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Agency in Arzt–Patient-Gesprächen

Zur interaktionistischen Konzeptualisierung von Agency

von Jiyeon Kook (Autor:in)
©2015 Dissertation 272 Seiten
Reihe: Linguistic Insights, Band 193

Zusammenfassung

Um dem subjektiven Erleben von Patienten in Bezug auf Krankheit mehr Beachtung zu schenken, benötigt man wissenschaftliche Konzepte und Methoden, welche diesen vornehmlich kognitiven Aspekt von Krankheit überhaupt greifbar und somit letztlich analysierbar machen. Zugang zu komplexen kognitiven Konstrukten wie dem Krankheitserleben von Patienten eröffnet die verbale Darstellung von Beschwerden im ärztlichen Gespräch. Der Beitrag linguistisch-gesprächsanalytischer Forschung in diesem Zusammenhang besteht darin, mittels der Analyse ärztlicher Gespräche aufzuzeigen, auf welche sprachlichen Mittel und Verfahren Patienten bei der Darstellung ihres subjektiven Krankheitserlebens zurückgreifen. Erfolg verspricht dabei das Konzept Agency. Es erlaubt eine systematische Analyse subjektiver Erlebnisschilderungen von Patienten hinsichtlich der Frage, wie sie den eigenen Einfluss auf ihre Genesung wahrnehmen und einschätzen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Problemstellung
  • 1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise
  • 2. Forschungsgegenstand: Agency
  • 2.1 Forschungsstand
  • 2.1.1 Agency allgemein
  • 2.1.2 Agency in der Linguistik
  • 2.1.2.1 Agencyrelevante Aspekte aus grammatisch-syntaktischer Perspektive
  • 2.1.2.2 Agencyrelevante Aspekte aus semantischer Perspektive
  • 2.1.2.3 Agencyrelevante Aspekte aus pragmatischer Perspektive
  • 2.1.2.4 Zusammenfassung
  • 2.2 Forschungsleitende Fragestellung
  • 3. Grundlagen
  • 3.1 Analysemethode: Ethnomethodologische Konversationsanalyse
  • 3.2 Interaktionale Linguistik
  • 3.3 Handlungsschemakonzept
  • 3.3.1 Das Handlungsmuster nach Ehlich/Rehbein
  • 3.3.2 Das Handlungsschema nach Kallmeyer
  • 3.4 Forschungskontext Arzt-Patient-Kommunikation
  • 3.4.1 Besonderheiten institutioneller Kommunikation
  • 3.4.2 Gesprächstyp Arzt-Patient-Kommunikation
  • 3.5 Linguistisches Erkenntnisinteresse medizinischer Kommunikation
  • 3.6 Datenkorpus
  • 4. Empirische Untersuchungen
  • 4.1 Fallanalyse
  • 4.2 Systematische Ausdeutung
  • 4.3 EXKURS: Die Pro-Drop-Sprache
  • 4.3.1 Begriffsklärung
  • 4.3.2 Subjektlosigkeit der koreanischen Sprache
  • 4.3.3 Agency und Pro-drop
  • 4.4 Systematische Analysen
  • 4.4.1 Konstellationstyp A
  • 4.4.2 Konstellationstyp B
  • 4.4.3 Konstellationstyp C
  • 4.4.4 Konstellationstyp D
  • 4.4.5 Konstellationstyp E
  • 4.4.6 Konstellationstyp F
  • 4.4.7 Konstellationstypen G und H
  • 5. Systematisierung der Befunde
  • 5.1 Agency auf der Darstellungsebene
  • 5.1.1 Pronomina
  • 5.1.2 Sonstige Merkmale passiver Agency auf der Darstellungsebene
  • 5.2 Agency auf der gesprächsorganisatorischen Ebene
  • 5.3 Agency auf der interaktionstypologischen Ebene
  • 5.3.1 Rollenverteilung
  • 5.3.2 Handlungsaufgaben
  • 6. Diskussion und Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang

1.  Einleitung

1.1 Problemstellung

Die Konzeptualisierung von Krankheit fällt unterschiedlich aus, je nachdem welche Lehre der betrachteten Definition zugrunde liegt (Overlach 2008: 39). Nach der klassischen schulmedizinischen Auffassung wird Krankheit im Sinne des biomedizinischen Verständnisses als Störung im Organismus verstanden, welche als Defekt von Funktionen des Organismus zum Ausdruck kommt. Das biomedizinische Krankheitsmodell zeichnet sich demnach insbesondere durch eine naturwissenschaftlich geprägte Perspektive aus, bei der Krankheit auf somatische1, d.h. biochemische und physiologische Prozesse reduziert und als körperliches Phänomen verstanden wird.2 Dem subjektiven Gesundheits- bzw. Krankheitsempfinden und -erleben eines Menschen wird dem biomedizinischen Verständnis von Krankheit zufolge keine explizite Bedeutung zugemessen.3

Mit dem seit dem Ende der 70er Jahre einsetzenden Perspektivenwechsel gewinnt die Ansicht an Bedeutung, dass die Definition von Krankheit als biochemische Abweichung eine reduzierte Perspektive darstellt, in deren Rahmen insbesondere dem krankheitsbezogenen subjektiven Erleben eines Menschen keine ausreichende Bedeutung ← 9 | 10 → zugemessen wird.4 In diesem Zusammenhang erfährt die biomedizinische Auffassung von Krankheit eine sukzessive Erweiterung unter Einbeziehung psychosozialer Faktoren, die bei der Entstehung und Bewältigung von Krankheit eine bedeutende Rolle spielen.5 Neben körperlichen Aspekten werden daher auch psychische, soziale sowie kulturelle Faktoren mit einbezogen. Krankheit und Gesundheit werden demnach als ganzheitliche Phänomene verstanden, welche sich auf einer körperlichen, psychischen und sozialen Ebene beschreiben lassen.

Soll dem subjektiven Erleben von Patienten in Bezug auf Krankheit mehr Beachtung geschenkt und Relevanz beigemessen werden, benötigt man wissenschaftliche Konzepte und Methoden, welche diesen vornehmlich kognitiven Aspekt von Krankheit6 überhaupt greifbar und somit letztlich analysierbar machen.

Zugang zu komplexen kognitiven Konstrukten wie dem Krankheitserleben von Patienten eröffnet die verbale Darstellung von Beschwerden im ärztlichen Gespräch.7

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sprachwissenschaftlern, Psychologen und Medizinern im Hinblick auf die Analyse ärztlicher Gespräche bildet einen möglichen Ansatz auf der Suche nach geeigneten wissenschaftlichen Instrumenten.8 Der Beitrag linguistisch-gesprächsanalytischer Forschung in diesem Zusammenhang besteht darin, mittels der Analyse ärztlicher Gespräche aufzuzeigen, auf ← 10 | 11 → welche sprachlichen Mittel und Verfahren Patienten bei der Darstellung ihres subjektiven Krankheitserlebens zurückgreifen.

1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise

Ziel der vorliegenden Arbeit ist die gesprächsanalytische Untersuchung der sprachlich-kommunikativen Mittel, auf die Patienten in Arzt-Patient-Interaktionen zur Darstellung ihrer Beschwerden zurückgreifen. Das vorwiegende Analyseinteresse im Rahmen dieser Arbeit bilden sprachliche Darstellungen und pragmatische Handlungen zum Ausdruck subjektiver Krankheitserfahrungen, insbesondere sprachliche Darstellungen des Erlebens krankheitsbedingter physischer und psychischer Einschränkungen. Die forschungsleitende Frage lautet, ob sich Anhaltspunkte finden lassen, die Rückschlüsse auf die wahrgenommenen Handlungs- und Einflussmöglichkeiten eines Patienten erlauben.

Vielversprechend in Bezug auf eine systematische Analysemöglichkeit subjektiver Erlebensschilderungen von Patienten hinsichtlich der Frage, wie Patienten den eigenen Einfluss zur Herstellung des angestrebten Genesungszustandes wahrnehmen und einschätzen, erscheint die Verwendung des Konzepts Agency.

Behandelt wird die Frage, wie Agency speziell im Rahmen von Arzt-Patient-Gesprächen definiert bzw. konzeptualisiert werden kann. Zur konzeptuellen Annäherung werden neben einer Überblicksdarstellung der linguistischen Forschungsbeiträge, die sich bisher auf theoretischer wie empirischer Basis mit Agency im medizinisch therapeutischen Bereich befasst haben, insbesondere die entscheidenden linguistischen Ebenen sowie deren agencyrelevanten Aspekte näher beleuchtet (Kapitel 2). Es werden zunächst Gegenstand und Fragestellung dieser Arbeit vorgestellt: Kapitel 2.1. stellt die Studie dar, in deren Rahmen die Gespräche durchgeführt wurden, Kapitel 2.2. erläutert die Fragestellung und ansatzweise auch bereits die methodische Vorgehensweise. Darauf folgen die gesprächsanalytischen Grundlagen und die spezifischen Rahmenbedingungen institutioneller Kommunikation, speziell der ärztlichen (Kapitel 3). Betrachtet werden die ethnomethodologische ← 11 | 12 → Konversationsanalyse, die interaktionale Linguistik, das Handlungsschemakonzept, der Forschungskontext Arzt-Patient-Kommunikation und das Datenkorpus. Die Datengrundlage bildet ein Datenkorpus aus 20 Arzt-Patient-Gesprächen, die als Minimaltranskript nach GAT 2-Konventionen (vgl. Selting et al. 2009)9 transkribiert wurden. Auf den theoretisch-normativ geleiteten ersten Abschnitt aufbauend erfolgt dann die eigentliche Analyse der Arzt-Patient-Gesprächsdaten (Kapitel 4). Gemäß den methodologischen und methodischen Richtlinien der ethnomethodologischen Konversationsanalyse sollen die für die Bestimmung dieses Agencykonzepts notwendigen Kategorien und Kriterien anhand einer Einzelfallanalyse aus dem Datenmaterial selbst heraus entwickelt werden. Freilich gilt es andererseits auch auf bereits bestehende Agencykonzepte aus der einschlägigen Literatur zurückzugreifen. Anhand der Fallanalyse (Kapitel 4.1) sollen agencyrelevante Merkmale systematisch herausgearbeitet werden (Kapitel 4.2), um anhand der so ermittelten Kategorien das Datenmaterial in verschiedene Konstellationstypen zu unterteilen (Kapitel 4.4). Da ein Vergleich zwischen den koreanischen und deutschen Daten erfolgen soll, wird vorab in einem Exkurs die Besonderheit des Koreanischen als Pro-Drop-Sprache erläutert (Kapitel 4.3). Der Fokus dieses gesprächsanalytisch-empirischen Teils der Arbeit liegt darauf, solche sprachlichen Mittel und pragmatischen Verfahren aufzudecken und zu systematisieren (Kapitel 5), die Aufschluss darüber geben, wie handlungs- und einflussfähig sich Patienten in Bezug auf die Bewältigung der eigenen Krankheit wahrnehmen und darstellen. Abschließend folgt eine kritische Reflexion zur therapeutischen Relevanz des Konzepts Agency (Kapitel 6). ← 12 | 13 →

                                                   

  1  Eine ausführliche Darstellung und Begründung der somatischen Sicht- und Herangehensweise ärztlicher Behandlung in medizinischen Institutionen findet sich bei Fiehler 1990: 48–49.

  2  Die biomedizinische Analyse körperlicher Krankheiten beschränkt sich auf den Organismus und seine Funktionen; sie versucht diese objektiv zu messen und ihre körperlichen Ursachen zu finden. Der körperlich-somatische Teil und der psychische Teil des Menschen werden dabei getrennt betrachtet.

  3  Zur ausführlichen Darstellung des biomedizinischen Krankheitsmodells und dessen Kritik siehe Faltermaier 2005: 45–48; eine kontrastive Gegenüberstellung von biomedizinisch geprägtem, schulmedizinischem Modell und ganzheitlich orientiertem, psychosomatischem Ansatz findet sich bei Lalouschek 2005: 48–50.

  4  Zur ausführlichen Darstellung psychischer und sozialer Aspekte, die das Erleben und den Umgang mit Krankheit prägen, siehe Faltermaier 2005: 209–210.

  5  Die Erforschung des Zusammenhangs von psychosozialen und biologischen Faktoren bezüglich Krankheit und Gesundheit stellt das Erkenntnisinteresse der psychosomatisch orientierten Medizin dar, vgl. Schüßler/Petermann (2011: 1).

  6  „In engem Zusammenhang mit dem subjektiven Erleben von Krankheit stehen die Vorstellungen und Meinungen über Entstehung, Verlauf und Heilung von Krankheiten, die die kognitive Seite des Krankheitserleben darstellen.“ Lindenmüller (1986: 17).

  7  „Eine Krankheit wird in der klinischen Praxis vom Patienten in der Regel verbal in Form von Beschwerden und Beeinträchtigung berichtet.“ Faltermaier (2005: 48).

  8  Zur Verdeutlichung des Erfolgspotentials interdisziplinärer Forschungsarbeit sei stellvertretend für viele weitere auf folgende Projektteams verwiesen: Deppermann/Lucius-Hoene; Gülich/Schöndienst; Birkner/Overlach/Türp.; Menz et.al.

  9  Die GAT 2-Konventionen sind im Anhang beigefügt.

2.  Forschungsgegenstand: Agency

2.1 Forschungsstand

Agency spielt als Schlüsselbegriff in verschiedenen wissenschaftlichen Forschungsrichtungen eine wichtige Rolle. Dennoch ist das Konzept noch sehr unterbestimmt. Deswegen soll zunächst ein Überblick über den Forschungsstand unter Berücksichtigung der verschiedenen Definitionen gegeben werden.

2.1.1 Agency allgemein

Analysen von Agency im Sinne von Handlungsmächtigkeit und Kontrolle gehören zum Kern einer jeden Arbeit, die sich mit institutioneller Kommunikation beschäftigt.10 Agency ist als wissenschaftliches Konstrukt ein Schlüsselbegriff in unterschiedlichen Disziplinen wie z.B. der Soziologie, Psychologie sowie der sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik. Die Verbreitung ist mit der Popularität des Akteursbezugs handlungs- und entscheidungstheoretischer Ansätze verbunden. Agency ist dabei ein Beschreibungsinstrument für sehr unterschiedliche Weisen des Handlungsvollzugs, z.B. für die Akteursseite in dem Dualismus „Struktur und Handeln“ bei Giddens (1984), für Handlungsfähigkeit als eigenmächtige, gestaltende Einwirkungen auf die Umwelt bei Homfeldt, Schröer und Schweppe (2008) oder für Kontrollüberzeugungen in der Psychologie (Little 1998; Skinner 1996; Weisz 1983). ← 13 | 14 →

Details

Seiten
272
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783035108378
ISBN (ePUB)
9783035193473
ISBN (MOBI)
9783035193466
ISBN (Paperback)
9783034316668
DOI
10.3726/978-3-0351-0837-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Krankheit Gespräche Verhältnis Arzt-Patient Gesprächsanalyse Krankheitsgeschichten linguistische Gesprächsanalyse Gesprächsforschung
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. 272 S.

Biographische Angaben

Jiyeon Kook (Autor:in)

Jiyeon Kook studierte Germanistische Sprach- und Literaturwissenschaften an der Seoul National Universität und promovierte am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Gesprächsforschung und Linguistik die Übersetzungswissenschaft, da sie auch als Konferenzdolmetscherin tätig ist.

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Titel: Agency in Arzt–Patient-Gesprächen