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Freiheit und Gerechtigkeit als Herausforderung der Humanwissenschaften

Freedom and Justice as a Challenge of the Humanities

von Mira Miladinović Zalaznik (Band-Herausgeber:in) Dean Komel (Band-Herausgeber:in)
©2018 Sammelband 376 Seiten

Zusammenfassung

Humanwissenschaften bilden die Grundlage der kultur-zivilisatorischen Überlieferung der heutigen Welt. Es scheint aber, dass die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung und der techno-wissenschaftliche Fortschritt sie, global betrachtet, an den Rand des gesellschaftlichen Geschehens gerückt und ihre Rolle in Bildung, Kultur und Forschung ins Wanken gebracht hätten.
In der Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Krisen, die unser Verständnis der Freiheit und Gerechtigkeit berühren, setzt sich erneut das Bewusstsein über die Bedeutung der humanistischen Überlieferung für die Akzeptanz und den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft durch wie auch für die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Welt und der Würde eines jeden Einzelnen.
Die Bedeutung und die Perspektiven der Humanwissenschaften heute werden von 22 Autorinnen und Autoren in diesem Sammelband des Forums für Humanwissenschaften erörtert.
The humanities represent the foundation of the cultural-civilizatory heritage of contemporary world. However, it seems that the socio-economic development and techno-scientific progress have on a global level forced them to the margins of society, and weakened their role in education, culture, and research.
The confrontation with current social crises, which have affected our understanding of freedom and justice, motivates a renewed awareness of the importance of humanistic tradition for the acceptance and creation of a common future, as well as for the recognition of diversity of the world and dignity of the individual.
Contributions by 22 authors in the collective volume of the Forum for the Humanities discuss the significance and perspectives of the humanities today.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort (Dean Komel / Mira Miladinović Zalaznik)
  • Humanität und Humanwissenschaften
  • Nachkriege im Zeichen der Demokratie Zur Genese von Humanitätskonzepten in Deutschland (Gertrude Cepl-Kaufmann)
  • The “Humanities” in the Anthropocene (Sanja Milutinović Bojanić)
  • Ideen der Gerechtigkeit und Freiheit
  • Freiheit und Gerechtigkeit im Wechselspiel der Epochen (Harald Heppner)
  • Fragen nach Freiheit und Gerechtigkeit im pazifistischen Kontext (Johann Georg Lughofer)
  • Freiheit und Gerechtigkeit als zentrale Determinanten der politischen Welt (Dean Komel)
  • Menschenrechte, Interkulturalität, Friede
  • Reassessing Human Rights, Reassessing Humanities: Justice as a Challenge (Gabriella Valera)
  • Humanismus und Kosmopolitismus (Marco Russo)
  • Culture, Cognition, and Intercultural Communication (Peter Hanenberg)
  • Humanismus ohne Gott? (Elmar Bordfeld)
  • Global und Local
  • Justice in Transition, Why and Why Not? (Jau-hwa Chen)
  • Modernization Theory and the Challenge of Social Order in Africa (Felix O. Olatunji)
  • Interaktive Konflikttransformation im Spannungsfeld von Gerechtigkeit und Versöhnung am Beispiel der Alpen-Adria-Region (Jan Brousek)
  • Freiheits- und Gerechtigkeitskontext in der Literatur
  • Bücher und Texte als Festungen der Freiheit Zum Erinnerungs-, Möglichkeits- und Widerstandsraum literarischer Texte (Primus-Heinz Kucher)
  • Welche Freiheiten hatten Johann, Friedrich und Nikolaus von Maasburg im 20. Jahrhundert? (Mira Miladinović Zalaznik)
  • Freiheit und Gerechtigkeit in der Geschichte
  • Vendetta and Banishment (Claudio Povolo / Darko Darovec)
  • A Reflection on Historiographies regarding Intelligence Services. The Case of Julian Venetia during the Second World War (Gorazd Bajc)
  • Bemühungen um Freiheit und Gerechtigkeit als slowenische historische Erfahrung (Stane Granda)
  • Medien und Demokratie
  • Freedom of the Press between Politics and Capital (Anđelko Milardović)
  • What Is the Position of the Humanities in Mass Media? (Bernard Nežmah)
  • New Critique
  • Is Democracy Threatened? (Mihael Brejc)
  • Kritik und Kapital (Peter Trawny)
  • Problems of Freedom. Perspectives for a New Humanism (Adriano Fabris)
  • Liste der Autorinnen und Autoren
  • Namensregister

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Vorwort

Humanwissenschaften bilden eine unentbehrliche Grundlage der kulturellen und zivilisatorischen Überlieferung der heutigen Welt. Es hat jedoch den Anschein, dass sie von der technisch-wissenschaftlichen und ökonomischen Entwicklung weltweit an den Rand des gesellschaftlichen Geschehens gedrängt wurden, wodurch ihre Schlüsselrolle in Bildung, Kultur und Forschung untergraben wurde.

Angesichts der sozialen und politischen Krisen wird uns immer mehr bewusst, dass die Anerkennung des tradiert Humanen unter gleichzeitiger Anerkennung aller Unterschiede, die jedem Einzelnen eigen sind, sowohl für die Akzeptanz als auch für die Hervorbringung einer gemeinsamen Welt, notwendig sind.

Erst wenn wir uns mit verschiedenen Identitäten, Denkarten, Geschichten, Sprachen, Religionen, wirtschaftlichen und politischen Umfeldern auseinandersetzen, werden uns die Breite und Tiefe der Humanwissenschaften bewusst, die als eigenes Selbstbewusstsein eine Besinnung auf die Zukunft eröffnen.

Durch die Missachtung ihres Gewichts und durch ihre gesellschaftliche Randrolle wird eine eingegrenzte Welt erschaffen, die über keine Kongruenz einer nachhaltigen Entwicklung verfügt, die eine Anbindung an die technologischen und ökonomischen Kräfte der Gesellschaftsentwicklung möglich macht.

Der vorliegende Band steht allen Schaffensbereichen offen mit der Absicht, mit Hilfe einer gesellschaftskritischen und entwicklungsorientierten Ausrichtung die Sicht auf die Rolle und Bedeutung der Humanwissenschaften in den zeitgenössischen Gesellschaften zu öffnen. Die Beiträgerinnen und Beiträger verschiedener Disziplinen und Länder, alle Mitglieder des internationalen Forums für Humanwissenschaften (FORhUM), befassen sich in ihren Texten mit dem Verständnis des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gerechtigkeit in der Vergangenheit und Gegenwart, mit der globalen politischen und ← 9 | 10 → ökonomischen Krise und der Krise der Menschenwürde, mit der Freiheit und Gerechtigkeit unter dem Aspekt der Beachtung von Menschenrechten, mit der Medienfreiheit zwischen Politik und Kapital, mit der politischen Verantwortung im Verhältnis zur Freiheit und Gerechtigkeit, auch mit der Autonomie des Schaffens, der Forschung und Bildung, mit der Kommunikationsfreiheit in gesellschaftlichen Perspektiven und der Frage nach möglicher Humankoexistenz, und, last but not least, mit der Freiheit und Gerechtigkeit im literaturhistorischen Kontext. Dabei werden neue Horizonte der Humanwissenschaften und Perspektiven der Demokratie angepeilt. Denn, wie es Harald Heppner in seinem Beitrag „Freiheit und Gerechtigkeit im Wechselspiel der Epochen“ in diesem Band formuliert, das tut not: „Die Humanwissenschaften haben sich in den letzten 150 Jahren merklich entwickelt, aber nicht nur zum Vorteil, denn die akademische Auffächerung führte zwangsläufig dazu, dass der Mensch in der jeweiligen Epoche als ein Ganzes aus dem Blickfeld geriet; daher ist es ein Gebot der Stunde, die Erkenntnisse der einzelnen human-, aber auch sozialwissenschaftlichen Fächer zusammenzuführen zugunsten tieferer und nachhaltigerer Einsichten.“

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Humanität und Humanwissenschaften

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GERTRUDE CEPL-KAUFMANN

Nachkriege im Zeichen der Demokratie Zur Genese von Humanitätskonzepten in Deutschland

Abstract: From 1919 onwards, the Weimar Republic in Germany presented a response to the apocalypse of the First World War. After the apocalypse of the Second World War, the Bonn Republic seemed to be pointing into a new direction, but in a remarkable way it only resumed the year 1919. Which founding myths are associated with the new beginning? What fell by the wayside?

Über Jahre, in annähernd der gleichen Zeitspanne, in der sich der zivilisatorische Urknall, der Erste Weltkrieg vollzog, ereignet sich hundert Jahre danach in Deutschland zurzeit eine Erinnerungskultur, die sich bemerkenswerterweise nach dem eingeschriebenen Gesetz des Urereignisses selbst vollzieht: Carl von Clausewitz hatte es 1834 in seinen Gedanken Vom Kriege auf den Punkt gebracht: „Der Krieg ist ein […] Chamäleon“.1 Gerd Krumeich, der sich mit seinen jahrzehntelangen Forschungen zum Dauerkonflikt Frankreich-Deutschland in die Wissenschaftsgeschichte2 eingeschrieben hatte,3 nahm es am Anfang dieser Memorialphase wieder auf und behielt doppelt Recht: Sowenig damals, am 1. August 1914, die Dimensionen der Grande Guerre einschätzbar ← 13 | 14 → waren und sich nach eben dem Chamäleon-Prinzip zum Monster entwickelten, war bereits vom Beginn der Planungen bis zum Großereignis am 1. August 2014 aus dem Gedenkjahr ein Welterinnerungskomplex ungeheuren Ausmaßes – geradezu im Tsunami-Format4 – geworden. Nehmen wir Europa, so waren es kollektive Ereignisse wie das Projekt Europeana, auch der Kongress European Commemoration im Dezember 2014 im Berliner AA,5 bei dem die fast ausschließlich aus ost- und südosteuropäischen Ländern zusammengekommenen Wissenschaftler und Kulturmacher erst begannen, hinter ihrer oktroyierten Identität des gesamten 20. Jahrhunderts dieses Kapitel ihrer Geschichte wieder zu entdecken. Aleida Assmann hatte bei dieser Gelegenheit die erinnerungstheoretische Fundierung beigetragen. Schon am Ende des ersten Gedenkjahres hatte sich Grundlegendes verändert:

1. Ob man dafür oder dagegen war: Christopher Clark hatte den Deutschen ein Geschenk gemacht, ihnen ein schwer wiegendes, ein Jahrhundert geltendes Schuldpaket abgenommen, indem er das Schlafwandler-Syndrom als europäisches Phänomen festmachte.6 Die Deutschen bedankten sich geziemend und kauften 200.000 Exemplare des 2013 erschienenen Buches, während es andere europäische Länder im Schnitt nur auf 20.000 brachten.

2. Europa war größer geworden! Es ging offensichtlich nicht nur um die Erbfeinde Deutschland und Frankreich, die die Rezeptionsgeschichte zum Ersten Weltkrieg bisher dominiert hatten. Spätestens gegen Ende 2014 war auch dem verschlafenen AA wie allen Ländern, die eine je eigene nationale Erinnerungskultur betrieben hatten, klar, dass man mit der nationalen Sicht nicht wirklich weitergekommen ← 14 | 15 → war, dass vielmehr die fundamentale Vernetzung, ja, Verstrickung wie ein Filz über diesem Europa gelegen hatte und Pulverfässer nicht im eigenen Haus kontrolliert lagerten, sondern immer im oft gänzlich irrationalen Dissens mit Nachbarn – einem unendlichen Nachbarn – wie in einem Dominoeffekt ferngezündet wurden.

3. Ein Ende der nationalen Kulturen, die man wie einen Sandkasten besitzen und bespielen wollte, war unübersehbar: In den behüteten europäischen hortus conclusus war Fremdes, z.B. Osmanisches, Senegalesisches, Südpazifisches und mehr eingedrungen. Wo waren damals, beim Urereignis, die Mahner, wo die, die Öl ins Feuer schütteten? War es die doch so erkenntnislüsterne Wissenschaft, die die Herausforderung angenommen hatte? Mitnichten: Scheinbar unisono wurden sie tätig: Der evangelische Fundamentalist Paul Rohrbach mit seinem „ethischen Imperialismus“ und der These von der Auserwähltheit der Deutschen zum Herrenvolk,7 die Historiker, nicht zuletzt die Germanisten, die die Bürde einer Wissenschaft, die sich der nationalen, heroischen Geschichtsschreibung verpflichtet fühlte, mit der Besetzung des Germanistenlehrstuhls 1871 im wieder eingedeutschten Straßburg mit Wilhelm Scherer fleißig angereichert hatte.

Doch unsere jüngsten Erfahrungen mit unserer eigenen Erinnerung lassen uns hoffen: Das Lesebuchkapitel der Geschichtsschreibung hat uns bestätigt: Sicher scheinende Deutungsmuster lassen sich aufbrechen, verschüttete Ereignisse ausgraben und strahlend polieren! Wir können innehalten und unsere Position bedenken. Vielleicht ist es gerade die deutsche Geschichte, die sich so global in das 20. Jahrhundert eingeschrieben hatte, die dazu herausfordert und die wir uns exemplarisch anschauen sollten!

Von 1914 zu 1919

Auf 1914 folgte 1919: Ein erbärmlicher Schützengraben- und Gaskrieg, in den z.B. 1917 Madagaskar, Nepal, Neufundland und zig weitere Feinde aufgerieben wurden, ließen zunehmend bange Fragen: Was ← 15 | 16 → soll der Irrsinn und was kommt danach? Obwohl die Waffen bereits im November 1918 schwiegen, wurde 1919 entscheidend. Dieses Jahr erwies sich, wohl oder übel, als eine historische Stunde null!

Für uns kann dieses Jahr aus heutiger Sicht zu einer Herausforderung werden, um einem weiteren Deutungsmuster an den Kragen zu gehen! Einen Ansatzpunkt haben wir vorgegeben: Nicht zuletzt der hohe Latenzzustand, mit dem sich dieses Jahr präsentiert, erlaubt es, aus heutiger Sicht Einsicht zu gewinnen in die mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verschütteten Quellen humanitären Denkens, an das Auf und Ab von Freiheit und Gerechtigkeit, die auch und erst recht zu unserer nationalen und damit auch europäischen Geschichte gehören. Gerade als Wissenschaftler, Humanwissenschaftler, sind wir hier an der richtigen Stelle!

Aber wer sind sie, die Humanwissenschaftler, wer hat hier das Sagen?

Die Historiker haben, trotz des cultural turn, der den einen oder anderen nachdenklich gemacht hat, einen Hang zur Deutungshoheit und so wird die Geschichtsschreibung – zumindest in der deutschen Forschung – nach wie vor vom Topos Zwischenkriegszeit geprägt. Der Erste Weltkrieg, so meint das Gros der Historiker, habe den Zweiten schon angelegt, die 12 Jahre der Weimarer Republik seien nur interessant unter dem Aspekt, wie diese unvermeidliche Direttissima ins Dritte Reich und den Untergang verlaufen sei. Ein beträchtlicher Teil der deutschen Identität wird damit ausgeblendet und fordert heute heraus: Es geht also um die produktive Wiederentdeckung einer genuinen nationalen, ja, transnationalen Kraft und grenzsprengenden Geschichte und Kulturgeschichte, auch den Anteil, den die Künste und ihre jeweilige Wissenschaftssparte darin haben und die Grundtugenden Freiheit und Gerechtigkeit, die wir ihnen da entdecken und sichern wollen, wo sie über Jahrzehnte hinweg keinen Stellenwert in der Geschichtsschreibung gehabt hatten.

Kreativität und hohe Motivation zeichneten dieses Jahr 1919 aus, so, als gelte es, mit schöpferischer Potenz, Visionen, Utopien, Denkbildern einen als gänzlich leer, ja, apokalyptisch belegten politischen und gesellschaftlichen Raum um 180 Grad zu drehen und ihm neuen Sinn zu geben. Das war eine Art metabasis eis allo genos, mehr als der ← 16 | 17 → Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit, die immer die Voraussetzung und immer die immanente Norm sein sollten!

Es waren auch nicht nur die politischen Entwürfe, die hier benennbar sind. Der Gleichzeitigkeit der Ereignisse und Abläufe entspricht eine bemerkenswerte Simultaneität, die sich in den Ästhetiktheorien der Zeit ebenso qualifiziert wie in den utopieversessenen konkreten Versöhnungsprojekten der Intellektuellen, Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftlern und der kulturaktiven Öffentlichkeit.

Dies alles wird in Qualität und Quantität sichtbarer, wenn wir ein Vergleichsfeld eröffnen zum zweiten Ereignis in diesem bellizistischen Jahrhundert: Der unmittelbaren Nachkriegsphase nach 1945, die allein wir bisher als die Stunde null zu bezeichnen pflegen! Beginnen wir mit einer Besichtigung des Jahres 1919.

1919 – ein Wimmelbild

Was erlebte der Zeitgenosse: Zurückdrängendes Militär und schlagkräftige Auseinandersetzungen im Straßenkampf, die Kunde von einem ins niederländische Haus Doorn zum Holzhacken entflohenen Kaiser, an mehreren Ecken und Balkonen verkündete Republiken, Extrapost am Morgen, Mittag und in Abendausgaben, Steckbriefe, Gerüchte. In toto: Eine im Nachklang des Schreckens hektisch agierende, doch zugleich lethargisch erstarrte Masse!

Das aber war nur die halbe Wahrheit, wie sich im Panoramablick auf die nicht minder vorhandene Aufbruchs-Topographie ausmachen lässt. Vor uns entfaltet sich eine Art Wimmelbild. Die seit Jahrzehnten erfolgreiche, von Ali Mitgutsch 1968 erdachte und gezeichnete Serie der Wimmelbücher lässt sich deshalb so sinnvoll als Denkbild auf das Jahr 1919 beziehen, weil die Vielfalt der Ereignisse, die sich auf den üppig bestückten Kinderbildern ausmachen lässt, scheinbar wahllos ist, sich aber dennoch durch eine innere Struktur und Kohärenz auszeichnet.8 ← 17 | 18 → Das trifft auch auf unseren Erkenntnisgegenstand zu: Wie ein warmer Segen an Herz, Verstand und Hoffnung hatten sich Visionen von einem zukünftigen Deutschland und Europa übers Land gelegt. Utopien, an die man glauben wollte!! Man kann es kaum in seiner Dynamik, ja, Dramatik überbewerten: Da platzte förmlich eine Bombe, ja, ein Mythos wurde umgeschrieben: 1919 bescherte eine Art umgewidmeter, nämlich positiv bestückter Büchse der Pandora, bei der die berühmte spes sola nicht drinnen blieb, sondern sich als allererste Botschafterin auf den Weg machte! Hier eine kleine Palette, die problemlos erweitert werden könnte.

Anarchismus

Unter den damaligen von Bakunins kollektivistischem bis zu Max Stirners Individual-Anarchismus reichenden Spektrum anarchistischer Grundeinstellungen hatte sich eine Art Bibel herausgemendelt: Kropotkins Schrift über die Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Übersetzt war sie von Gustav Landauer,9 der um die Jahrhundertwende (1900) im Londoner Exil mit dem russischen Fürsten befreundet war und seinem libertären Sozialismus damit eine geradezu franziskanische Würde verliehen hatte. In Künstlerkreisen wurde dieser humanitäre, spätaufklärerische Anarchismus zum Vorbild für Neue Gemeinschaften, die sich allerorten bildeten, etwa im Weimarer Bauhaus, aber auch im Kölner Kreis um die Galerie Nierendorf und Max Ernst und im Düsseldorfer Jungen Rheinland mit Otto Dix, Gert Wollheim, Jankel Adler, dem Schauspieler Gustaf Gründgens und Schriftstellern wie Herbert ← 18 | 19 → Eulenberg. Von hier aus gab es Netzwerke zu René Schickeles Züricher pazifistischem Europaverlag und zum Monte Verità.10

Rätebewegung

Landauer selbst hatte gerade seine Dramaturgenstelle am Reformtheater von Louise Dumont in Düsseldorf übernommen. Für Uraufführungen empfohlen hatte er dort die Protagonisten- und Verkündigungsdramen Georg Kaisers, also Expressionismus pur. Sein Weg in die Münchner Räterepublik, inspiriert von Emma Goldman ebenso wie von Eustache de Saint Pierre, dem Messias in Kaisers Drama Die Bürger von Calais, sollte der realisierte Traum einer direkten Demokratie und gewaltfreier Politik sein. Mit seiner Ermordung Anfang Mai 1919 blieb er ein Märtyrer, der weiter wirkte, bis sich über Kapp-Putsch, Inflation und Ruhrbesetzung die stärkeren realpolitischen Mächte durchgesetzt haben.

Spartakus

Märtyrer gab es auch in Berlin: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Luxemburgs Votum „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.11 Luxemburg sei heute hier und für alle Zeit als Metatext wieder einmal herausgestellt. Erinnert sei an den positiven Impuls, den der rote Sozialismus à la Sowjetunion in seinen geradezu unbefleckten Zeiten zu bewegen vermochte: Die Gleichzeitigkeit eines Revolutionsdenkens, das Hand in Hand ging mit der ästhetischen Avantgarde von Wassily Kandinsky, Wladimir Majakowski bis zu Anatoli Lunatscharski, von ← 19 | 20 → Futurismus und Dadaismus, in der Wissenschaft vom russischen Formalismus bis zum Strukturalismus.

Der kurze Traum von der Reintegration der europäischen Boheme in Gesellschaft und Politik wurde zerrieben. Doch noch Peter Weiß hatte ihn nachwirkend in den 1970er Jahren in seinem Drama Trotzki im Exil als Theaterutopie beschwört und belächelt, wenn er Lenin plus politische Entourage und die Dadaisten in Zürichs berühmter Spiegelgasse aufeinandertreffen lässt. Und es bliebe eine schöne Provokation, hier zu fragen, ob roter oder weißer Sozialismus, die uns diese Zeit der Weimarer Republik in Form von Amerika incl. Amerikanismus und der Sowjetunion beschert hatte, die menschenverachtendere Eliminierung von Freiheit und Gerechtigkeit waren – zumindest was die Initiationsphase anging!

USPD

Kurt Eisner. Der Chronist Victor Klemperer skizziert in seinem Tagebuch Man möchte immer weinen und lachen in einem12 die Situation in Leipzig, wo er gerade als junger Wissenschaftler erste Erfolge einheimst. Er bewegt sich zwischen Leipzig, Berlin, seiner geistigen Heimat, und München, seinem Wohnort hin und her. Überall das gleiche Chaos, aber auch mehr: Ganz Deutschland im Aufbruch, politische Pragmatiker mit Tiefgang von Rathenau bis zu Eisner, den Klemperer nicht minder wie den auf Erden wandelnden Messias zeichnet. Der Hoffnungsträger, Symbiose aus Schriftsteller und Politiker; ein Mensch, wie nach seiner Ermordung der USPD-Dichter Ernst Toller. Expressionisten im schwierigen Geschäft des Pazifismus! Auch Erich Mühsam gehört in diesen Kontext – obwohl es ihm schwer fiel, sich zwischen den politischen Lagern eine Heimat zu suchen! ← 20 | 21 →

Aktivismus

Zwei Versionen dieser politischen Sammlungsbewegung Intellektueller formierten sich: Heinrich Mann, mit dem Elsässer und einem eng mit der linksintellektuellen Szene in Frankreich liierten René Schickele schon 1914 im pazifistischen Bund Neues Vaterland neben Albert Einstein, Ernst Reuter, Kurt Eisner, Stefan Zweig und weiteren großen Europäern aktiv, will, inspiriert von den Zivilisationsliteraten Frankreichs – gegen die sein Bruder Thomas Mann gerade noch in dem opus magnum Betrachtungen eines Unpolitischen zu Felde gezogen war – seinen Appell Geist und Tat von 1910 Praxis werden lassen. Sein Ziel: eine Litterature Engagée und „geistige Politik“, geleitet von der Idee, „Liebe“, Menschenliebe, sei eine politische Kategorie!13

Ganz anders Kurt Hiller, jüdischer Intellektueller von großem Format. Er rekurriert auf Staatsideen Platons, beschwört ein Deutsches Herrenhaus. Seine Ziel-Jahrbücher proklamieren einen intellektuell begründeten Humanismus und Pazifismus. Hillers parallel zur Rätebewegung etablierte Räte geistiger Arbeit suchen nach einer Deutungshoheit in dieser schwierigen Zeit. Seine Vorstellungen und die des Aktivistenbundes, der in vielen Städten Ableger findet, vermischen sich mit Ideen einer Gelehrtenrepublik im Sinne Klopstocks, der auch Goethe und der größte Sturm und Drang Dichter, Jakob Reinhold Michael Lenz, als Idealmodell einer Geistpolitik folgten. Welch eine Vision, aber auch: welch eine Realität, wenn im Juni 1919 auf dem Gesamtdeutschen Aktivistenkongress in Berlin Zeitgenossen in Scharen zusammenkamen! ← 21 | 22 →

Paneuropäisches

Details

Seiten
376
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (PDF)
9783034331715
ISBN (ePUB)
9783034333221
ISBN (MOBI)
9783034333238
ISBN (Hardcover)
9783034331708
DOI
10.3726/b13214
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
freedom justice humanities philosophy history literature politics
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 376 pp., 1 fig. col., 5 fig. b/w, 1 tables

Biographische Angaben

Mira Miladinović Zalaznik (Band-Herausgeber:in) Dean Komel (Band-Herausgeber:in)

Mira Miladinović Zalaznik lehrte deutsche Literatur am Institut für Germanistik (Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana) und forscht am Institut Nova revija für Humanwissenschaften (Ljubljana, Slowenien). Dean Komel ist Professor für zeitgenössische Philosophie und Philosophie der Kultur an der Abteilung für Philosophie (Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana) und Leiter der Forschungsaktivitäten am Institut Nova revija für Humanwissenschaften (Ljubljana, Slowenien). Mira Miladinović Zalaznik taught German literature at the Institute for German Studies (Faculty of Arts, University of Ljubljana), and is a research fellow at the Institute Nova Revija for the Humanities (Ljubljana, Slovenia). Dean Komel is professor of contemporary philosophy and philosophy of culture at the Department of philosophy (Faculty of Arts, University of Ljubljana), and director of research activities at the Institute Nova Revija for the Humanities (Ljubljana, Slovenia).

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