosthenis Agrafiotis (Stefanidis 2003: 23; vgl. Dencker 2012: 39, Abb. 9).

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Die bisher dargestellten gattungspoetologischen Systematisierungsversuche konzentrieren sich hauptsächlich auf das Intermediale der visuellen Poesie; ihre Wechselbeziehungen also zu den anderen Künsten. Doch ist deren Position auch innerhalb der gattungspoetologischen Grenzen an sich nicht eindeutig an einer Stelle zu verorten. Von Fall zu Fall steht sie einmal dem Idyll näher (und weitläufiger der Bukolik überhaupt), ein anderes Mal dem Epigramm, dem Lobgedicht oder anderen Gattungstypen. Die visuelle Poesie und das Sprach- und Versspiel im Allgemeinen (Isopsephien, Lipogramme, Anagramme, Akrosticha, permutative Texte, rhopalische Verse, Rätsel, Wortspiel u. a.) werden meist zu den kleineren Formen bzw. Randformen gezählt. Jäger (1970: 23–25) beobachtet, dass eine solche „Ergänzungsklasse“ innerhalb der Gattungssystematisierung gerade für die Einordnung von Mischgattungen notwendig ist und stellt diese Problematik exemplarisch anhand von Idylle und Epigramm dar. In ihrer Grenzpositionierung wird die visuelle Poesie zusammen mit den anderen spielerischen Formen der Poesie – gerade wenn sie gruppiert werden – meist als marginale Aberrazionen bezeichnet (s. Fantuzzi/Hunter 2002: 40–41).

In den neugriechischen Metriken und Verslehren werden Sprach- und Versspiele entweder gar nicht, oder nur kurz abgehandelt und nur die älteren Metriken von Megdanis (Καλλιόπη παλινοστούσα, 1819) und Gritsanis (Στιχουργική, 1891) widmen der visuellen Poesie eine eingehende Darstellung mit Beispielen (s. dazu auch Kap. 6). Von den zehn neugriechischen Verslehren bzw. Metriken, die Evripidis Garantoudis in seiner Bibliographie neugriechischer Metriken (Garantoudis 2000: 27–37) aufnimmt, erwähnen vier die Vers- und Sprachspiele gar nicht.19 In ← 19 | 20 den restlichen sechs wird (außer eben bei Megdanis und Gritsanis) das Sprach- und Versspiel nur kurz und meist abwertend erwähnt. So schreibt beispielsweise Ilias Voutieridis in seiner Verslehre (Νεοελληνική στιχουργική, 1929):

       […] nur des Spieles wegen kann sich ein Verseschmied mit diesen Versübungen beschäftigen. Obwohl auch ehrbare und ernste Dichter die Versspiele nicht missachteten, ist eindeutig, dass ihre Bauweise generell nicht zur echten Poesie passt.20

Trotz der Abwertung des Versspiels und speziell der visuellen Poesie bei Voutieridis, unterscheidet sich sein Werk von den anderen Metriken darin, dass er nicht allein die antike, sondern auch die mittelalterliche und neuere figurierte Dichtung erwähnt. Bezeichnend ist, dass er eine Vorliebe für diese Dichtart im 19. Jh. erkennt, ohne jedoch darauf genauer einzugehen:

       In der neueren griechischen Zeit haben vielmehr die altgriechisch schreibenden griechischen Versemacher Versspiele verfasst, bis Anfang des 19. Jh.21

Mit diesem Kommentar schließt Voutieridis das Thema der Figurendichtung („τα παλιά στιχουργικά παίγνια [die älteren Versspiele]“ ebd.: 285). Thrasyvoulos Stavrou wiederum, fügt in seiner Metrik (Νεοελληνική μετρική, erste Ausgabe 1930, zweite Ausgabe 1974) Akrosticha, Abecedarien und Figurengedichte (er bezeichnet sie, Potis Psaltiras folgend, als „Σχήματα [Formen]“) in eine Gruppe zusammen und nennt sie „Versspiele [στιχουργικά παιχνίδια]“ (Stavrou 1974: 126–128), ohne jedoch, wie etwa Voutieridis, auch die Echoverse einzubeziehen. Stavrou vertritt sogar die Auffassung, dass die Versspiele eigentlich nicht in eine Metrik einbezogen werden sollten, „da die Phänomene, die eine Metrik untersucht mit dem akustischen Gefühl verbunden sind und ästhetischen Wert haben, während die Technik der Versspiele für das Ohr nichtssagend ist und absolut keinen ästhetischen Wert hat“.22 Es ist interessant, dass Stavrou eine genaue Anweisung ← 20 | 21 gibt, wie man Figurengedichte verfasst und daraufhin als Beispiele nicht etwa die Technopägnien erwähnt, sondern die Kalligramme von Potis Psaltiras.

Diese Darstellung der Positionierung der figurierten Dichtung in den neugriechischen Metriken zeigt, wie unflexibel sich diese gegenüber poetischen Formen, die neu sind oder sich am Rande des poetischen Kanons bewegen, verhalten. Ähnliches ist auch für die gattungspoetische Einordnung des freien Verses oder des Prosagedichts zu beobachten. Benedetto Croce kritisiert ebendiese Verknöcherung der Gattungssysteme, da gerade solche Texte, die sich nicht in den Gattungskanon einordnen lassen, stets außen vor bleiben und abgewertet werden: „Wenn neben den gattungsgemäßen Werken einzelne Werke auftraten, die sich nicht einordnen ließen, so wurden sie für absonderlich und historisch unbedeutend gehalten“ (Croce 1970: 143). Dabei geht er so weit, dass er jeden literarischen Text im Grunde als eine Abweichung ansieht und lehnt schließlich überhaupt eine solche Systematisierung ab, so dass er von „der irrigen Lehre von den literarischen Gattungen“ (Croce 1970: 139) spricht.

In Bezug auf die Ausgrenzung der visuellen Poesie aus dem allgemeinen Kanon vertritt Guichard (2006: 96) eine ganz andere, aber gleichsam interessante Auffassung: Visuelle Poesie will sich gar nicht innerhalb des poetischen Kanons bewegen, sondern stets als Randform und Besonderheit auftreten.

       Pattern Poems have been considered ‘aberrazioni’ both by past and present orthodoxy in great part because they present themselves as such; a type of poem existing in almost all literatures and periods can hardly be marginal, except if one of its basic features is that they want to appear as marginal. From Simias to most recent poets publishing extreme forms of poetry on the Internet, the appeal to originality, erudition and marginality is more than a topic: it is a calling card of the genre, a rhetorical sign of identity. Pattern Poems and the extensive widespread archipelago of related poetic types have thus a very important role in the canon: the forms that present themselves as the outsiders are in fact a part of a strong tradition and, paradoxically, are very conservative inside their own type. Kastorion of Soloi’s permutative Hymn to Pan plays the same role as Raymond Queneau’s Cent mille milliards de poèmes; Simias’ Pattern Poems appear in their moment as innovative as Apollinaire’s Calligrammes appear at their turn. Literature needs a territory that seems to be free, fresh and new; a territory at the limit of poetic discourse, that is in itself the limit of literary discourse (Guichard 2006: 96).

Guichard argumentiert, dass die visuelle Poesie eine starke Tradition aufweist, da sie in allen Jahrhunderten präsent ist und schon allein dadurch, durch ihre Diachronizität, hervorragt. Ihre bewusste Ausgrenzung aus dem Kanon wirke sich paradoxerweise traditionsbildend und konservierend aus. Auch die vorliegende Darstellung zeugt von einer ungebrochenen Traditionslinie und Anwendung des literarischen Genos’, beginnend von den frühen Beispielen in der Antike bis hin zur Gegenwart. ← 21 | 22

Eines der Hauptanliegen der vorliegenden Untersuchung liegt darin, die Grundfunktionen der Verwendung und Produktion visueller Poesie herauszuarbeiten. Es sind drei Grundfunktionen zu nennen, die in der Vormoderne in verschiedenen historischen Epochen und Kontexten wiederholt auftreten und sich komplementär zueinander verhalten: a) Da es sich bei der visuellen Poesie um ein Genre handelt, das eine besondere artistische Fertigkeit voraussetzt, liegt eine Grundfunktion darin, mit der Produktion visueller Poesie die Kunstfertigkeit des Autors vor Augen zu führen. Dies kann die Beherrschung des Metrums betreffen, mit dessen Variation die Gestalt des Gedichtes geformt wird, oder aber die Beherrschung von Sprache und Stil (z. B. bei Lampros Fotiadis und auch noch bei Ioanna Papadopoulou). In der Moderne soll die Form schließlich Ausdruck der poetischen Freiheit sein. b) Was den Inhalt und die Form der hier untersuchten Gedichte anbelangt, soll gezeigt werden, dass Inhalt und Form stets korrespondieren, alte Formen für neue Inhalte angepasst werden und zudem das Genre zur Thematisierung und Visualisierung religiöser und mystischer Gehalte genutzt wird und in diesem Kontext von einem hohen Symbolcharakter geprägt ist. Bereits die hellenistischen Figurengedichte werden in einen Kontext von Religion und Mystik gelegt, der Inhalt ist zudem verrätselt und kryptisch gehalten. Im Horizont der byzantinischen Kultur wird dieser pagane Prototyp in einen christlichen Kontext überführt. c) Schließlich liegt eine weitere Grundfunktion im Personen- und Herrscherlob. Diese Funktion erfasst einerseits kasuelle Lobgedichte an Privatpersonen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen müssen, jedoch eine besondere Beziehung zum Autor des Gedichts unterhalten. Andererseits ist eine Konstante der Geschichte der Gattung (in Griechenland, aber auch außerhalb), dass mit visuellen Lobgedichten Herrscher oder geistliche Würdenträger angesprochen werden, eine Kommunikation mit Herrschaftsträgern stattfindet. Im monokephalen Herrschaftssystem der Monarchie, das historisch konkret etwa im byzantinischen Kaisertum, in den Donaufürstentümern der Walachei oder auch noch im Falle Ottos I. von Griechenland in den Horizont dieser Arbeit rückt, kommt der Kommunikation zwischen Dichtern bzw. Gelehrten bei Hof und dem Monarchen eine besondere Bedeutung zu. Die Legitimationsprozesse verlaufen hier so, dass die Panegyrik allgemein und das literarische Herrscherlob im Besonderen eine zentrale Rolle im Herrschaftssystem einnehmen. Darauf verweist schon allein die Popularität und die Quantität der herrschaftspanegyrischen Dichtung.23 Die im ← 22 | 23 poetischen Herrscherlob stattfindende politische Kommunikation ist allerdings ausgesprochen komplex. Die apologetische oder gar propagandistische Absicht ist nur eine ihrer Facetten. Das (überschwängliche) Lob kann auch pädagogische Absichten verfolgen, was im Bereich der politischen Traktatistik für die Gattung des Fürstenspiegels ebenfalls der Fall ist. Zumal falls sie an einen jungen, oder neu ins Amt gelangten Herrscher adressiert ist, können mit der Panegyrik auch Erwartungen vonseiten der Herrschaftssubjekte abgesteckt werden, an deren Erfüllung die Loyalität und der Gehorsam der Untertanen geknüpft zu sein scheint. Doukas’ Aussage, wonach er mit seiner Poesie den Tyrannen schmeichle, gibt hier ebenfalls zu denken (s. Kap. 7). Da der Dichter eventuell seine eigentliche Auffassung vom politischen Machthaber dissimulieren und verbergen muss, ist das poetische Herrscherlob voller Ambiguitäten. Eine der zentralen Forschungsinteressen der vorliegenden Arbeit betrifft die Frage, ob sich die genannten Grundfunktionen, die ebenfalls in bereits vorliegenden Forschungsarbeiten für die visuelle Poesie in der Antike und im Mittelalter herausgestellt wurden, auch noch nach der Wende zur Neuzeit und insbesondere in der Moderne durchhalten oder aber einen grundlegenden Funktionswandel erfahren.

Der Auseinandersetzung mit der neugriechischen visuellen Poesie sind einführend gesonderte Abschnitte zur visuellen Poesie in der Antike (Kap. 1) und in Byzanz (Kap. 2) vorangestellt. Dies erscheint insofern gerechtfertigt, als dass sich sämtliche Episoden in der Geschichte der neugriechischen visuellen Poesie an antiken (und häufig auch an byzantinischen) Vorbildern orientieren. In Vorbereitung auf die Untersuchung der visuellen Dichtung bei Lampros Fotiadis und bei seinen Epigonen (etwa Saris Tenedios, Rangavis, Doukas) wird in das Leben und Werk von Fotiadis eingeführt (Kap. 4). Dies erscheint einerseits erforderlich, weil es sich bei Fotiadis um eine in seiner Zeit wie auch in der heutigen Forschung allgemein bekannte Persönlichkeit handelt, zu dessen Leben und vor allem zu dessen poetischem Werk nur spärliche Informationen vorliegen. Andererseits ist die Bedeutung von Fotiadis, seiner Figurengedichte und seiner Lehrtätigkeiten, für die weitere Entwicklung des Genres im 19. Jahrhundert als grundlegend einzustufen. Dessen bisher unerforschte Figurengedichte werden im nächsten Schritt dargestellt (Kap. 4.1). Die hierauf folgende Analyse der Figurengedichte von Fotiadis’ Schüler Manouil Saris Tenedios bildet den nächsten Abschnitt (Kap. 4.2). Hierauf folgt die Untersuchung der herrscherpanegyrischen Funktion des Figurengedich ← 23 | 24 tes anhand von Fotiadis, Mavrogenis und den anonymen rhopalischen Versen an Napoleon (Kap. 5.4). Ein eigener Abschnitt ist für die Stellung des Figurengedichts in den neugriechischen Verslehren und Metriken des 19. Jahrhunderts vorgesehen (Kap. 6). Im nächsten Schritt wird die weitere Entwicklung, aber auch das allmähliche Abklingen des panegyrischen Figurengedichts (sowohl als Personen- wie als Herrscherlob) im 19. Jahrhundert in Griechenland untersucht (Kap. 7). War seit Fotiadis das antike Figurengedicht fester Bezugspunkt der visuellen Dichtung, die zudem oft in einer antikisierenden Sprache verfasst wurde, vertreten die Autoren der neuen Verslehren einen innovativen Standpunkt, der sich auch in ihrer Auseinandersetzung mit dem Genre der visuellen Poesie niederschlägt. Der nächste Abschnitt versucht einen Überblick über die Entwicklung der Gattung im 20. Jahrhundert zu liefern (Kap. 8). Während die visuelle Poesie bei Konstantinos Kavafis und Odysseas Elytis in unmittelbarer Nähe zum Epigramm steht, zeugen die Beispiele bei Potis Psaltiras, Giorgos Seferis und Kypros Chrysanthis von einer Vorliebe zum Kalligramm. Die griechische Gruppe visueller Dichter wird im letzten Abschnitt vorgestellt (Kap. 9). Hier wird deutlich, dass das Experimentieren mit der poetischen Sprache und den lyrischen Formen zu einer Vielzahl an Text-Bild-Kompositionen führt, die mit den Grenzen der Poesie und der Sprache und der Schrift als Medium operieren. Es ist dabei in vielen Fällen schwierig, diese Texte in Gattungschubladen zu stecken, zumal die Dichter und Künstler selbst doch gerade gegen eine solche Einordung protestieren. Für die visuelle Poesie spielt die Nähe zum Bild oder der Verbildlichung des Textes, sowie die Bedeutung des gesehenen Textes eine große Rolle. In einem Ausblick wird schließlich auf den Bezug der visuellen Poesie zu den neuen Medien (Kap. 9.2) eingegangen. ← 24 | 25 →


1       Die Ausstellung fand vom 20. 5. bis 5. 9. 2012 im Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst (Εθνικό Μουσείο Σύγχρονης Τέχνης) in Athen statt.

2       So etwa bei Seaman (1981: 2): „The question also arises as to whether visual poetry is a form of literature or of art“. Zu medientheoretischen Analysen der Intermedialität im Digitalisierungszeitalter siehe Blättler/Gassert (2010).

3       Die Sekundärliteratur zu diesem Thema ist immens; vgl. dazu die Ausführungen von Klaus Krüger (2003: 180, Fußnote 47) der auch auf die vorhumanistische und byzantinische Wirkungsgeschichte dieses topischen Vergleichs von gemaltem Bild und gesprochenen Wort und der Vielfalt seiner kontextuellen Bezüge verweist. Siehe dazu auch Belting (1990: 292) und Wenzel (1995: 292). Zu den Wechselbeziehungen von Literatur und bildender Kunst siehe v. a. Weisstein (1992) und darin speziell Döhl (1992: 158–172), zu den Beziehungen mit den anderen Künsten v. a. Zima (1995) und auch Koebner (1989).

4       So etwa in Ernst (1990a), Franzobel (1994), Weiermair (1993), Polkinhorn (1993), sowie Dencker (1972).

5       So beispielsweise zum 20. Jh.: Heißenbüttel (1966) und Weiermair (1993); zur Avantgarde: Warning/Wehle (1982); zum Futurismus: Caruso/Martini (1977) und Lista (1984); zu Dada: Faust (1987) und Riha (1990).

6       Siehe für den deutschsprachigen Raum: Glasmeier (1987), Block (1990), Gomringer (1991 und 1996) speziell zur DDR: Deisler/Kowalski (1990); Italien: Ballerini (1973), auch Pozzi (1981); Frankreich: Seaman (1981), Schlatter (1993), Mirzoeff (1995), auch Massin (1970); Portugal: Hatherly (1983) und Aguiar (1990); Südamerika: Block (1990), Polkinhorn (1993); USA: Emmett (1967), Polkinhorn (1993); Sowjetunion: Block (1990), speziell Russland: Drage (1993) und Birjukov (1994); Japan: Kamimura (1986) und Dencker (1997).

7       Es fehlt beispielsweise eine vergleichende Darstellung der Technopägnieneditionen. Für den Forschungsüberblick sei auf die jüngste Arbeit von Kwapitz (2013), Luz (2010) und auf Ernst (1991) verwiesen.

8       So beispielsweise bei Panagiotopoulos (1963/4), Chrysanthis (1971b), Mpoukalas (2008).

9       Aus den Forschungsbeiträgen besonders hervorzuheben ist die Arbeit von Chidiroglou (1983).

10     Siehe exemplarisch Funk/Mono (1988: 25); Ernst (1991: 1–11); Dencker (2011: 1–16).

11     Guichard (2006: 83) listet diese praktischerweise auf: „the most usual terms in European languages are ‘pattern poetry’, ‘figured poetry’, ‘figurative poetry’, ‘concrete poetry’ (Engl.); ‘Figurengedicht’, ‘Bildgedicht’, ‘Imago-Gedicht’, ‘Umrissgedicht’, ‘optische Poesie’, ‘Bilderreime’, ‘Seh-Texte’, ‘Buchstabendichtung’ (Germ.); ‘poesía visual’, ‘poésia concreta’, ‘poésia figurada’ (Sp.); ‘poesia visiva’, (It.); ‘calligramme’ (Fr.)“, wobei hiermit die Fülle an verschiedenen Termini lange nicht erschöpft ist.

12     Siehe dazu auch die grafische Darstellung bei Dencker (2011: 42, Abb. 12).

13     Bei Hephaistion finden sich an zwei Stellen des Werkes Definitionen; als Beispiel führt der das Ei des Simias an (s. Hephaestion 1906: 61 und 68).

14     „Ἀντιθετικὰ δέ ἐστιν, ὁπόταν ὁ ποιητὴς γράφῃ ὁπόσα δήποτε κῶλα [ὡς] ἀνόμοια καὶ ὡς βούλεται, εἶτα τούτων ἀντποδῷ τῷ μὲν τελεταίῳ τὸ πρῶτον, τῷ δὲ δευτέρῳ ἀπὸ τέλους τὸ δεύτερον, καὶ οὕτω πάντα κατὰ τόν αὐτὸν λόγον“ (Hephaestion 1906: 68).

Details

Seiten
499
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631695838
ISBN (PDF)
9783653067934
ISBN (MOBI)
9783631695845
ISBN (Hardcover)
9783631674239
DOI
10.3726/978-3-653-06793-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Visuelle und konkrete Poesie Intermedialität Beziehungen von Text und Bild Figurengedicht Lobgedicht Griechische Literatur und Kultur
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 499 S., 40 s/w Abb.

Biographische Angaben

Lilia Diamantopoulou (Autor:in)

Lilia Diamantopoulou ist Universitätsassistentin am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Text-Bild-Beziehungen und die Intermedialität in der neugriechischen Literatur. Derzeit forscht sie über Fälschung, Täuschung und Mystifikation.

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Titel: Griechische visuelle Poesie
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