Fachphraseologie am Beispiel der deutschen und der polnischen Fassung des Vertrags von Lissabon
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Dank
- Inhaltsverzeichnis
- 0. Einleitung
- 1. Das Wesen der Fachsprachen
- 1.1 Allgemeine Begriffserklärungen
- 1.2 Forschungsstand und Definitionen
- 1.3 Merkmale der Fachsprachen
- 1.3.1 Merkmale der Fachsprachen auf der lexikalischen Ebene
- 1.3.2 Merkmale der Fachsprachen auf der morphologischen Ebene
- 1.3.3 Merkmale der Fachsprachen auf der syntaktischen Ebene
- 1.4 Klassifizierung der Fachsprachen
- 1.4.1 Horizontale Gliederung der Fachsprachen
- 1.4.2 Vertikale Schichtung der Fachsprachen
- 1.5 Juristische Sprache als Fachsprache
- 1.5.1 Allgemeine Begriffserklärung
- 1.5.2 Juristische Sprache und Allgemeinsprache
- 1.5.3 Gliederung und Schichtung der juristischen Sprache
- 1.6 Resümee
- 2. Aspekte der Fachtexte
- 2.1 Text – Fachtext – Textmuster –Textsorte
- 2.2 Aspekte des Mehrebenenmodells der Textsortenanalyse von Heinemann
- 2.2.1 Funktionalität des Textes
- 2.2.2 Situationalität des Textes
- 2.2.3 Thematizität des Textes und Textherstellungsverfahren
- 2.2.4 Textstrukturierung
- 2.2.5 Formulierungsadäquatheit
- 2.3 Formelhaftigkeit von Texten und Textsorten
- 2.4 Der Vertrag von Lissabon – eine exemplarische Textsortenanalyse
- 2.4.1 Vertrag als Textsorte
- 2.4.2 Allgemeines zum Vertrag von Lissabon
- 2.4.2.1 Die deutsche Fassung des EU-Vertrags
- 2.4.2.2 Die polnische Fassung des EU-Vertrags
- 2.4.2.3 Die deutsche Fassung des AEU-Vertrags
- 2.4.2.4 Die polnische Fassung des AEU-Vertrags
- 2.4.3 Funktionen des Vertrags von Lissabon
- 2.4.4 Situationalität des Vertrags von Lissabon
- 2.4.5 Thematizität und Textherstellungsverfahren im Vertrag von Lissabon
- 2.4.6 Formelhaftigkeit des Vertrags von Lissabon
- 2.5 Resümee
- 3. Fachphraseologie in der Rechtssprache
- 3.0 Allgemeines
- 3.1 Forschungsstand
- 3.2 Das Wesen und die Merkmale der Fachphraseologismen
- 3.3 Klassifikation der Fachphraseologismen
- 3.3.1 Phraseologische Termini
- 3.3.2 Fachphraseme
- 3.3.3 Fachkollokationen
- 3.3.4 Funktionsverbgefüge
- 3.3.5 Lateinische Phrasen
- 3.3.6 Pragmatische Phraseologismen
- 3.4 Funktionen der Fachphraseologismen
- 3.5 Resümee
- 4. Der Vertrag von Lissabon – eine kontrastive Analyse Deutsch-Polnisch
- 4.0 Vorgehensweise und Aufbau des Kapitels
- 4.1 Phraseologische Termini
- 4.1.1 Phraseologische Termini des Typs Adjektiv/Partizip I/Partizip II+N
- 4.1.1.1 Materialzusammenstellung
- 4.1.1.2 Analyse des Materials
- 4.1.2 Phraseologische Termini des Typs Nomen+Nomen
- 4.1.2.1 Materialzusammenstellung
- 4.1.2.2 Analyse des Materials
- 4.1.3 Onyme
- 4.1.3.1 Materialzusammenstellung
- 4.1.3.2 Analyse des Materials
- 4.2 Fachkollokationen
- 4.2.1 Verbale Fachkollokationen
- 4.2.1.1 Materialzusammenstellung
- 4.2.1.2 Analyse des Materials
- 4.2.2 Nominale Fachkollokationen des Typs Adjektiv+Nomen
- 4.2.2.1 Materialzusammenstellung
- 4.2.2.2 Analyse des Materials
- 4.2.3 Nominale Fachkollokationen des Typs Nomen+Nomen
- 4.2.3.1 Materialzusammenstellung
- 4.2.3.2 Analyse des Materials
- 4.2.4 Fachkollokationsketten
- 4.2.4.1 Materialzusammensetzung
- 4.2.4.2 Analyse des Materials
- 4.3 Funktionsverbgefüge
- 4.4 Pragmatische Phraseologismen
- 4.4.1 Pragmatische Phraseologismen mit abschließender Funktion
- 4.4.2 Pragmatische Phraseologismen mit verweisender Funktion
- 4.4.2.1 Materialzusammensetzung
- 4.4.2.2 Analyse des Materials
- 4.5 Resümee
- 4.5.1 Zur Vorkommenshäufigkeit und Struktur der Fachphraseologismen
- 4.5.2 Zur Wortbildung der Fachphraseologismen
- 4.5.3 Zu Funktionen der Fachphraseologismen
- 4.5.4 Zu Einzellexemen
- 5. Schlussfolgerungen und Ausblick
- Bibliographie
- Verzeichnis der Abbildungen
Gesetzestexte werden immer wieder kritisiert, dass sie zu kompliziert und schwer verständlich abgefasst sind. Eine solche Meinung resultiert u. a. aus ihrem Nominalstil, langen, mehrfach zusammengesetzten Sätzen sowie komplexer präziser Fachterminologie und -phraseologie. Während zu juristischer Fachterminologie, sowohl explizit als Rechtsterminologie, als auch im Rahmen der Fachterminologie, bereits zahlreiche Untersuchungen vorliegen (vgl. u. a. Albrecht 1992, Hałas 1995, Jeand’Heur 1998, Fraas 1998, Iluk 2012), ist die Fachphraseologie noch nicht ausreichend erforscht.
Die Fachphraseologie wurde bisher entweder im Rahmen der Fachsprachenforschung, bzw. der Fachterminologie oder als Randerscheinung der allgemeinsprachlichen Phraseologie untersucht. Weder der eine noch der andere wissenschaftliche Ansatz erlauben die Fachphraseologie umfassend zu erörtern, und so entstehen allmählich Arbeiten, die die Ergebnisse der Fachsprachenforschung, der Fachterminologie und der Phraseologie in Bezug auf die Fachphraseologie zu integrieren versuchen (vgl. u. a. Duhme 1991; Caro Cedillo 2004, Gläser 2007). Auch in dieser Arbeit werden die Fachphraseologismen unter dem Gesichtspunkt der integrativen Richtung beschrieben und analysiert, d. h. sie werden mithilfe phraseologischer und terminologischer Kriterien charakterisiert.
Bereits vorhandene, richtungsweisende Arbeiten zur Fachphraseologie betreffen u. a. deutsche, englische oder spanische Sprache (vgl. u. a. Gläser 1986, 1989), vereinzelt auch aus kontrastiver Sicht (vgl. u. a. Caro Cedillo 2004, Plasencia 2010), jedoch nicht das Sprachpaar Deutsch-Polnisch. Diese Arbeit soll diese Lücke schließen und einen Beitrag zur Erforschung der deutsch-polnischen Fachphraseologie leisten.
Die vorliegende Arbeit soll in erster Linie die folgenden Fragen beantworten:
1. Sind Fachphraseologismen ein wesentlicher Bestandteil des Gesamtwortschatzes der Gesetzestexte?
Eine positive Antwort auf diese Frage macht weitere Erforschung der Fachphraseologismen und ihrer einzelnen Klassen erforderlich, die folgende Frage beantworten soll:
2. Welche Klassen der Fachphraseologismen sind in Gesetzestexten am häufigsten repräsentiert?
Mit der Festlegung der in Gesetzestexten am häufigsten auftretenden Klassen von Fachphraseologismen lassen sich auch die Struktur und das Funktionieren der Fachphraseologismen in juristischen Fachtextsorten allgemein bestimmen und somit kann die dritte Frage beantwortet werden:
3. Wie sind die Struktur und der Fachlichkeitsgrad der in Gesetzestexten auftretenden phraseologischen Syntagmen?
Mit der Analyse der Struktur der einzelnen Syntagmen wird versucht, die möglichen Strukturmuster festzulegen, nach denen Fachphraseologismen gebildet werden. Die Analyse der Fachlichkeit der Syntagmen soll zum einen zeigen, woraus ← 11 | 12 → diese resultiert, und zum anderen, welchem Fachbereich die einzelnen Syntagmen zugehören und wie hoch ihr Fachlichkeitsgrad ist.
Die methodologische Vorgehensweise umfasst die strukturelle, funktionale und semantische Analyse der exzerpierten Syntagmen. Der Analyse der aus den EU-Verträgen exzerpierten Fachphraseologismen geht im zweiten Kapitel eine mehrdimensionale Textsortenanalyse nach den von Heinemann und Viehweger (1991) sowie Heinemann und Heinemann (2002) bearbeiteten Kriterien voran. Juristische Textsorten sind, wie viele andere Fachtexte, nicht nur in ihrer Ausdrucksweise formelhaft und konventionalisiert, sondern im gleichen Grade auch in ihrer Textstruktur. Aus diesem Grund werden die gewählten Vertragstexte – als Beispiele solcher Textsorten – einer mehrdimensionalen Textanalyse unterzogen.
Als Forschungsgegenstand gelten zwei europäische Verträge, der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, die zusammen den Hauptteil des Vertrags von Lissabon bilden und Gründungsverträge der Europäischen Union sind. Die Vertragstexte wurden in allen Sprachen der Mitgliedstaaten als gleichwertige Texte abgefasst und eignen sich daher gut als Korpus zur kontrastiven Analyse. Die kontrastive Analyse nationaler Rechtsakte ist aufgrund der Verschiedenheit der Rechtsysteme in unterschiedlichen Ländern schwierig, weil viele Termini aus der Ausgangssprache keine Äquivalente in der Zielsprache haben. Die europäischen Rechtsakte gelten als Paralleltexte, die nach dem offiziellen Standpunkt nicht übersetzt worden, sondern unabhängig von anderen Sprachfassungen entstanden sind. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass den deutschen Fachphraseologismen im polnischen Paralleltext sinngemäße Entsprechungen gegenüberstehen, auch wenn nicht immer phraseologische. Die Korrektheit der polnischen Entsprechungen wird aufgrund der Parallelität der beiden Texte nicht diskutiert.
Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert.
Im ersten Kapitel wird in Anlehnung an die einschlägige Literatur zur Fachsprachenforschung der Begriff Fachsprache(n) erörtert. Insbesondere wird in diesem Kapitel angestrebt, den bisherigen Forschungsstand zu präsentieren, die lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Merkmale der Fachsprachen zu beschreiben sowie horizontale und vertikale Klassifikation der Fachsprachen vorzunehmen. Demzufolge wird die Rechtssprache als Fachsprache ausgesondert und beschrieben. Dabei wird vor allem auf die Berührungspunkte zwischen Fachsprache und Allgemeinsprache hingewiesen, weil der enge Zusammenhang zwischen Rechts- und Allgemeinsprache für die weitere Untersuchung von Bedeutung ist.
Den Gegenstand des zweiten Kapitels bilden Aspekte der Fachtexte. Nach einer allgemeinen Erklärung der Hauptbegriffe aus dem Bereich der Fachtextlinguistik wird die Aufmerksamkeit auf die Konventionalität der Fachtextsorten, unter besonderer Berücksichtigung der juristischen Fachtextsorten, gelenkt. Den Hauptteil des Kapitels bildet die mehrdimensionale Analyse (vgl. Heinemann / Viehweger 1991; Heineman / Heinemann 2002) der Gründungsverträge der EU. Die Verträge werden als Textsorte ← 12 | 13 → in Hinsicht auf ihre Funktionalität, Situationalität, Thematizität, Strukturiertheit sowie Formulierungsadäquatheit mit besonderer Hervorhebung der Formelhaftigkeit und Konventionalität untersucht. Die Formulierungsadäquatheit als die fünfte Ebene wird hier ausgenommen und im vierten Kapitel anhand des gesammelten Materials ganzheitlich erörtert. Die Schlussfolgerungen aus der Textsortenanalyse beeinflussen die Vorgehensweise bei der Erhebung der Fachphraseologismen und die Interpretation der Ergebnisse der weiteren Analyse.
Im dritten Kapitel werden in Anlehnung an die Ansätze der Fachsprachenforschung, Fachterminologie und der allgemeinsprachlichen Phraseologie die definitorischen Rahmen der Fachphraseologismen festgelegt. Anschließend wird eine Klassifikation der Fachphraseologismen in Hinsicht auf ihre Struktur und Funktionen im Text dargestellt. Berücksichtigt werden alle Klassen von Fachphraseologismen, die in unterschiedlichen juristischen Fachtextsorten Anwendung finden, d. h. phraseologische Termini, Fachphraseme, Fachkollokationen, Funktionsverbgefüge, lateinische Phrasen und pragmatische Phraseologismen.
Den eigentlichen analytischen Teil der Arbeit bildet das vierte Kapitel. Aufbauend auf die theoretischen Ausführungen zur Fachphraseologie werden hier die exzerpierten nach einzelnen Klassen gegliederten Fachphraseologismen in Hinsicht auf ihre Struktur und Funktionen sowie ihren Fachlichkeitsgrad untersucht. Das exzerpierte Material umfasst polylexikale, feste und wiederholt in Verträgen auftretende Strukturen oft mit einem Fachterminus als Komponente und konventionelle Strukturen, die für die analysierte Textsorte typisch sind. Vereinzelt enthält das Material auch allgemeinsprachliche nicht textsortenbedingte feste Syntagmen ohne Fachkomponenten. Sie werden in der Arbeit dennoch berücksichtigt, weil ihre Bedeutung durch den Fachkontext beschränkt und spezialisiert wurde.
Die vorgenommene Analyse der exzerpierten Strukturen soll zeigen, dass Fachphraseologismen einen wesentlichen Bestandteil der analysierten Verträge ausmachen und ihre Untersuchung auf andere Rechtsakte erweitert werden könnte.
Die theoretischen Ausführungen zu Fachtextsorten und Fachphraseologismen sind mit zahlreichen textuellen und lexikalischen Belegen illustriert. Die textuellen Belege sind im jeweiligen Punkt mit einer fortlaufenden in runden Klammern stehenden Nummer versehen. Angegeben werden immer, wo es möglich ist, ein deutscher und ein polnischer Beleg. Die lexikalischen Belege werden in der Arbeit grundsätzlich nicht nummeriert, es sei denn die Nummerierung vereinfacht den Bezug auf konkrete Stellen im Text.
In der Arbeit werden folgende Abkürzungen und Sonderzeichen gebraucht: ← 13 | 14 →
Liste der gebrauchten Abkürzungen und Sonderzeichen
[ ] | in eckigen Klammern stehen Kommentare und Erklärungen zu Belegen |
{} | in geschweiften Klammern stehen Angaben des Kontextes |
< > | in spitzen Klammern stehen im theoretischen Teil nichtphraseologische Belege, und in der Analyse strukturell andere Formen der polnischen Entsprechung |
Adj | Adjektiv |
AEU-Vertrag | der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Anm. | Anmerkung |
Art. | Artikel |
BGB | das Bürgerliche Gesetzbuch |
BW | das Bestimmungswort |
d im Kleindruck | steht für einen deutschen Beleg |
EGV | der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft |
EU | die Europäische Union |
EU-Vertrag | der Vertrag über die Europäische Union |
EU-Verträge | EU-Vertrag und AEU-Vertrag zusammen |
FVG | Funktionsverbgefüge |
Koll | Kollokation |
KC | Kodeks Cywilny [das Polnische Zivilgesetzbuch] |
N | Nomen / Nomen im Nominativ |
NAkk | Nomen im Akkusativ |
NDat | Nomen im Dativ |
NGen | Nomen im Genitiv |
NInstr | Nomen im Instrumental |
NPräp | Nomen im Präpositionalkasus |
p im Kleindruck | steht für einen polnischen Beleg |
Part. I | Partizip I |
Part. II | Partizip II |
Pkt. | Punkt |
pragm. Phras. | pragmatische Phraseologismen |
TUE | Traktat o Unii Europejskiej [DE: der Vertrag über die Europäische Union] |
TWE
|
Traktat Ustanawiający Wspólnotę Europejską [DE: der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ] |
V | Verb |
In diesem Kapitel wird das Wesen der Fachsprachen erörtert. Nach einer kurzen allgemeinen Begriffserklärung wird ein Überblick über den Forschungsstand und über die im Laufe der Zeit variierende Definition des Terminus Fachsprache gegeben. Im Anschluss daran werden die Merkmale der Fachsprachen auf der lexikalischen und der morphosyntaktischen Ebene sowie die Klassifikation der Fachsprachen kurz dargestellt. Eine besondere Beachtung wird im weiteren Teil der in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden juristischen Fachsprache geschenkt.
1.1 Allgemeine Begriffserklärungen
Die Bezeichnung Fachsprache wurde in der deutschsprachigen Fachliteratur schon im 19. Jh. geprägt (mehr dazu: vgl. u. a. S. Grucza 2004: 16). Daneben erscheinen auch solche Bezeichnungen wie Fachjargon, Spezialsprache, Gruppensprache, Berufssprache, Sachsprache, Zwecksprache, Arbeitssprache, Expertensprache, fachlicher Soziolekt, Subsprache, Register, Sprachvariante, Varietät, Teilsprache, Sondersprache, Sekundärsprache (vgl. Fluck 1976: 11; S. Grucza 2004: 16). Auch in der polnischen Fachsprachenforschung sind viele Bezeichnungen für Fachsprache zu finden: język specjalistyczny, język fachowy, technolekt oder idiolekt specjalistyczny (vgl. u. a. F. Grucza 2008; S. Grucza 2004; Lukszyn 2002; Pieńkos 1999). Die früher bevorzugte Bezeichnung Fachsprache wird in der neueren Literatur in ihrer Pluralform Fachsprachen verwendet, was aus der Veränderung des Verständnisses der Relation zwischen der Fach- und Allgemeinsprache resultiert (Hoffmann 21984: 49). Die Pluralform soll signalisieren, dass der Allgemeinsprache „eine größere, bislang nicht fixierbare Zahl von primär sachgebundenen Sprachen als Subsysteme angehören“ (Fluck 1976: 11). Auf die Begründetheit der Pluralform Fachsprachen weisen auch Arntz und Picht hin und betonen, dass „Fachsprache sich auf die Kommunikation in jeweils einem bestimmten Fachgebiet bezieht und es somit nicht die Fachsprache, sondern eine größere Zahl unterschiedlicher Fachsprachen gibt“ (Arntz / Picht / Mayer 42002: 10). In Anlehnung daran wird im Folgenden die Pluralform Fachsprachen in Bezug auf die Charakterisierung des Wesens aller Fachsprachen verwendet. Die Singularform Fachsprache wird hingegen in Bezug auf die Darlegung bestimmter Einzelfachsprachen wie z. B. der juristischen Fachsprache verwendet. Darüber hinaus wird im weiteren Teil dieses Kapitels das Verhältnis zwischen Fach- und Allgemeinsprache (in der Literatur auch Gemeinsprache, Standardsprache, Gesamtsprache, Muttersprache oder Nationalsprache) ausführlicher erörtert.
1.2 Forschungsstand und Definitionen
Ursprünglich wurden Fachsprachen fast ausschließlich mit Fachwortschatz und Fachterminologie gleichgesetzt (mehr dazu: u. a. vgl. Hoffmann 1998a: 157; S. Grucza 2004: ← 15 | 16 → 15). Das Wesen der Fachsprachen wird in ihrem Benennungsbestand, insbesondere in ihren Terminologien, gesucht und Termini wie Fachsprache und Fachwortschatz werden als Synonyme verstanden (vgl. Hoffmann 21984: 21), was die Definition der Fachsprachen vom Beginn des 20. Jahrhunderts illustriert:
„Fachsprachen nenne ich die Terminologien für die verschiedenen Gebiete der geistigen, sittlichen und künstlerischen Betätigung des Menschen, also etwa Recht und Politik, Kunst und Wissenschaft und anderes mehr, soweit dabei eine von der Gemeinsprache abweichende Ausdrucksweise in Frage kommt“ (Schirmer 1913, zit. nach S. Grucza 2008: 27).
Erst später entsteht aus verschiedenen Teildisziplinen, u. a. aus Terminologie, Fachlexikographie, Funktionalstilistik, Wirtschaftslinguistik, Übersetzungswissenschaft und Fremdsprachendidaktik die heutige Fachsprachenlinguistik (vgl. Hoffmann 1998c: 249).
In den 50er bis 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als sich die strukturalistischen Ansätze auch in der Fachsprachenforschung etablierten, wird darauf gezielt, Fachsprachen zu definieren und ihre distinktiven Merkmale auszusondern (vgl. S. Grucza 2004: 15). Als Vertreter dieser Richtung gilt u. a. Lothar Hoffmann. Er versteht Fachsprachen als
„[…] Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen (und die Popularisierung der fachlichen Inhalte sowie den Kontakt zu bestimmten Nicht-Fachleuten) zu gewährleisten“ (Hoffmann 21984: 53).
Zu dieser Zeit werden Fachsprachen als Varietäten / Varianten der Allgemeinsprache angesehen, wobei als eine Varietät „ein sprachliches System verstanden [wird], das einer bestimmten Einzelsprache untergeordnet und durch eine Zuordnung bestimmter innersprachlicher Merkmale einerseits und bestimmter außersprachlicher Merkmale andererseits gegenüber weiteren Varietäten abgegrenzt wird“ (Roelcke 1999: 18ff.). Ähnlich betrachten die Fachsprachen Möhn und Pelka und charakterisieren sie als
„Variante der Gesamtsprache, die der Erkenntnis und begrifflichen Bestimmung fachspezifischer Gegenstände sowie der Verständigung über sie dient und damit den spezifischen kommunikativen Bedürfnissen im Fach allgemein Rechnung trägt“ (Möhn / Pelka 1984: 26).
Der Zeitraum des strukturellen Ansatzes in der Fachsprachenforschung lässt sich zusätzlich in zwei Etappen gliedern. Während in der ersten Etappe, d. h. in den 50er Jahren, die Lexik im Vordergrund der Untersuchungen steht, zielen die sprachwissenschaftlichen Arbeiten der zweiten Etappe – in den 60er Jahren – darauf ab, charakteristische Merkmale der Fachsprache auf der syntaktischen Ebene zu untersuchen (vgl. S. Grucza 2004: 19).
In den 70er und 80er Jahren ist eine verstärkte Hinwendung zu pragmalinguistischen und textwissenschaftlichen Ansätzen zu beobachten (vgl. Roelcke 1999: 21). Pragmalinguistische Forschungen wenden sich in Bezug auf Fachsprachen nicht ← 16 | 17 → nur der Terminologie und den morphosyntaktischen Merkmalen, sondern auch Fachtexten und ihrem Kontext zu (vgl. S. Grucza 2004: 19). Fachsprachen werden als „Äußerung von Texten im Rahmen der fachlichen Kommunikation betrachtet“ (Roelcke 1999: 21). Mit der Zeit wird Fachsprachenlinguistik zur Fachtextlinguistik und die Bezeichnung Fachsprache wird immer häufiger durch die Bezeichnung Fachtext ersetzt (S. Grucza 2004: 19) (mehr zur Fachtextlinguistik vgl. Kapitel 2). In dem pragmatischen Ansatz lassen sich auch zwei Etappen unterscheiden. In der ersten Etappe steht die Fachtextanalyse im Mittelpunkt der Untersuchungen, in der zweiten Etappe wird das Untersuchungsgebiet auf Probleme der Fachkommunikation und Fachdidaktik erweitert (vgl. S. Grucza 2004: 20). In Erwägung werden zudem soziologische Gesichtspunkte gezogen wie das Alter und das Geschlecht der Kommunikationspartner, ihr sozialer und fachlicher Status, der Grad an Vertrautheit zwischen den Kommunikationsteilnehmern, der Grad der Öffentlichkeit der Fachkommunikation sowie die kulturelle Einbettung der Kommunikationspartner (vgl. Roelcke 1999: 21). Die Veränderung der Auffassung der Fachsprachen spiegelt sich in ihrer Definition wider:
„Im engeren Sinne bleibt Fachsprache nach wie vor ein Verständigungsmittel unter Fachleuten bestimmter Kommunikationsbereiche und ist primär an den Fachmann gebunden. Denn vom Nichtfachmann gebraucht, gehen die Bindungen an das fachliche Denken, Handeln und die Beziehung zur fachlichen Systematik der einzelnen Fächer verloren, was heißt, Begriffe und Aussagen verlieren an Genauigkeit und Bedeutungstiefe“ (Fluck 1997: 16).
Die Rahmen der Fachsprachenforschung legt auch Lothar Hoffmann erneut fest:
„Objekt der Fachsprachenforschung sind also Subsprachen, die der fachlichen Verständigung in unterschiedlich geschichteten Kommunikationsbereichen von Wissenschaft, Technik, Ökonomie, materieller Produktion, Kultur usw. dienen. Gegenstand der Fachsprachenforschung sind Texte, die bei der Kommunikation in diesen Bereichen entstehen, mit ihrem ganzen Bestand an Lauten bzw. Buchstaben, morphologischen Mitteln, Formativen, Wortformen, Wortverbindungen, Sätzen und Textkonstituenten höherer Ordnung“ (Hoffmann 1988: 24).
Die Einflüsse des pragmatischen Ansatzes sind auch in der polnischen Fachsprachenforschung sichtbar. Sambor Grucza weist darauf hin, dass Fachsprachen von Fachleuten für die Zwecke der Fachkommunikation innerhalb einer Gemeinschaft von Fachleuten produziert werden:
„Języki specjalistyczne to specyficzne języki ludzkie tworzone przez specjalistów na potrzeby komunikacji profesjonalnej w obrębie odpowiednich wspólnot specjalistów“ (S. Grucza 2004: 38).
In den 90er Jahren schlagen sich in der Fachsprachenforschung die Theorien der kognitiven Linguistik nieder (vgl. S. Grucza 2004: 20). Die kognitiven Anlagen des Menschen werden zum Ausgangspunkt linguistischer Betrachtung, und die Form und Funktion sprachlicher Äußerungen werden von den intellektuellen ← 17 | 18 → Anforderungen des Menschen abgeleitet (vgl. Roelcke 1999: 26). Als distinktive Merkmale der Fachsprachen gelten im Kognitivismus Deutlichkeit, Verständlichkeit, Sprachökonomie und Anonymität. Die Identifikation einer Fachsprache erfolgt durch die Identifikation einer Berufsgruppe, die diese Fachsprache benutzt (vgl. S. Grucza 2004: 21). Die Konzepte der kognitiven Linguistik haben auch einen direkten Einfluss auf die Betrachtung und die Definitionen von Fachsprachen. Stärkere Aufmerksamkeit wird auf die Fachkommunikation gelenkt. Zu Beginn der 90er Jahre bestimmt Lothar Hoffmann Fachkommunikation als
„die von außen oder von innen motivierte bzw. stimulierte, auf fachliche Ereignisse oder Ereignisabfolgen gerichtete Exteriorisierung und Interiorisierung von Kenntnissystemen und kognitiven Prozessen, die zur Veränderung der Kenntnissysteme beim einzelnen Fachmann und in ganzen Gemeinschaften von Fachleuten führen“ (Lothar Hoffmann 1993: 614, zit. nach Roelcke 1999: 27).
Die Konzepte der kognitiven Linguistik lassen sich auch in der polnischen Fachsprachenforschung finden. Jerzy Lukszyn fasst Fachsprachen als einen semiotischen Code zweiten Ranges und sekundäres System konventioneller Zeichen auf, das erstens als Thesaurus des in Fachtexten verfestigten Wissens, zweitens als Sender von Informationen im Gefüge der Fachkommunikation und drittens als Generator neuen von vorherigen Zuständen abgeleiteten Wissens gilt:
„[…] język fachowy, t.j. kod semiotyczny drugiego rzędu, wtórny względem języka naturalnego system konwencjonalnych znaków, występuje, po pierwsze, jako tezaurus wiedzy, utrwalonej w odpowiednim korpusie tekstów, po drugie, jako nadajnik informacji w układzie komunikacji zawodowej, po trzecie, jako generator nowej wiedzy derywowanej z jej poprzednich stanów“ (Lukszyn 2007: 51).
Details
- Seiten
- 312
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653066944
- ISBN (MOBI)
- 9783653957914
- ISBN (ePUB)
- 9783653957921
- ISBN (Hardcover)
- 9783631674826
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06694-4
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Mai)
- Schlagworte
- Fachsprache Rechtssprache Fachkollokationen Fachtexte
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 312 S., 24 s/w Abb.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG