Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur während der Zwischenkriegszeit und im Exil
Schwerpunkt Österreich
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren-/Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort (Susanne Blumesberger / Jörg Thunecke)
- Von der Historizität zur Aktualität der Kinder- und Jugendliteratur im Exil (Wiebke von Bernstorff)
- „Das weiß ich jetzt: wir müssen uns das Märchenland erst erschaffen.“ Der Diskurs des „neuen Menschen“ in der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik (Kerstin Gittinger)
- „Charming stories, full of fantasy and humor, yet with the firm undertone of proletarian life running through them.“ Fairy Tales for Workers’ Children (1925): Hermynia Zur Mühlens Märchen (1922) in amerikanischer Übertragung (Jörg Thunecke)
- Die Militarisierung der Jugendliteratur 1933–1945 (Murray G. Hall)
- Pädagogische Katharsis. Jugend und soziale Arbeit zwischen Nationalsozialismus, Emigration und Neubeginn (Karl-Heinz Füssl)
- Figurationen von Gegenwelten in den frühen Kinderbüchern Friedrich Felds (Ernst Seibert)
- Mitbringsel und Geschenke für die Nachwelt. Der Beitrag der Exilanten zur Kinder- und Jugendliteratur (Guy Stern)
- Historisches und Kritisches zur Zeitschrift: Das deutsche Mädel (1933–1943) (Sarolta Lipóczi)
- Béla Balázs in der UdSSR: zur sowjetischen Rezeption seiner Kinderbücher (Tatjana Fedjaewa)
- Vom rosa Kaninchen und Hexen oder: Die Kinderliteratur von Exilkindern (Jana Mikota)
- Gendermotive in Adrienne Thomas’ Mädchenromanen der 1930er Jahre: Erfahrungsgeschichten einer Frauenemanzipation im Krieg (Ester Saletta)
- Tormann Bobby: Biografie, Netzwerke und Identität in Robert Grötzschs Exil-, Arbeiterjugend- und -sportroman von 1938 (Swen Steinberg)
- Ein Produkt der Wiener sozialistischen Reformpädagogik im indischen Exil: Fritz Kolbs Tschok aus der britisch-indischen Internierung (Margit Franz)
- Vertriebene Kinder- und Jugendliteraturforschung. Der kritische Blick von außen (Susanne Blumesberger)
- Namensregister
- Biografien der Beiträgerinnen und Beiträger
- Abbildungsverzeichnis
Der vorliegende Sammelband basiert auf einer zweitägigen Tagung zum Thema ‚Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur während der Zwischenkriegszeit und im Exil – mit besonderer Berücksichtigung von Österreich‘, die am 16./17. Mai 2014 am Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst stattfand.
Kinder- und Jugendliteratur erfüllt nicht nur unterschiedliche pädagogische Funktionen; in dieser Literatursparte lassen sich auch sehr divergente gesellschaftspolitische Strömungen ausmachen: Waren in den 1920er Jahren in Österreich starke aufklärerische Tendenzen zu beobachten, wurden diese im austrofaschistischen ‚Ständestaat‘ und unter dem Nationalsozialismus durch fremdenfeindliche, nationalistische Tendenzen zurückgedrängt oder sogar verboten.
Diese Umbruchzeit (1918–1945) steht im Fokus der vorliegenden Publikation: Die in der Zwischenkriegszeit erschienenen Werke, vor allem jene, die in Österreich bzw. von österreichischen Autorinnen und Autoren geschaffen wurden, sowie die im Exil entstandenen Werke der Kinder- und Jugendliteratur werden aus unterschiedlicher Perspektive zur Diskussion gestellt. Dabei werden vor allem die Produktionsbedingungen, die Verlagssituation, die soziale Lage der Verfasserinnen und Verfasser, der jeweilige thematische Schwerpunkt, die Illustrationen sowie die Verbreitung und Rezeption dieser Literatur berücksichtigt. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens standen folgende Themen zur Diskussion: Wie wirkte sich die politische Situation der Zwischenkriegszeit auf die kinder- und jugendliterarische Produktion im deutschsprachigen Raum – vor allem in Österreich – aus? Welche thematischen Tendenzen sind zu beobachten, und wie wurde Kinder- und Jugendliteratur während dieser Zeit rezipiert? Welche Auswirkungen hatte das Aufkommen des Nationalsozialismus? Welche Bedingungen für das Entstehen von Kinder- und Jugendliteratur fanden Autorinnen und Autoren in den jeweiligen Exilländern vor? Wie wurden die im Exil entstandenen Werke rezipiert?
Wiebke von Bernstorff beschäftigt sich mit dem Thema ‚Von der Historizität zur Aktualität der Kinder- und Jugendliteratur im Exil‘. Von der Frage ausgehend „Was will die Gesellschaft von der Kinder- und Jugendliteratur?“ fokussiert Bernstorff auf die aktuelle besondere Lage der historischen Kinder- und Jugendliteratur. Sie stellt fest, dass die Texte der Kinder- und Jugendliteratur des Exils literarische und pädagogische Einsprüche gegen den Nationalsozialismus sind und plädiert dafür, sie heute als solche ernst zu nehmen, um aus deren Historizität Aktualität werden zu lassen. Diese Literatur eröffnet – laut Bernstorff – Zugänge zum Verständnis des Nationalsozialismus, die nicht von nachträglicher Analyse, sondern von dem ← 7 | 8 → aktuellen Willen zum geistigen Widerstand geprägt sind. Deswegen sind sie ihrer Meinung nach sowohl ein wichtiger Teil des kulturellen Gedächtnisses als auch Reflexionsgrundlage für heutige europäische Verhältnisse, in denen die Themen Flucht auf Grund von Kriegen und staatlichen Repressionen und der Umgang mit als fremd Wahrgenommenem erschreckend aktuell sind. Anhand einiger exemplarischer Texte von Anna Maria Jokl, Lisa Tetzner, Ruth Rewald und Mira Lobe hat sie das aktuelle und (literatur-)didaktische Potential der Kinder- und Jugendliteratur des Exils herausgearbeitet.
In Kerstin Gittingers Beitrag steht der Einfluss des sozialistischen Bildungs- und Erziehungsdiskurses auf die Belletristik der proletarischen österreichischen Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik, die zwischen November 1918 und Februar 1934 entstanden ist, im Fokus. Gittinger hat sich auf sechs Werke von Autoren (Anton Afritsch, Friedrich Feld, Alois Jalkotzy, Otto Felix Kanitz, Josef Pazelt und Anton Tesarek), welche sich primär dem Roten Wien zuordnen lassen, konzentriert und diese Texte mit Blick auf das Haupterziehungsziel der sozialistischen Erziehung analysiert: die Schaffung des ‚Neuen Menschen‘, der sich – laut Gittinger –, als klar und kritisch denkender, sittlich freier und solidarisch handelnder Mensch definieren lässt. Vor allem die Organisation der ‚Kinderfreunde‘ und die Zeitschrift Die sozialistische Erziehung setzte sich dafür ein.
Jörg Thunecke thematisiert in seinem Beitrag „Charming stories, full of fantasy and humor, yet with the firm undertone of proletarian life running through them.“ Fairy Tales for Workers’ Children (1925): Hermynia Zur Mühlens Märchen (1922) in amerikanischer Übertragung‘, die sozialistisch orientierte Kunstmärchensammlung der aus Wien gebürtigen aristokratischen Schriftstellerin und Übersetzerin, die in den 1920er Jahren in Deutschland lebte und während dieses Zeitabschnitts zahlreiche Märchensammlungen veröffentlichte, jedoch nach 1933 über Österreich erst 1939 nach England emigrierte. Der Beitrag unterstreicht u.a. die Popularität der Autorin in kommunistischen Kreisen im angelsächsischen Ausland.
In seinem Beitrag ‚Die Militarisierung der Jugendliteratur 1933–1945‘ verweist Murray G. Hall auf den noch immer unvollständigen Überblick über Kinder- und Jugendliteratur während der NS-Zeit und vor allem auf die Rolle der Vermittlungsinstanzen, also der Verlage. Anhand etlicher Beispiele zeichnet Hall Verlagsgeschichten im Zeitraum 1933 bis 1945 nach, wie etwa den Franz Schneider Verlag, den Thienemann Verlag, den Verlag Ensslin & Laiblin, den Bertelsmann Verlag und den 1921 in Wien gegründeten Deutschen Verlag für Jugend und Volk. Anhand der von ihm genannten Buchtitel lässt sich erkennen, dass die Militarisierung der Kinder- und Jugendliteratur schon sehr früh, nämlich vor 1933, einsetzte. ← 8 | 9 →
Karl-Heinz Füssl befasst sich mit dem Thema ‚Pädagogische Katharsis. Jugendpädagogik und Jugendmedien zwischen Nationalsozialismus, Emigration und Neubeginn‘. Die Betonung liegt dabei auf Fragen wie: welche anthropologische Dimension maßen sozialwissenschaftliche Analysen der nationalsozialistischen Praxis bei, welche normativen Implikationen definierte eine durch Wissenschaft Pädagogik und Politik hatte, welche mentalen und institutionellen Prozesse setzten die sozialwissenschaftlichen Vorgaben in der Besatzungszeit in Gang und welche Paradigmenwechsel entstanden beim Neuaufbau in der Nachkriegszeit. In einem Exkurs geht Füssl der Frage nach, ob die spezifische Erfahrung von Flucht und Vertreibung sowie die Konfrontation mit einem anderen Kulturkreis ein Wissenschaftsprofil der Emigration jenseits europäischer Traditionen schuf.
Mit der ‚Figuration von Gegenwelten in den Kinderbüchern Friedrich Felds‘ befasst sich der Beitrag von Ernst Seibert. Friedrich Feld, eigentlich Fritz Rosenfeld (1902–1987), war ein sehr vielseitiger, politisch engagierter Schriftsteller, der mit dem Schreiben von Literatur für Erwachsene begann, unter anderem als Kulturredakteur der Arbeiter-Zeitung tätig war und sich auch schon ziemlich früh mit dem Genre-Film beschäftigte. Laut Seibert war das Verfassen von Kinderbüchern bei Friedrich Feld weniger Ausdruck einer ‚inneren Emigration‘, sondern eher eine Fortsetzung des politischen Engagements auf der Ebene des Kinderbuchschaffens, bzw. Mittel der Erziehung unter dem Eindruck der Idee des ‚Neuen Menschen‘. Seibert stellt nicht nur Werke Felds vor, sondern setzt sie auch in Bezug zu dem Schaffen anderer Autoren, wie Kafka, Tetzner, Balázs und Korczak.
Guy Stern thematisiert zunächst den Terminus Exilliteratur im Bereich des Kinder- und Jugendbuches und stellt repräsentative Werke vor, die in Amerika größere Verbreitung gefunden haben, aber in Deutschland weniger bekannt sind. Anschließend porträtiert er kurz Sonia Levitin und Hertha Pauli, die er beide persönlich gekannt hat. Zuletzt geht er auch auf den mehrfach ausgezeichneten Jugendroman Der gelbe Vogel von Myron Levoy ein, als Beispiel eines Werkes, das nicht von Verfolgten stammt und der im New York der 1940er Jahre spielt.
‚Historisches und Kritisches zur Zeitschrift: Das deutsche Mädel (1936–1943)‘ ist das Thema des Beitrages von Sarolta Lipóczi. Die Zeitschrift erschien einmal monatlich und war das Organ der BDM-Mädchen in der HJ. Die ersten Hefte hatten den Untertitel ‚Bundesbriefe des Bundes Deutscher Mädel in der Hitlerjugend‘ und wurden anfangs vom Reichsjugendführer Baldur von Schirach herausgegeben, später vom ‚Bund Deutscher Mädel in der HJ‘. Lipóczi zeigt an einigen Textbeispielen, auf welche Art und Weise die Leserinnen indoktriniert werden sollten.
Tatjana Fedjaewa beschäftigt sich mit der sowjetischen Rezeption der Kinderbücher von Béla Balázs, einem Bereich, der bis heute kaum erforscht ist. Béla ← 9 | 10 → Balázs war ein erfolgreicher Kinderbuchautor, der sich allerdings nie zum kinderliterarischen Schaffen theoretisch äußerte, und Filmtheoretiker. Seine Bücher waren Schulelektüre und weit verbreitet. Fedjaewa ist der Meinung, dass die Popularität von Balázs als Kinderschriftsteller in der Sowjetunion ihm das Leben während des Stalin-Terrors Ende der 1930er Jahre rettete, da seine filmtheoretischen Arbeiten scharf kritisiert wurden: Man warf ihm u.a. Idealismus, Formalismus, und Ästhetitmus vor, was zu seiner Verhaftung hätte führen können.
Mit dem Thema ‚Vom rosa Kaninchen und Hexen oder: Die Kinderliteratur von Exilkindern‘ beschäftigt sich Jana Mikota. Während sich die Exil- als auch die Kinder- und Jugendliteraturforschung bislang auf jene Autorinnen und Autoren, die im Exil selbst Kinder- und Jugendbuchromane verfasst haben, konzentrierte, befasst sich Jana Mikota mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die als Kind mit ihren Eltern ins Exil gingen und später u.a. Kinderliteratur verfassten. Mikota stellt zwei prominente ‚Exilkinder‘ vor: Judith Kerr und Eva Ibbotson und widmet sich dabei der Frage, wie viel Exil noch in deren Büchern steckt.
Ester Saletta steuert den Beitrag ‚Gendermotive in Adrienne Thomas’ Mädchenromanen der 1930er Jahre. Erfahrungsgeschichten einer Frauenemanzipation aus dem Krieg‘ bei. Ihre Analyse von Adrienne Thomas‘ Texten zeigt eine latente, wenn auch äußerst subtile männliche und weibliche Emanzipation, die die konventionellen Geschlechterrollen unterläuft. Typisch männliche Kennzeichen, wie körperliche Stärke, Tapferkeit und kriegerisches Eroberungsgefühl, findet man eher in Adrienne Thomas‘ fiktionalen Frauengestalten als bei ihren Gegenspielern, weil die männlichen Helden meistens in Opferrollen porträtiert wurden; denn sie waren – laut Saletta – aufgrund des Kriegserlebnisses entweder physisch krank, schwach und verwundet oder psychisch labil, depressiv und zerbrechlich.
‚Tormann Bobby: Biografie, Netzwerke und Identität in Robert Grötzschs Exil-,Arbeiterjugend- und -sportroman von 1938‘ ist das Thema von Swen Steinberg. Der „erste Arbeiterfußballerroman“ wurde – anders als die anderen Exilromane von Grötzsch – kaum wahrgenommen. Steinberg beschäftigt sich mit der Zeit des Exils des heute nahezu vergessenen Robert Grötzsch in der Tschechoslowakei ab März 1933 – vor allem mit seiner journalistischen Arbeit und den Netzwerken, in denen er agierte, außerdem befasst er sich mit Tormann Bobby, einem Werk, das Steinberg einerseits als Sportroman der Weimarer Republik und andererseits als proletarische Kinderliteratur einordnet.
Margit Franz schreibt über ‚Ein Produkt der Wiener sozialistischen Reformpädagogik im indischen Exil: Fritz Kolbs Tschok aus der britisch-indischen Internierung‘. 1949, ein Jahr nach seiner Rückkehr nach Österreich veröffentlichte Fritz Kolb die Kurzgeschichte Tschok. Die Geschichte eines Hundes. Darin verarbeitete er einige seiner Erlebnisse während der Internierung. Den Inhalt des Buches bildet ← 10 | 11 → die Begegnung und das gemeinsame Leben mit dem britischen Hund ‚Tschok‘, der im Gegensatz zu den indischen Straßenhunden, die es immer wieder ins umzäunte Lager schaffen, jedoch in regelmäßigen Abständen systematischen Erschießungen zum Opfer fallen, ein angenehmes Leben unter den männlichen Zivilinternierten führt. Franz gibt zunächst einen Überblick über die Biografie des Sozialisten und Pädagogen Fritz Kolb und in die reformpädagogischen Ansätze der Zwischenkriegszeit, stellt anschließend das Werk Kolbs und die Rezeption der Internierung im Exil vor und verweist auf die reform-pädagogischen Ansätze in diesem Buch.
Als letzte Beiträgerin begibt sich Susanne Blumesberger sozusagen auf die Metaebene, indem sie sich mit dem Thema ‚Vertriebene Kinder- und Jugendliteraturforschung. Der kritische Blick von außen‘ beschäftigt. Sie greift damit einen Aspekt der vertriebenen Kinder- und Jugendliteratur auf, der bisher kaum beachtet wurde, nämlich den der Kinder- und Jugendliteraturforschung im Exil. Mit der Vertreibung derer, die aktiv im Literaturbetrieb tätig waren, wurden zum Teil auch jene verdrängt, die sich (auch) theoretisch mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt haben. Dieser theoretische Blick erfolgte aus unterschiedlichen Perspektiven und wird anhand einiger ausgewählter Persönlichkeiten vorgestellt. Am Beispiel von Mimi Grossberg wird darauf hingewiesen, wie wichtig es war, zunächst die Erinnerungen an jene SchriftstellerInnen zu bewahren, die ins Exil vertrieben worden waren. Anhand der Autorinnen Alex Wedding, Auguste Lazar, Helene Scheu-Riesz und Marie Neurath wird die theoretische Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur aus Autorinnensicht gezeigt; ferner stehen Joseph H. Schwarcz und Lydia Frankenstein für Forschende, die sich im Exil wissenschaftlich mit Kinder- und Jugendliteratur auseinandersetzten.
Insgesamt bietet der vorliegende Band somit einen breiten Überblick über das Thema ‚Kinder- und Jugendliteratur während der Zwischenkriegszeit und im Exil‘, Einblick in Biografien und Werke sowie in angrenzende Forschungsbereiche, zeigt aber gleichzeitig auch noch vorhandene Forschungsdesiderata auf. Unser Dank gilt allen Beiträgerinnen und Beiträgern, dem Institut für Wissenschaft und Kunst, ferner dem Zukunftsfonds der Republik Österreich sowie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, für die finanzielle Unterstützung.
Susanne Blumesberger (Wien) und Jörg Thunecke (Nottingham)
Von der Historizität zur Aktualität der Kinder- und Jugendliteratur im Exil
„Es ist eine Lust unseres Zeitalters, das so viele und mannigfache Veränderungen der Natur bewerkstelligt, alles so zu begreifen, daß wir eingreifen können.“1
Abstract: Using as a starting point the current prominence of children’s and youth literature in literary didactics, this contribution deals with reference to Brecht’s ‚alienation effect‘ – the topicality of children and youth literature in exile. Above all else, the historicity of such texts proves to be especially profitable for didactical purposes. The literary approach offered by the ‚alienation effect‘, relying on an intelligent and emancipated readership, permits today a kind of reception – contrary to mere empathy – which seems particularly valuable. Furthermore, the authors‘ exile experience is reflected in their writings, and these may therefore prove useful in any reflection upon the contemporary political and humanitarian challenges in a Europe dominated by migration.
Bertolt Brecht, der hier im Kleinen Organon für das Theater von 1948 die Lust zu begreifen, um einzugreifen, als „Lust unseres Zeitalters“ bezeichnet, soll mir als Wegweiser durch die folgenden Gedanken dienen, bei denen sowohl die Lust zu begreifen, als auch diejenige einzugreifen, auf ihre Kosten kommen sollen. Ich frage mich, ob diese Lust des 20. Jahrhunderts noch eine des 21. Jahrhunderts ist oder wieder werden sollte. Ich operiere also mit einem veralteten oder historisch gewordenen Anspruch, der sich in den 1930er und 1940er Jahren entwickelte, in denen auch diejenigen Texte entstanden sind, um die es in diesem Band geht: die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Exil. Heute und damals, Historizität und Aktualität sind die Pole zwischen denen sich mein Blick auf diese Literatur bewegen wird.
Die historische KJL hat es derzeit nicht leicht. In Zeiten, in denen selbst Klassikern der KJL wie Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf ein zensierender Eingriff wegen historischen Wortgebrauchs, der nicht mehr als ‚politically correct‘ und als unzumutbar für Kinder gilt, nicht erspart bleibt, haben es historische Texte schwer. Die Verdrängung dieser historischen Kinder- und Jugendliteratur gilt für die aktuelle Lage auf dem deutschsprachigen Buchmarkt und besonders für die für die KJL so wichtig gewordene Vermittlungsinstanz des Erstsprachenunterrichts ← 13 | 14 → in den Schulen. Die aktuelle KJL beschäftigt sehr viele Deutschdidaktiker.2 Da man bemüht ist, adressatengerecht auszuwählen, heißt: sowohl thematisch als auch stilistisch den Jugendlichen möglichst nahe zu kommen, ist Aktualität das Gebot der Stunde. Im Angesicht der realen und der beschworenen Konkurrenz der Medien scheint kaum ein Buch thematisch aktuell und stilistisch cool genug. Anpassung an die angenommenen Bedürfnisse der jugendlichen Leserschaft ist letztendlich Anpassung an den Markt, der ungemein schnelllebig geworden ist. Die Vermittlungsinstanz Schule nimmt dazu kaum noch eine kritische Position ein, sondern verfällt in einen ähnlichen Modus des Immer-Neuen. Wenn Aktualität die Leitkategorie in der KJL ist, welche Argumente könnten dann für die Beschäftigung mit historischen Texten sprechen?
Die KJL im Exil ist zwar eine historische Literatur, zielte aber zur Zeit ihrer Entstehung ebenso und in ganz besonderem Maße auf die aktuelle Lage und damit auf den Kontext von Faschismus und Weltkrieg. In dieser Zeitgebundenheit und -bezogenheit liegt ihre besondere Historizität begründet. Dass die vergangene Aktualität ein Grund ist für die relativ geringe Präsenz auf dem Markt, zeigt sich unter anderem an der Tatsache, dass die Texte, die trotzdem bis heute eine breitere Rezeption erfahren haben, den zeitgeschichtlichen Bezug nicht erahnen lassen. Kaum jemandem ist bekannt, dass Bambis Kinder von Felix Salten oder Die rote Zora von Kurt Held Werke der Exilliteratur sind. Auch wenn es natürlich möglich und auch legitim ist, solche Texte ohne Wissen um den Entstehungskontext Exil zu rezipieren, so ist doch bemerkenswert, dass man auch in der KJL-Forschung3 diese Facette der Texte nicht für wichtig hält. Die Historizität der Texte erscheint als möglichst zu überwindendes oder zu vernachlässigendes Merkmal. Wo das besonders gut gelingen kann, scheint eine breitere Rezeption möglich. Anna Maria Jokl schrieb über ihren ‚Kinderroman für fast alle Leute‘ Die Perlmutterfarbe: „Und merkwürdig: was als zeitgebundene Erkenntnis einer jungen Schriftstellerin, brennend interessiert am umgebenden Zeitgeschehen, erschien, erweist sich zu meinem eigenen Erstaunen ← 14 | 15 → als weitergehend gültig.“4 Was wäre damit gewonnen, das Erstaunen darüber ernst zu nehmen und was, würden wir statt die Allgemeingültigkeit sowie zeitliche und örtliche Ungebundenheit der Texte hervorzuheben, ihren historischen Standort in der jeweils aktuellen Rezeption mitdenken? Wie kann aus deren Historizität, die einmal Aktualität war, erneuerte Aktualität gewonnen werden?
1. Bertolt Brechts Lob des Historischen
Das Verhältnis von Historizität und Aktualität und damit der Nutzen des Historischen für die Gegenwart spielte für Brechts Überlegungen zu einem Theater (und einer Kunst) des wissenschaftlichen Zeitalters eine wichtige Rolle. Seine Auseinandersetzung mit dieser Thematik steht im Kontext der (linken) Kritik an der Biografie-Mode und den nationalistischen literarischen Geschichtserzählungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts. An die Stelle von unmittelbarer Anschaulichkeit und Identifikation in diesen setzt Brecht die Verfremdung durch Historie. Historische Texte, Fabeln und Stücke in ihrer die eigene Perspektive verfremdenden Wirkung hat er von Beginn seines Schreibens an geschätzt. Das zeigt sich zum Beispiel bereits an den frühen Gedichten, den ersten Lehrstücken Der Lindberghflug und Der Jasager und Der Neinsager bis hin zum Leben des Galilei und der Mutter Courage und ihre Kinder. Im Kleinen Organon für das Theater fasst er programmatisch (§ 35) zusammen:
Wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Einblicke und Impulse ermöglicht, die das jeweilige historische Feld der menschlichen Beziehungen erlaubt, auf dem die Handlungen jeweils stattfinden, sondern das Gedanken und Gefühle verwendet und erzeugt, die bei der Veränderung des Feldes selbst eine Rolle spielen.5
Ich erlaube mir diese Rezeptionstheorie – oder besser Rezeptionsprogrammatik – auch auf andere Formate zu übertragen, so wie Brecht selbst die Verfremdungstechnik nie als nur für das Theater als sinnvoll erachtet hat, wie seine vielfältigen Experimente in anderen Text- und Medienformen hinlänglich beweisen. Was sich aus diesem und anderen Texten Brechts nicht herauslesen lässt, ist eine Verdammung von Gefühlen in der Kunst und bei den Rezipienten. Dieses weit verbreitete Missverständnis folgt der Gegenüberstellung von Genuss und Vernunft, die es für Brecht nicht gab. Für ihn ist die „allgemeinste Funktion der Einrichtung ‚Theater‘ ← 15 | 16 → [die] einer Vergnügung […]. Es ist die nobelste Funktion, die wir für ‚Theater‘ gefunden haben.“ (§ 2), „[…] das Geschäft des Theaters […]. […] benötigt keinen andern Ausweis als den Spaß, diesen freilich unbedingt“.6 Das Theater – und damit die Kunst im „wissenschaftlichen Zeitalter“ – sollen in der Rezeption Gefühle und Gedanken erzeugen, die aber eben nicht Zufriedenheit mit dem gesellschaftlichen Status Quo auslösen, sondern im Gegenteil „die bei der Veränderung des Feldes selbst eine Rolle spielen“.7 Aktiv an diesen Veränderungen gedanklich und handelnd mitzuwirken sind für Brecht angemessene Vergnügungen für die neuen Menschen des wissenschaftlichen Zeitalters. Diese Grundüberzeugung finden wir bei vielen anderen ExilautorInnen seiner Zeit wieder, auch bei den AutorInnen von Kinder- und Jugendliteratur. Kinderfiguren und die intendierten Adressaten dieser Literatur sind häufig als Kinder eines solchen ‚wissenschaftlichen Zeitalters‘ konzipiert.
Details
- Seiten
- 344
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (ePUB)
- 9783631712696
- ISBN (PDF)
- 9783653069648
- ISBN (MOBI)
- 9783631712702
- ISBN (Hardcover)
- 9783631674833
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06964-8
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (März)
- Schlagworte
- Exilliteratur Österreichische Literatur Deutsche Literatur Literatur der Weimarer Republik Literatur der Zwischenkriegszeit
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 344 S., 1 s/w Graf., 19 s/w Abb.