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Theologie und politische Theorie

Kritische Annäherungen zwischen zeitgenössischen theologischen Strömungen und dem politischen Denken von Jürgen Habermas

von Eneida Jacobsen (Autor:in)
©2018 Dissertation 378 Seiten

Zusammenfassung

Im Dialog mit der Politik- und Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas und gegenwärtigen theologischen Ansätzen, vor allem der Befreiungstheologie und der Öffentlichen Theologie, arbeitet diese Studie das demokratiepolitische Potential einer lebensweltlich verankerten Theologie heraus. Die Autorin zeigt auf, inwiefern die Rezeption alltäglicher Erfahrungen und Symbole sowohl den befreiungstheologischen Diskurs verändert als auch das politische System einer Gesellschaft näher mit den konkreten Lebensbezügen der Menschen vernetzt. Dadurch erweist sich Theologie auf neue Weise als gesellschaftspolitisch relevant. Zugleich sind die alltäglichen Erfahrungen von Menschen in ihrer theologischen Bedeutung zu würdigen. Aus dieser Vermittlung von Gesellschaftsanalyse, Theorie der Lebenswelt und kritischer Rekonstruktion christlicher Praxis erwächst eine neue Gestalt von Befreiungstheologie, die die Bedeutung des Lebensweltlichen für die gesellschaftliche Öffentlichkeit deutlicher zur Geltung bringt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort Rudolf von Sinner
  • Vorwort der Autorin
  • 0. Einleitung
  • 0.1 Theologie, Religion und Politik: einige Begriffsdefinitionen
  • 0.2 Jürgen Habermas
  • 0.3 Entfaltung der These
  • 0.4 Erläuterungen zu Methode und Stil
  • 0.5 Danksagung
  • 1. Theoretischer Kontext: Habermas und die Theologie
  • 1.1 Theoretische Wurzeln des Habermas’schen Denkens
  • 1.2 Erkenntnis und Interesse: Ideologie versus Emanzipation
  • 1.3 Theologie und Theorie des kommunikativen Handelns
  • 1.4 Politik und Religion in postsäkularen Gesellschaften
  • 1.5 Religion und Theologie im Raum der Öffentlichkeit
  • 1.6 Emanzipation und Befreiung
  • 1.7 Schlussfolgerungen: Habermas, Theologie und Politik
  • 2. Lebenswelt und kommunikatives Handeln
  • 2.1 Lebenswelt als Hintergrundfolie des kommunikativen Handelns
  • 2.2 Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit
  • 2.3 Kommunikatives Handeln und die lateinamerikanische Erfahrung der Befreiung
  • 2.4 Systemanalyse und Analyse der Lebenswelt
  • 2.5 Die Theologie ausgehend von der Lebenswelt
  • 2.5.1 Persönliche Biografien und Erfahrungen: Subjekt
  • 2.5.2 Ethnografische Studien künstlerischer Ausdrucksweisen: Kultur
  • 2.5.3 Gesellschaftstheorien, Feldforschungen und statistische Daten: Gesellschaft
  • 2.5.4 Skizze einer in der Lebenswelt verankerten Theologie
  • 2.6 Schlussfolgerungen: Theologie und Lebenswelt
  • 3. Öffentlichkeit und Theologie
  • 3.1 Von der Lebenswelt zur politischen Öffentlichkeit
  • 3.2 Lebenswelt und System: Die Kolonialisierung der Lebenswelt
  • 3.3 Religiöse Stimmen im öffentlichen Raum
  • 3.3.1 Sinnressourcen
  • 3.3.2 Verbindung mit der Dynamik der Lebenswelt
  • 3.3.3 Theologie und die Übersetzungsarbeit
  • 3.4 Die Theologie im öffentlichen Raum
  • 3.4.1 Erinnern
  • 3.4.2 Prophetisch reden
  • 3.4.3 Befreien
  • 3.5 Von der Öffentlichkeit zum politischen System
  • 3.6 Schlussfolgerungen: Lebenswelt, Öffentlichkeit und Theologie
  • 4. Fragen im Dialog zwischen Habermas, der Theologie und der Politik
  • 4.1 Der Glaube negiert die Bedeutung der Vernunft nicht – Die Vernunft negiert die Möglichkeit des Glaubens nicht
  • 4.2 Die Argumentation im öffentlichen Raum kann ein Weg der Inklusion sein
  • 4.3 Theologie im öffentlichen Raum ist nicht immer destruktiv
  • 4.4 Befreiungstheologien sind in einer Demokratie von Bedeutung
  • 4.5 Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, doch ohne Brot lebt der Mensch nicht
  • 4.6 Schlussfolgerungen: Theologie und politische Theorie
  • Schluss
  • Literatur
  • Autorin und Übersetzer
  • Reihenübersicht

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Vorwort Rudolf von Sinner

Es ist mir eine besondere Freude und Ehre, das Vorwort zu diesem jetzt auf Deutsch vorliegenden Werk von Frau Doktorin Eneida Jacobsen zu verfassen. Es ist nicht eben gewöhnlich, dass eine junge Brasilianerin aus dem Hinterland von Espírito Santo in Brasilien eine sorgfältige, gut informierte, bedachte und hoch aktuelle Doktorarbeit verfasst, die aufgrund ihrer Qualität und Relevanz einer Übersetzung ins Deutsche für würdig gehalten wird. Hierfür gebührt der Autorin hohe Anerkennung, auf die ich gleich zurückkomme. Großer Dank gebührt Herrn Kollegen Prof. DDr. Franz Gmainer-Pranzl, Leiter des Zentrums „Theologie Interkulturell und Studium der Religionen“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, der sich enorm eingesetzt, die notwendigen Mittel beschafft und den Band in die Reihe „Salzburger interdisziplinäre Diskurse“ aufgenommen hat. Derselbe Kollege, der bereits mehrfach in Brasilien war, hat als Vorsitzender des Preisgremiums Frau Dr. Jacobsen am 6. Oktober 2015 den „Erwin Kräutler-Preis für kontextuelle Theologie und interreligiösen Dialog“ überreicht, aus meiner Sicht – auch abgesehen von der unvermeidlichen Voreingenommenheit des Doktorvaters – eine sehr gute Wahl. Die Bedeutung des Namensgebers des Preises ist nicht zu unterschätzen, hat sich doch Bischof Erwin Kräutler, „Dom Erwin“ – „dom“ ist ein Ehrentitel, bedeutet zugleich aber auch „Geschenk, Gabe“ – in der flächenmäßig größten Diözese Brasiliens am Oberlauf des Xingu-Flusses jahrzehntelang pastoral und politisch-sozial für die Indigenen eingesetzt. Der Preis, der die Möglichkeit einer Publikation mit sich bringt, ist für solche Arbeiten bestimmt, die sich mit Themen befassen, für die sich Bischof Kräutler engagiert. Der Rektor der Katholischen Privatuniversität Linz, Prof. Dr. Franz Gruber, hielt die Laudatio und stellte fest, dass Frau Dr. Jacobsen eine Arbeit verfasst habe, auf die er seit Langem gewartet hätte: „ein produktiver Diskurs zwischen der Theologie der Befreiung und der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas“.

Die Arbeit ist zunächst von großer Bedeutung für den lateinamerikanischen und namentlich den brasilianischen Kontext, weil sie eine eingehende Lektüre und Analyse der Beiträge von Jürgen Habermas aus Sicht des hiesigen Kontextes vornimmt. Wer die Werke Habermas’ gelesen hat, weiß, dass es sich um eine anspruchsvolle Lektüre handelt. Wer sich dieser Lektüre in der Originalsprache stellt als jemand, die zwar zu Hause einen aus dem 19. Jahrhundert mit der Emigration nach Brasilien überkommenen deutschen Dialekt, nämlich pommersches Plattdeutsch, erlernt hat, jedoch nicht durch eine Schule mit hochdeutscher ← 11 | 12 → Schriftsprache gegangen ist, hat eine noch höhere Hürde zu überwinden. Frau Dr. Jacobsen hat dies mit Bravour gemeistert, was ihr bei der Disputation den Respekt der anwesenden Habermas-Spezialisten eingetragen hat. Während bei einigen Denkern in Brasilien und Lateinamerika durchaus Interesse für das Werk Habermas’ besteht – etwa bei Enrique Dussel, Sérgio Costa und Leonardo Avritzer –, gibt es auch Vorbehalte. Diese beziehen sich einerseits auf einen als stark westlich und teleologisch geprägt wahrgenommenen Modernitätsbegriff, der ehemalige Kolonien wie Brasilien als gegenüber einer normativ vorgezeichneten Entwicklung als zurückgeblieben erscheinen lässt. Andererseits sehen Kritiker bei Habermas die Unterschätzung einer nicht nur diskursiven, sondern auch deliberativen Öffentlichkeit, die für reale Veränderungen also nicht nur von den Entscheidungsträgern des politischen Systems abhängig ist, sondern auch selbst Entscheidungen herbeiführen kann. Aus brasilianischer Sicht wird hier vor allem die direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Projekten und Entscheidungen des Bürgerhaushalts, eine in Brasilien entstandene, heute an vielen Orten weltweit praktizierte Idee, hervorgehoben. Im Bürgerhaushalt wird in einem demokratischen Prozess mit offener Beteiligung über die Verwendung eines bestimmten Prozentsatzes des Kommunalhaushalts diskutiert und ein Beschluss gefasst. Schließlich wird an Habermas auch kritisiert, dass er die starken Machtasymmetrien unterschätze, wie sie gerade in Lateinamerika anzutreffen sind. Kann es sein, so wird gefragt, dass das bessere Argument im Land des „herzlichen“, d. h. eher emotional denn rational bestimmten Menschen (so Sérgio Buarque de Holanda in Die Wurzeln Brasiliens) wirklich verfangen kann? Gibt es überhaupt einen machtfreien Diskurs unter gleichberechtigter Beteiligung aller? Gibt es nicht statt einem normativ besetzten Öffentlichkeitsbegriff real eher Öffentlichkeiten im Plural? Wie steht es gerade um die Rolle und Wirksamkeit von Frauen in der Öffentlichkeit? Jacobsen stellt diese Fragen auch und stellt sich ihnen im Dialog mit Habermas und Beiträgen zur lateinamerikanischen Theologie, wie sie in den letzten Jahren insbesondere von jüngeren Theologinnen und Theologen an der Faculdades EST entwickelt worden ist. Auf diese Weise wird, und das ist ein weiteres Verdienst der Studie, dieses kontextuelle Denken und die darin enthaltene Wirklichkeitswahrnehmung einem deutschsprachigen Publikum erstmals zugänglich gemacht. Die Studie baut eine wichtige Brücke: dem brasilianischen Publikum wird Habermas, dem deutschsprachigen Publikum heutige brasilianische Theologie zugänglich und plausibel gemacht. Es ist so ein Werk entstanden, das im Kontext, in der Lebenswelt verankert ist und programmatische Akzente setzt, und das zugleich in der akademischen Qualität europäischen Dissertationen in nichts nachsteht. Eine These möchte ich insbesondere ← 12 | 13 → hervorheben: dass nämlich rationale Argumentation keineswegs „bodenlos“, d. h. realitätsfern sein muss, ja nicht sein sollte und nicht sein darf, und dass sie emanzipatorisch wirken kann und muss. In einer Zeit und in einem Kontext wo gerade in vielen Kirchen nicht zuletzt in Brasilien dekretiert statt argumentiert wird, ist das in der Tat befreiend.

Ich hatte das Privileg, mit Eneida vom Bachelor bis zum Doktorgrad einen langen und spannenden Weg gemeinsam zu gehen. Sie hat nicht nur die Bachelor-, Master- und Doktorarbeit bei mir geschrieben – immer im Blick auf den öffentlichen Charakter der Theologie und ihren Ort in der Öffentlichkeit, was sich gut in unseren Forschungsschwerpunkt zur „öffentlichen Theologie in lateinamerikanischer Perspektive“ einfügte –, sondern auch ein Semester lang als Tutorin den Kurs in „Theologie der Gegenwart“ mit begleitet, mit gestaltet und wöchentlich mit mir besprochen. Dies waren für beide sehr schöne und ergiebige Gelegenheiten zum Austausch und eine wichtige Brücke zwischen Professor und Studierenden in einer in der Regel als sehr anspruchsvoll eingestuften Vorlesung, bei der während vier Stunden am selben Vormittag komplexe theologische Sachverhalte und ihr jeweiliger Kontext erläutert und besprochen wurden. Eneida hat als inoffizielle Forschungsassistentin – das Amt gibt es bei uns in Brasilien leider nicht – zudem mehrfach wichtige Vorarbeiten für Texte, die ich zu schreiben hatte, geleistet, wie etwa eine Literaturübersicht zum Thema des Schwangerschaftsabbruchs bei anenzephalen Föten. Ob sie bei diesen und anderen Arbeiten je nächtens geschlafen hat, entzieht sich meiner Kenntnis und hat immer wieder meine Besorgnis geweckt. Die Texte reichte sie jedenfalls immer zeitgerecht, bestens informiert und kompetent organisiert ein.

Es war mir beim Doktorat sehr wichtig, dass Eneida, die schon einen Austausch auf Bachelorebene an der Universität Göttingen hinter sich hatte, für einige Monate ins Ausland gehen würde, um andere Personen, Positionen und Diskussionen kennenzulernen. Durch das Global Network for Research Centers in Theology, Religious and Christian Studies (www.globalnetresearch.org) sowie durch ein Auslandsstipendium der brasilianischen CAPES (www.capes.gov.br) war es möglich, für zehn Monate am Princeton Theological Seminary in Princeton/New Jersey zu forschen. Kollege Prof. Dr. Mark Lewis Taylor, der für Lateinamerika und die Befreiungstheologie eine besondere Sensibilität und an beiden großes Interesse hat, betreute sie dort. In Princeton entschied sich Eneida außerdem dazu, ein zweites Doktorat in politischer Philosophie (an der Villanova University in Philadelphia/Pennsylvania) in Angriff zu nehmen. Ich bin davon überzeugt, dass Frau Dr. Jacobsen dort ihre schon sehr beachtliche Kompetenz und ihre schon zahlreichen internationalen Kontakte wird erweitern ← 13 | 14 → können, ohne ihre menschenfreundlich-humorvolle, aber auch herausfordernde und nachfragende Art sowie ihre Sensibilität für die Lebenswelt gerade der weniger gut Situierten zu verlieren. Bereits jetzt ist sie in mehrere Projekte des Lutherischen Weltbundes involviert. Ihr Weg wird sie gewiss noch an viele spannende und spannungsvolle Orte führen – ein Weg, den ich inzwischen aus der Ferne mit etwas Wehmut, aber vor allem mit Befriedigung und großem Interesse verfolge. Dem deutschsprachigen Leser und der deutschsprachigen Leserin empfehle ich mit allem Nachdruck die anspruchsvolle Lektüre der folgenden Seiten, aus der er oder sie gewisslich einen hohen Gewinn ziehen wird.

Rudolf von Sinner

Faculdades EST

São Leopoldo/RS, Brasilien

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Vorwort der Autorin

Traurig sieht die politische Linke zu, wie die Arbeiterklasse in Brasilien ihre historisch geschaffenen Rechte nach und nach verliert. Der Angriff auf die Demokratie, der von der ökonomischen und politischen Elite gesteuert wird, richtet sich vor allem gegen die Armen, gegen jene, die kein Dach über dem Kopf, keinen Landbesitz, keine Gesundheit und keine Ausbildung haben. Während ein Großteil der Bevölkerung leidet und gegen Kürzungen im Sozialbereich protestiert, steigen die Gehälter von Richtern und Politikern weiter an. Aufgrund der Unterstützung der ideologisch vereinnahmten großen Medien und von Polizeigewalt bleibt die Regierung unempfänglich für Anfechtungen und Proteste von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und anderen Formen sozialer Zusammenschlüsse.

Der Vermittlungsprozess, der gesellschaftliche Forderungen mit dem politischen System in Verbindung bringt, fand bereits unter großen Einschränkungen und Schwierigkeiten statt; unter der Regierung des Präsidenten Michel Temers kam er schließlich zum kompletten Stillstand. Die Verzweiflung findet zweifellos in der öffentlichen Sphäre ihren Widerhall, doch bestehen auch Formen journalistischer, künstlerischer und musikalischer Kreativität, wie sie seit Langem nicht mehr in dieser Lebendigkeit vorzufinden waren. Sie sind das Werk einer Generation, die entschlossen den Weg in eine alternative politische Zukunft geht.

Das System politischer und ökonomischer Hierarchien in Brasilien ist an eine weiße, männliche und elitäre Lebenswelt gekoppelt und wird durch Gespräche und Vereinbarungen weitergegeben, die nicht einmal verhüllt werden müssen, um effektiv wirken zu können. Sowohl die geleakten Audioaufnahmen, die die Amtsenthebung Rousseffs plausibilisieren sollten, als später auch die Proteste der armutsfeindlichen, rassistischen und homophoben Mittelschicht, die von den Medien zum gleichen Zweck ausgenutzt wurden, haben ihren Ursprung in einer zahlenorientierten politisch strukturierten Lebenswelt: der Sinn, die Definitionen, Werte und Kriterien, die unter den Sprechern der Elite benutzt und geteilt werden, lenken die Wege der Politik zugunsten der Reichen.

Die reiche Oberschicht argumentiert und agiert letztendlich mit dem Ziel, ihre Hegemonie beizubehalten, verankert in Sinn- und Denkstrukturen, die jegliche Kultur- und Genderdiversität skeptisch sehen, die Arbeit der Massen nicht anerkennen und keinerlei Mitgefühl für das Absterben der großen Masse des Volkes sowie für die Herausforderungen der wirtschaftlichen Instabilität älterer Menschen haben. Es zeigt sich, dass nicht die Überbürokratisierung des politischen ← 15 | 16 → Systems der gravierendste Faktor für die politische Krise Brasiliens ist, sondern die Manipulation des Systems zugunsten der wohlhabenden Schicht.

Das ist keinesfalls ein neues Problem: die ökonomische Ungleichheit ist und bleibt die größte Hürde für die Konsolidierung der Demokratie in Brasilien. Das Problem besteht auch aus einem Kreislauf: Das Steuersystem begünstigt Gruppierungen mit besserem Einkommen, und das Erbschaftsgesetz sorgt für die Ansammlung von Kapital über die Generationen hinweg. Dadurch wird der Einfluss der Oberschicht auf die Politik gefestigt, und gleichzeitig werden so die rechtlichen Bedingungen geschaffen, die für das Fortbestehen und für die Verschärfung der Ungleichheit verantwortlich sind. In den Jahren, als die politische Linke an der Macht war, ging sie widerspruchsvolle Bündnisse und Koalitionen ein. Heute müssen die Superreichen weniger Steuern als vor zehn Jahren bezahlen. Temer war Rousseffs Vizepräsident. Jene Abgeordneten und Senatoren, die für die Absetzung der Präsidentin stimmten, waren ebenso von der Bevölkerung gewählt worden. Der kulturelle Einfluss der dominierenden Gruppierungen sollte nicht unterschätzt werden: jene Mitglieder der Gesellschaft, die am meisten verdienen, sind weder Politiker noch Fußballspieler, sondern meinungsbildende Vertreter/innen der großen Medien.

Wenn Kommunikationsakteure von sozialen Problemen unmittelbar betroffen sind oder sich vom Appell der leidenden Gruppierungen bewegen lassen und überzeugt werden, dass es bessere Antworten auf die politischen Fragen ihrer Generation geben muss, so orientiert sich ihr Verständnis nicht an Zielen der Herrschaft und Manipulation, sondern an Respekt und Gerechtigkeit. Warum gibt es Armut? Ist Armut eine persönliche Entscheidung oder ein Symptom der Akkumulation von Kapital in den Händen ausgewählter Gruppierungen? Warum gibt es rassen- und gendermotivierte Gewalt? Handelt es sich dabei um ein strikt kulturelles Phänomen, oder muss man sich der Rolle unserer politischen, kirchlichen und ausbildenden Institutionen in ihrer Reproduktion bewusst werden? Wer gewinnt und wer verliert, wenn unsere natürlichen Ressourcen aufgebraucht werden und wir uns einer globalen ökologischen Katastrophe nähern?

Die Verzweiflung speist die Hoffnung auf Widerstand – immer, wenn gestreikt wird, wenn eine politische Diskussionsrunde stattfindet, wenn Erfahrungen mit lokalem Wirtschaften gemacht werden, wenn die kulturelle Diversität gefeiert wird und in den sozialen Medien mit Humor auf Politik reagiert wird, steigt der Druck auf das wirtschaftlich-politische System. Argumente sind flexibel. Es ist nicht schwer, die notwendigen Prämissen für jene Schlüsse zu finden, die wir ziehen möchten. Gute Argumente sind deshalb nicht nur logisch korrekt, sondern hängen von einer Gemeinschaft ab, die für die benachteiligten, gefährdeten ← 16 | 17 → Leben steht. Durch die Liebe und den Dialog in Gruppen und Gemeinschaften organisiert sich der Widerstand; man trifft sich in sozialen Diskussionsnetzwerken, man geht auf die Straße und marschiert durch die großen Städte, man entwickelt zusammen Projekte von solidarischem Wirtschaften und bildet die Führungskräfte einer neuen politischen Zukunft aus.

Ich freue mich auf diese Publikation, weil ich nach wie vor an die befreiende Macht des Dialogs glaube. Ich glaube noch an die Macht der verständlichen, wahren, fairen und gerechten Kommunikation, die im Rahmen der gemeinschaftlichen Liebe geschehen kann, an dieses Gegengift gegen Mauern der Trennung, die sich weltweit verbreiten. Für die finanzielle und institutionelle Unterstützung, die diese Publikation möglich macht, bedanke ich mich ganz herzlich bei der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und ihrem Oberkirchenrat Dr. Oliver Schuegraf, bei der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich unter Bischof Dr. Michael Bünker und beim Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen, geleitet von DDr. Franz Gmainer-Pranzl. Mein Dank geht auch an Dr. Bruno Kern für die sorgfältige Arbeit an der Übersetzung des portugiesischen Originals. Ebenso möchte ich mich bei meinem ehemaligen Betreuer Prof. Dr. Rudolf von Sinner für die Worte der Unterstützung im Vorwort zur deutschen Ausgabe bedanken. Bezüglich der Endrevision des Manuskripts geht mein herzlicher Dank an Elisabeth Höftberger.

Eneida Jacobsen

im Juli 2017

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0. Einleitung

Die vorliegende Doktorarbeit ist das Ergebnis eines Dialogvorschlags zwischen der politischen Theorie von Jürgen Habermas und gegenwärtigen theologischen Strömungen, namentlich der Theologie der Befreiung und der Öffentlichen Theologie. Ich benutze hier den Ausdruck politische Theorie – und nicht den der politischen Philosophie, der eine allgemeinere Bedeutung mitschwingen lässt – immer dann, wenn ich mich auf das in dieser Arbeit vorgeschlagene begriffliche Gerüst im Umfeld der Überlegungen Habermas’ über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mithilfe der Begriffe Lebenswelt und Öffentlichkeit beziehe. Ausgehend vom Habermas’schen begrifflichen Rahmen hinsichtlich des politisch-demokratischen Prozesses, wie er aus der Lebenswelt hervorgeht und im Raum der Öffentlichkeit kommunikativ vermittelt wird, und im Dialog mit Beiträgen der Theologie der Befreiung sowie der Öffentlichen Theologie denke ich über die Rolle der Religion und der christlichen Theologie für das politische Leben in gegenwärtigen Gesellschaften nach. Ich wähle – wenn auch nicht ausschließlich, zumal viele Herausforderungen in Bezug auf die Demokratie und die Präsenz der Religion im öffentlichen Raum in ähnlicher Weise in unterschiedlichen Teilen der Welt angetroffen werden können – den brasilianischen Kontext als hauptsächlichen historischen Horizont dieser Reflexion. Die Präsenz religiöser Stimmen im öffentlichen Raum rückte um die Jahrtausendwende in den Fokus eines zunehmenden akademischen Interesses. Ich bin davon überzeugt, dass die Theologie in der Begegnung mit theoretisch-politischen Ansätzen wie dem von Habermas in bedeutender Weise zum Fortschritt der Diskussion um die politische Rolle religiöser Stimmen im Raum der Öffentlichkeit beitragen kann.

Mit Habermas und wichtigen Vertretern der Theologie der Befreiung sowie der öffentlichen Theologie wie etwa Gustavo Gutiérrez, Leonardo Boff, Enrique Dussel, David Tracy und Rudolf von Sinner trete ich argumentativ für das demokratisch-politische Potenzial religiöser Stimmen im öffentlichen Raum ein. Natürlich muss diese Behauptung in einem Kontext, in dem die konservative Präsenz evangelikaler christlicher Gruppen im Vergleich zu anderen religiösen Gruppen die Vorherrschaft zu gewinnen scheint, qualitativ ausgewiesen werden. Allgemein formuliert lautet die Frage, auf die ich eine Antwort geben will, in welcher Weise unterschiedliche religiöse Gruppen – und aus einem spezifischen Blickwinkel die christliche Theologie im Sinne einer akademischen Reflexion über und ausgehend von religiösen Inhalten der christlichen Tradition – zum politischen demokratischen Prozess in einem idealerweise gegenüber den religiösen ← 19 | 20 → Weltanschauungen dieser Gruppen neutralen Kontext beitragen können. Meine Antwort kann in drei Hauptthesen zusammengefasst werden, die die Argumentation zugunsten des demokratischen Potenzials der Theologie und der Religionen im öffentlichen Raum untermauern:

Details

Seiten
378
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (PDF)
9783631748978
ISBN (ePUB)
9783631748985
ISBN (MOBI)
9783631748992
ISBN (Hardcover)
9783631746059
DOI
10.3726/b13492
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Schlagworte
Lebenswelt Öffentlichkeit Jürgen Habermas Befreiungstheologie Öffentliche Theologie Politik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 378 S.

Biographische Angaben

Eneida Jacobsen (Autor:in)

Eneida Jacobsen ist promovierte Theologin und studierte Evangelische Theologie an den Fakultäten der EST (Escola Superior de Teologia) in São Leopoldo (Brasilien) und in Göttingen sowie Philosophie an der UNISINOS (São Leopoldo). Sie ist als Teaching Assistant an der Villanova University (Pennsylvania, USA) tätig.

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Titel: Theologie und politische Theorie