Swiss Maid
Verborgene Kräfte und Schätze in der Erfolgsgeschichte der Schweiz
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Abbildungen
- Abkürzungen
- Danksagung
- Vorwort
- Einführung
- 1. Auf der Suche nach Frauen in der Schweizer Geschichte
- 2. Frauen und Religion – Im Dienste Gottes und des Volkes
- 3. Die Stärke und der Wert der Schweizer Hauswirtschaft
- 4. Die Arbeit der Frauen von Bauern und Handwerkern
- 5. Von der Mädchenausbildung zu Frauen in der Lehrtätigkeit
- 6. Frauenarbeit in der frühen Schweizer Industrie
- 7. Frauen im Dienst der Schweizer Armee – „Der Frauenhilfsdienst”
- 8. Frauenpolitik führte zu Frauen in der Politik
- 9. Krankenpflege, Fürsorge und das Wohl der Schweizer Nation
- 10. Frauenarbeit im modernen Dienstleistungssektor
- 11. Unternehmerinnen und weibliche CEOs
- 12. Zur feministischen Ökonomie
- Schlussfolgerung
- Anhang
- Literaturverzeichnis
- Index
Abbildungen
Buchumschlag: Jac Depczyk. Copyright 2017, 2019 by Jac Depczyk.
Vorwort
Abb. V.2: Mathilde und Hulda, 1944. Quelle: Copyright 2017 Familienbesitz der Autorin.
Kapitel 1: Geschichte
←xiii | xiv→Kapitel 2: Religion
Kapitel 3: Hauswirtschaft
Kapitel 4: Frauen von Bauern und Handwerkern
←xiv | xv→Kapitel 5: Mädchenausbildung
Kapitel 6: Arbeiterinnen/Industrie
Kapitel 7: Militär
←xv | xvi→Kapitel 8: Politik
Kapitel 9: Krankenpflege
Kapitel 10: Dienstleistungen
←xvi | xvii→Kapitel 11: Unternehmerinnen
Kapitel 12: Feministische Ökonomie
Abkürzungen
Danksagung
Dieses Buch mit dem Titel SWISS Maid Verborgene Kräfte und Schätze in der Erfolgsgeschichte der Schweiz ist nur entstanden, weil mir Bernadette Franklin das Buch SWISS MADE: THE UNTOLD STORY BEHIND SWITZERLAND’S SUCCESS (2013) von R. James Breiding geschenkt hatte. Danke, Bernadette, für die Inspiration die Frauen im Erfolgsmodell der Schweiz einzuschließen! Dank einem Faculty Research Fellowship der Eastern Michigan University, wo ich seit 1999 als Germanistik Professorin tätig war, konnte ich während des Wintersemesters 2016 in den folgenden Bibliotheken und Institutionen die nötigen Forschungsarbeiten machen: die Schweizerische Nationalbibliothek, das Schweizerische Literaturarchiv, das Schweizerische Bundesarchiv, die Bibliothek am Guisanplatz (Militärarchiv) und das Gosteli-Archiv in Bern; das Schweizer Wirtschaftsarchiv in Basel; das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich, das Schweizerische Nationalmuseum und die Frauenzentrale in Zürich; das Archiv für Frauen-, Gender- und Sozialgeschichte der Ostschweiz in St. Gallen, und die Bibliothek des Gastronomiemuseums in Thun. Die englische Ausgabe erschien 2017 mit dem Titel SWISS Maid THE UNTOLD STORY OF WOMEN’S CONTRIBUTIONS TO SWITZERLAND’S SUCESS.
Tief beeindruckt haben mich die Frauen, die mir die Klosterpforten geöffnet und mit mir so engagiert diskutiert haben. Es sind dies die Schwestern des ←xxi | xxii→Konvents St. Johann, Benedktinerinnenkloster in Müstair, die Schwestern des Klosters in Melchtal, die Schwestern des Dominikanerinnenklosters St. Katharina, Dominikanerinnenkloster in Wil und die Schwestern der evangelischen Ordensgemeinschaft der Diakonissen in Riehen. Ihr unerschütterlicher Glaube und ihr geschickter Geschäftssinn sind eine unvergleichbare Anregung! Danke, Frau Gilla Bloch und Frau Barbara Karasek vom Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenorganisationen für die freundlichen Erläuterungen und Einsichten. Danke, Prof. em. Dr. Ruth Meyer Schweizer und Adj Uof Chantal Sempach, dass sie sich spontan mit mir trafen und von ihren Erfahrungen im Schweizer Militär erzählten. Ich bin sehr dankbar für die Gelegenheit mich mit Claudia Eberle-Fröhlich, Daniella Trefny und Frau Rüdt über Frauen in der Schweizer Wirtschaft austauschen zu können. Frau Bieri vom Schweizerischen Bäuerinnen und Landfrauenverband vermittelte mir einen Einblick in die Situation der heutigen Bäuerinnen, und Verena Parzer-Epp von der Agentur Avenir Suisse unterhielt sich mit mir über vielseitige Pionierinnen in der Schweiz.
Ein ganz besonderes Dankeschön geht an meine Schweizer Freundin Renate Berendts—wir teilen eine über 65 Jahre alte Freundschaft—für die stete Versorgung mit interessanten Ausschnitten und Rezensionen aus Schweizer Zeitungen und Zeitschriften, die die Veränderungen der Geschlechterrollen in der Schweiz spiegeln. Renate organisierte ein Treffen mit Frauen des „Englisch-Höcks” in Affoltern a.A., sowie mit außerordentlich tüchtigen Frauen aus dem Rheintal. Ein großes Dankeschön gehört der Mutter von Renate, der liebenswürdigen Marianne Friedrich (sie feierte in 2019 ihren 96. Geburtstag), die mir einen ganz persönlichen Einblick in ihr Leben als junge Frau während des Zweiten Weltkrieges in Dresden und die Übersiedlung in den Nachkriegsjahren in die Schweiz bot. Die lebhaften Diskussionen mit einer Gruppe von Frauen in Mariannes Haus in Rebstein eröffneten mir viele Formen von Frauenarbeit. Danke an die Frauen, die die Fragebögen zur Frauenarbeit in der Schweiz ausgefüllt haben, und an die freundlichen Frauen und Männer, die in Zügen, Restaurants, Geschäften und in ihren Wohnungen mit mir gesprochen haben! Danke an alle, die mir ihre Erlaubnis gegeben haben, ihre Namen zu benutzen, sowie an Prof. em. Dr. Ruth Meyer Schweizer, Emil Straub, Brigitta Heeb, Carola und Renate Berendts, Sr. Liliane Juchli, Sr. Daniela und Sr. Chantal, Claudia Fröhlich und Gerhard Schwarz, die ausgewählte Kapitel durchgelesen und mir aufschlussreiches Feedback gegeben haben.
Ich bedanke mich bei der Stiftung Interfemina für die großzügige Unterstützung an die Publikationskosten der englischen Ausgabe. Ein riesiges Dankeschön geht an den genialen Illustrationskünstler Jac Depczyk, der das Cover-Bild für das Buch geschaffen hat. Jac, du drückst mit deinem Bild die Frauenarbeit viel treffender aus als alle Worte und Statistiken in diesem Buch!
Vorwort
Ein gesundes Mädchen namens Hulda wurde am 20. Dezember 1918 im schweizerischen St. Gallen als zweites Kind von Jakob Zellweger, einem 52-jährigen, armen Bauern aus dem Weiler Rotenwies bei Gais, AR, geboren. Seine Frau Mathilde, 24 Jahre jünger als er, wurde für die Geburt mit einem Pferdewagen, der eher einem Heuwagen als einer Kutsche glich, ins Krankenhaus in St. Gallen gebracht. Sie musste zuerst vom Hof aus durch den knietiefen Schnee zur Straße runter stapfen. In entfernten Krankenhäusern in der Stadt zu gebären war ein lebensrettender Fortschritt für Frauen und Babys in allen ländlichen und Bergregionen der Schweiz. Frauen hatten meist auf den Höfen mit Hilfe einer Hebamme oder oft auch allein geboren. Huldas Mutter, Mathilde Barth, geboren 1890 im Kanton Aargau, war ein Waisenkind. Ihre Mutter verbrannte, weil sie mit Petrol das Feuer im Herd anzünden wollte. Als ihre langen Röcke Feuer fingen, rannte sie in Panik nach draußen, wo der Wind sie in eine brennende Fackel verwandelte. Ihr Ehemann gab sich in seiner Trauer dem Alkohol hin und starb einige Jahre später. Das einzige Kind, Mathilde, wurde ein „Verdingkind”.1 Sie lebte in den folgenden Jahren bei acht verschiedenen Familien. Bei jeder musste sie im Haus und Stall und auf dem Feld arbeiten und sich um die kleinen Kinder kümmern. Aber glücklicherweise konnte Mathilde die Schule besuchen, die seit 1887 endlich auch für Mädchen in der ganzen ←xxiii | xxiv→Schweiz obligatorisch und kostenlos war. Die Schule war Mathildes Fluchtort. Die Mädchen wurden geschlechtsspezifisch auch in Handarbeit ausgebildet. Als sie etwa 19 Jahre alt war, lud ihre tüchtige Tante Verena Willi-Barth sie nach St. Gallen ein. Die Tante betrieb eine Pension in ihrem großen Haus. Am Morgen und Abend half Mathilde beim Kochen der Mahlzeiten für Pensionäre. Sie putzte die Zimmer und sie nähte zusammen mit der Tante alles, was im Haus gebraucht wurde. Sie durfte sich zusätzlich in der St. Galler Frauenhandarbeitsschule weiterbilden. Schließlich bekam sie eine Stelle in der 1759 gegründeten Textilfabrik „Union Fabrik.”2 Weil Mathilde eine sehr schöne Handschrift hatte, war es ihre Aufgabe Etiketten für Stoffmuster und allerlei Waren zu beschriften. Dabei sah sie auch die modischen Entwürfe und nähte bald so schöne Kleider für ihre Tante und für sich selbst, wie sie auf den Zeichnungen der Union AG sah. Ihre Kreativität gab ihr ein Gefühl von Leistung und Stolz. Die beiden Frauen hegten eine besondere Verbindung, die in einem verblichenen Foto deutlich zu erkennen ist. Obwohl Mathilde arm war, trug sie jetzt ein weißes Stickereikleid, genau wie es die damalige Mode für Damen der oberen Gesellschaft war. Mathildes lockiges Haar ist auf dem Foto kunstvoll aufgesteckt und sie hat ein liebliches, etwas zurückhaltendes Lächeln, ähnlich wie die Mona Lisa. Ihre Tante sitzt auf dem Foto in einem ebenso modischen, aber schwarzen Kleid neben Mathilde und schaut sie liebevoll an. Dann war Mathilde im Sommer einige Tage zu Besuch bei Verwandten im Appenzellerischen Rotenwies. Als sich ein Gewitter mit dunkeln Wolken vom Säntis her ankündigte, schickten sie Mathilde zum benachbarten Bauernhof eines älteren Junggesellen um ihm zu helfen das Heu einzubringen, bevor der Regen das spärlich wachsende Futter verderben konnte. Der Sturm schien auch menschliche Emotionen ausgelöst zu haben, denn bald gab es eine Hochzeit. Natürlich nähte Mathilde ihr schwarzes Brautkleid sowie auch die Wäscheaussteuer mit Hilfe ihrer Tante.
Abb. V.1: Mathilde Barth und Jakob Zellweger an ihrem Hochzeitstag, 4. April 1916.
Quelle: Copyright 2017 Familienbesitz der Autorin.
Ein Jahr später nähte und strickte Mathilde die schönsten Babysachen für ihr erstes Kind Hans-Jakob, benannt nach seinem Vater, und sie richtete eine praktische, gemütliche Kinderstube ein. Der Stall mit ein paar Schafen oder Ziegen, wertvollen Hühnern und einigen Kühen und Kälbern war unter dem gleichen Dach wie die Wohnräume im typischen, dreistöckigen Appenzeller Bauernhaus mit niedrigen Holzdecken und einer Reihe kleiner Fenster mit einzigartigen Fensterläden. Jedes Zimmer bot einen herrlichen Blick auf das Gebirge und den markanten Säntis. Mathilde verstand es aus Stoffresten von der Union AG und alten Kleidern von ihrer Tante adrette Kinderkleider zu nähen. Jedes Stück schmückte sie mit kunstvollen Stickereien, als wollte sie einen kleinen Prinzen einkleiden. Ein Jahr später wurde die Tochter Hulda geboren. Die kleinen Kinder sehen gut genährt und glücklich auf Fotografien aus. Die liebevolle, junge Mutter tat alles ←xxv | xxvi→für das Wohl ihrer geliebten Kinder und sorgte—trotz Armut—mit Mut und Freude für Haus und Hof. Sie entwarf und nähte nicht nur niedliche Kleidchen, sie fertigte auch kunstvolles Spielzeug aus Naturmaterialien aus dem Wald an. Für den kalten Winter strickte sie warme Jacken, Socken, Mützen und Handschuhe. Ebenfalls war sie eine Zauberin in der Küche, wenn sie aus den wenigen Ressourcen vom Hof schmackhafte und gesunde Gerichte kochte. Dank Mathildes Kreativität blühte das verwahrloste, hochverschuldete Haus wieder auf, das der eigenwillige Junggeselle über Jahrzehnte alleine recht oder schlecht geführt hatte. Nur wenn ihr Mann ein Kälbchen verkaufen konnte oder eines selbst geschlachtet hatte, kam etwas Geld herein. Schon bald wurde die kleine Hulda ausgeschickt, das Fleisch und die Butter in der Nachbarschaft zu verkaufen. Mit dem Geld rannte sie zum kleinen Lebensmittelgeschäft um Mehl, Reis und Zucker zu kaufen. Diese Notwendigkeiten wurden jedoch häufig vom gutmütigen Lebensmittelhändler dem Kontoheftchen der Familie belastet. Hulda machte auch Besorgungen für Verwandte und Nachbaren. Damit verdiente sie sich ein paar Rappen, die sie fleißig für den Herbstjahrmarkt in Gais, dem nahe gelegenen Dorf, sparte. Dieser jährliche Markt war immer Höhepunkt im abgeschiedenen Leben Huldas, denn sie liebte das Karussell und die Bootsschaukel; „meine liebsten Vergnügungen” schrieb sie in ihren biographischen Skizzen. Hulda erinnert sich in diesen Geschichten, dass sie nie auf Vaters Schoß saß oder von ihm gehalten oder umarmt worden war. Im Gegensatz zu ihm war ihre Mutter voll zärtlicher Liebe und Wärme. Eng umschlungen saß sie mit ihren beiden Kindern auf dem Stubensofa und erzählte ihnen Geschichten oder las ihnen aus den wenigen Bilderbüchern vor, welche die Kinder von ihren Paten erhalten hatten. Aber Vater gewährte Hulda im Stall und zeigte ihr die neugeborenen Kälbchen und Schäflein, die oft mit einer Flasche aufgezogen werden mussten. Sie half ihrem Vater bei Stallarbeiten und beim Melken und Heuen, während ihr Bruder Hans-Jakob lieber bei der Mutter in der Küche saß und las. Beide Kinder besuchten die Primarschule in Rotenwies, in der der strenge Herr Schlegel in einem einzigen Zimmer seine Schüler unterrichtete, die vierte bis sechste Klasse am Morgen und die Schüler der ersten bis dritten Klasse am Nachmittag. Als Hulda in die Schule kam, war sie eine von drei Erstklässlern. Sie wuchs schnell und war oft kränklich. Sie war das größte Mädchen auf Schulfotos. Ihr langes, braunes Haare war zu dicken Zöpfen geflochten und sie trug eine runde Brille mit dicken Gläsern. Sie war nicht nur geschickt in der Handarbeitsklasse, weil ihre Mutter ihr schon das Stricken, Häkeln, Sticken und Nähen beigebracht hatte, sie war in allen Fächern sehr begabt. Sie liebte den Grammatikunterricht und schrieb bald die besten Aufsätze in der alten, deutschen Sütterlin-Schrift. Die Pflege dieser Schrift war ←xxvi | xxvii→eine lebenslange Leidenschaft von Hulda. Bis ins hohe Alter von 93 Jahren war sie Mitglied eines Sütterlin Korrespondenz Vereins, der das Briefeschreiben in alter deutscher Schrift kultivierte. Hulda schrieb jährlich mehr als 150 Briefe. In einfacher, aber humorvollen Sprache schrieb sie im Altersheim die Erinnerungen an ihre Kindheit in ein blaues Notizheft: wie sie das Schwimmen im Dorfbach erlernte, Schulausflüge in die Berge, lokale Volkstraditionen wie die Kühe mit dem Vater auf die Alp bringen, und über die bescheidenen Weihnachtsfeiern der Familie im tief verschneiten Rotenwies. Auf dem Titelblatt schrieb Hulda „Jugenderinnerungen”. Eine Zeitschrift für Senioren, der Hulda einige ihrer Texte schickte, veröffentlichte eine Geschichte, die beschreibt wie es ihr erging, als sie ihren Bruder in der Stadt verloren hatte. Die Mutter schickte Bruder und Schwester für ein Porträt zum einem Fotographen nach St. Gallen. Nach dem Erlebnis im Studio gingen die Beiden zum Jahrmarkt, und bald sah Hulda ihren Bruder nicht mehr in der Menschenmenge. Schließlich brachte jemand das verlorene Mädchen zur Polizeistation, wo ihr Bruder sie einige Stunden später abholen konnte. Sie kamen sehr spät in der Nacht nach Hause. Die tief beunruhigte Mutter war so froh, ihre Kinder zu sehen, dass sie nicht bestraft wurden. Hulda hatte das ganze Erlebnis als sehr aufregend empfunden und nie Angst gehabt, vielmehr hatte sie es genossen, in der belebten Polizeistation im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
In der Schule war Hulda ebenso gut wie ihr Bruder Hans-Jakob, auch im Rechnen. Er durfte nach sechs Jahren Primarschule die Sekundarschule in Gais besuchen. Das ermöglichte ihm dann eine kaufmännische Lehre und schlussendlich eine erfolgreiche Karriere im internationalen Handel. Hulda träumte davon, Handarbeitsschullehrerin zu werden, da sie ja mit Nadel und Faden genau so talentiert war wie ihre Mutter. Sie nähte nicht nur ihre Kleider, sondern auch ihre Unterwäsche aus weißem Baumwollstoff und häkelte filigrane Spitzen um die Säume. Die Stickerei Industrie war seit dem 19. Jahrhundert die wichtigste Industrie in der Gegend. Auch heute noch beliefern St. Galler Stickerei-Unternehmen die Top-Luxus-Modehäuser in Paris, London und New York.3 Im Handel braucht man Französisch und Englisch und das Erlernen von Sprachen gehört zu den Pflichtfächern in der Sekundarschule. Hans-Jakob prahlte mit französischen Wörtern und Sätzen vor seiner Schwester, und sie ließ sich beeindrucken. Er sagte ihr, sie wäre nie fähig Französisch zu lernen, was natürlich nicht stimmte, aber seine Worte schüchterten sie ein. Ihr Selbstwertgefühl erlitt einen Riss und sie akzeptierte ihre weibliche Unterlegenheit, was zu dieser Zeit die soziale Norm war. Seine abwertenden Bemerkungen und die Not der Familie während den Krisenjahren hatten weitere negative Auswirkungen auf ihre Berufsträume. Sie durfte als Mädchen eines armen Bauers nicht in die Sekundarschule. Sie musste nach ←xxvii | xxviii→acht Jahren die Schule abschließen und ihren Lebensunterhalt verdienen. Zum zweiten Mal wurde ihr energisches Selbstbewusstsein gebrochen. Später in ihrem Leben bedauerte sie immer wieder, dass es damals keine Berufsberatung gab, um jungen Menschen zu helfen, einen Beruf nach ihrer Eignung zu wählen. Ihr Potenzial hätte sicher erkannt werden können. Ohne ihr Wissen fragten Huldas Eltern eine Nachbarin, die in der einzigen örtlichen Stickereifabrik arbeitete, ob Hulda auch dort arbeiten könne. „So musste ich wohl oder übel gehen”, schrieb sie in ihren Jugenderinnerungen. Zu ihrer Erleichterung aber nur morgens, da die Arbeit knapp war und viele Leute einen Erwerb in Fabriken suchten. Ihre Aufgabe in der Stickerei war es, gestickte Muster auszuschneiden und auf Papierkarten zu kleben. Zuerst verdiente sie 25 Rappen, später 32 Rappen in der Stunde, weil sie so schnell und tüchtig war. Huldas Schicksal änderte sich, als Frau Lörtscher, eine verwitwete Nachbarin, ihr sagte, sie könne eine Haushaltslehre im Haus des Doktors in Zweibrücken, ein Vorort von Gais, beginnen. Die Hauswirtschaftsausbildung war typisch für Mädchen der unteren sozialen Klassen. Es war ein Weg, der für Hulda durch die soziale Stellung ihrer Familie und ihrer minimalen Schulbildung prädestiniert war. Ihr Vater war alt und krank und die Familie hatte keine Krankenversicherung. Damals gab es noch keine Alters- und Hinterlassenen Versicherung (AHV) und Sozialleistungen. Für Hulda, die fürs Leben gerne auf eine weiterführende Schule gegangen wäre, um Handarbeitsschullehrerin zu werden, gab es keine Stipendien. Dabei waren Handarbeitschullehrerinnen gesucht, weil Handarbeit für alle Mädchen auf allen Schulstufen im Schweizer Schulsystem obligatorisch war. Hulda wäre eine hervorragende Lehrerin geworden, weil sie intelligent und kreativ war. Sie war die beste Schülerin in Handarbeit, sie konnte fehlerlos schreiben und das Rechnen fiel ihr leicht. Hulda war ihr ganzes Leben lang stolz auf ihre guten Noten während den acht Jahren in der Schule. Sie bewahrte ihre ausgezeichneten Zeugnisse und die meisten ihrer Übungsstücke aus der Handarbeitsschule sentimental auf. Sie sammelte noch mehr Stücke, die sie genäht hatte und die ihre feinen Näh- und Strickfertigkeiten beweisen. Sie hatte sogar ihre eigene Appenzeller Tracht genäht und schließlich auch ihre Aussteuer. Die Bettwäsche und Handtücher sind mit dem kunstvoll gestickten Monogramm „H.Z.” verziert.
Froh, die langweilige Fabrikarbeit verlassen können, begann Hulda im Alter von 15 Jahren am 1. Juli 1933 im herrschaftlichen Haus des angesehenen Doktors mit Begeisterung die Haushaltlehre. Sie hatte Glück in einem so prominenten Haus ihre Ausbildung zu erhalten. Obwohl sie zuerst Heimweh hatte und ihre Familie und die Tiere vermisste, liebte sie ihre neue Umgebung. Jeden Sonntag hatte sie frei und sie durfte zu Fuß nach Hause gehen, zum geliebten Bauernhof ←xxviii | xxix→in Rotenwies. Aber um halb sechs musste sie wieder zurück sein, um das Abendessen im Haus des Doktors vorzubereiten. Die Familie behandelte sie gut und mit Respekt. „Frau Doktor”, die Tochter einer wohlhabenden Familie, hatte das Gymnasium besucht. Im Alter von 20 Jahren heiratete sie einen jungen Arzt und wurde eine bürgerliche Hausfrau mit zusätzlichen Aufgaben in der Arztpraxis. Sie schenkte Hulda ihre alten Kleider und Seidenstrümpfe. Das war ein Luxus, den Hulda noch nie gesehen hatte. Frau Doktor kannte die familiären Umstände von Hulda. Sie war so freundlich, dass sie Huldas schwarzes Konfirmationskleid von der Näherin, die wöchentlich alle Näh- und Flickarbeiten im Haus erledigte, nähen ließ; natürlich mit Huldas Mithilfe. Hulda wurde im Frühjahr 1934 in der protestantischen Kirche von Gais konfirmiert. Ein Meilenstein für Hulda.
Die beiden Kinder im Doktorhaus, ungefähr gleich alt wie Hulda, mussten beim Abtrocknen des Geschirrs helfen, die einzige Pflicht, die sie im Haushalt hatten. Hulda blieb ihr Leben lang mit ihnen in Kontakt. Der Junge wurde ebenfalls Arzt wie sein Vater. Die Tochter absolvierte das traditionelle „Welschlandjahr” in einem Internat für die Oberschicht. Danach machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Alle Frauen, die Hulda bis anhin kannte, waren in einer dienenden Position. Ihre weiblichen Vorbilder dienten den Ehemännern, den Familien, den Kranken und jenen, die weibliche Fähigkeiten benötigten. Alle Frauen haben für das Wohl der anderen gearbeitet, wenig oder unbezahlt. Es war die Norm und wurde nicht in Frage gestellt. Hulda bestand die kantonale Haushaltslehrprüfung in Herisau mit besten Noten. Sie blieb noch zwei Jahre bei der Familie des Doktors als sehr engagierte Haushaltsangestellte. Sie war sehr stolz auf diese Position und auf die Tatsache, dass sie die einzige im Hause war, die die neue elektrische Nähmaschine bedienen konnte.
Details
- Seiten
- L, 456
- Erscheinungsjahr
- 2021
- ISBN (PDF)
- 9781433156779
- ISBN (ePUB)
- 9781433156786
- ISBN (MOBI)
- 9781433156793
- ISBN (Hardcover)
- 9781433156762
- DOI
- 10.3726/b13647
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2021 (Juni)
- Erschienen
- New York, Bern, Berlin, Bruxelles, Oxford, Wien, 2021. L, 456 pp., 32 b/w ill.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG