#Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden
Band 1
Zusammenfassung
Die Beiträge des Bandes beleuchten das Potential literarischen Engagements sowohl unter den neuen Konditionen digitaler Streuung samt ihrer Echoeffekte als auch hinsichtlich medialer wie literarischer Felder, deren Ausgestaltung bis in die deutsche Geschichte – insbesondere der Shoah – zurückreicht. In beiderlei Hinsicht werden narrative Strategien aufgedeckt, die eine Artikulationsvielfalt des Politischen veranschaulichen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- #Literarisches_Engagement. Vom politischen Durchbuchstabieren zum medialen Streufeld
- Politik der Gefühle reloaded
- Adornos Begriff des Engagements auf dem Prüfstand
- „Enge der Heimat ist nichts für mich“: eine neue Generation der österreichischen Literatur oder der Einzelfall Kathrin Röggla?
- Engagierte als Richtige Literatur im Falschen? Die Schriftsteller-Tagungen im Literaturforum im Brecht-Haus 2015 und 2016
- Engagement für die Gegenwart als Erzählen von der Vergangenheit – deutschsprachige jüdische Literatur nach 1989
- Engagiert von der Flüchtlingskrise erzählen? Carlos Peter Reinelt: Willkommen und Abschied 2016
- Politische ‚Frauendramatik‘ aus der Schweiz? ‚Erinnerte Zukunft‘ in Theatertexten von Darja Stocker
- Terror(ismus), Theater und Tribunal: Ferdinand von Schirachs Terror und Joël Pommerats La Révolution #1 – Wir schaffen das schon
- Engagement und Tendenz. Kroetz’ Dramatik nach 1990
- „Warum vergiften Sie diese Menschen nicht?“ Zur Thematisierung von Euthanasie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
- Autor*innenverzeichnis
Gudrun Heidemann
#Literarisches_Engagement. Vom politischen Durchbuchstabieren zum medialen Streufeld
Abstract: Anhand einiger Werke von Günter Grass wird ein Paradebeispiel für das Verschwimmen der Grenzen zwischen Politik und Dichtung ausgemacht. Im digitalen Zeitalter kommt für die engagierte Literatur erschwerend hinzu, dass sie angesichts ebenso zahlreicher wie sich blitzschnell verbreitender politischer Äußerungen im Netz besonders verlangsamt erscheint. Über den (möglichen) Umgang damit wie mit weiteren einschneidenden Veränderungen im Literaturbetrieb wird im Zeitungsfeuilleton wie in den (a)sozialen Netzwerken seit einigen Jahren lebhaft diskutiert.
Keywords: Engagement, Günter Grass, Wende 1989, digitale Medien
„Das immerhin leistet die Literatur: Sie schaut nicht weg, sie vergisst nicht, sie bricht das Schweigen“,1 bemerkte Günter Grass 2000, nachdem er im Jahr zuvor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war. Spätestens seit dieser Würdigung zählt der Literat zu den bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Seitdem sich Grass als Schriftsteller etablierte, engagierte er sich in seinen literarischen Werken politisch – etwa in dem Erstling seiner Danziger Trilogie Die Blechtrommel von 1959, worin Oskar Mazerath nicht nur als Wachstumsverweigerer rebelliert wie kollaboriert. Seine Prominenz verschaffte Grass auch Zutritt auf die politische Bühne, er setze sich für SPD-Spitzenkandidaten – von Willy Brandt über Björn Engholm bis zu Gerhard Schröder – und für deren Programme – wenn auch nicht völlig kritiklos – ein, bis er 1993 aus Protest gegen die Asylpolitik aus der Partei austrat. Wenn es im letzten Vers seines Wahlgedichts Gesamtdeutscher Herbst von 1965 ohne Umschweife heißt „ich rat Euch, Es-Pe-De zu wählen!“2, so haben wir es hier nicht nur mit einem parteipolitischen Bekenntnis zu tun, sondern ebenso mit einem literarischen – mehr noch, mit dem Appell verschwimmen die Grenzen zwischen Dichtung und Politik.
←7 | 8→Während Oskar aus Die Blechtrommel das von der jungen Bundesrepublik weitgehend verdrängte Kriegsgeschehen und die nationalsozialistischen Gräueltaten teils buchstäblich hinausschreit, setzte sich sein Erschaffer für die Ostpolitik von Willy Brandt ein.3 Wie eng Grass mit dem späteren Bundeskanzler verbunden war, wird etwa in Aus dem Tagebuch einer Schnecke4 von 1972 deutlich, worin ein Ich-Erzähler anhand des Schneckentempos versucht, Kindern zu veranschaulichen, wie mühselig der Fortschritt in Deutschland zu erlangen ist. Das Buch beginnt 1969 mit der Ära Brandt, sein Inhalt ist fiktiv, auch wenn es sich an tatsächlichen Ereignissen orientiert. Wenn der Autor die Langsamkeit in der Politik poetisiert, so inszeniert er sich hier teils als kritischer Hofdichter. In dem Tagebuch von 1990, das 2009 als Unterwegs von Deutschland nach Deutschland publiziert wurde, gewährt Grass unter anderem Einblicke in sein politisches Denken und dessen Auswirkungen auf sein literarisches Schreiben. Wie oft in solchen Fällen maskiert sich der Autor in dem Text ebenso als Literat wie als teils scharfer Kritiker der politischen Situation ein Jahr nach der Einheit, aber auch als mal kochende, mal gärtnernde Privatperson und in zahlreichen weiteren Nuancen.
Korrespondenzen zwischen literarischen Konstrukten und politischer Realität resp. nichtfiktive Reflexionen darüber lassen sich bei Grass vielfach ausmachen. In dem umstrittenen, kontrovers diskutierten und von Marcel Reich-Ranicki verrissenen Roman Ein weites Feld von 1995 etwa wird der längst erfolgten deutschen Wiedervereinigung widersprochen. Vierzehn Jahre später stellte der Autor selbst in einem Zeit-Interview fest: „Die Einigung hat bis heute nicht stattgefunden, die Einheit ist vollzogen, steht aber nur auf dem Papier.“5 Dass zu solchen Parallelen auch und gerade im fortgeschrittenen Medienzeitalter ein öffentlichkeitswirksames Kalkül gehört,6 zeigte sich 2006, als die Kriegsvergangenheit von Grass zu einem explosiven Erzählstoff wurde. Kurz bevor das die eigene Kindheit, den Krieg und die Anfänge im Nachkriegsdeutschland behandelnde Werk Beim Häuten der Zwiebel7 erschien, offenbarte der 1927 geborene Verfasser, von ←8 | 9→dem bisher weitgehend angenommen wurde, dass er wie unzählige Altersgenossen in der Wehrmacht diente, in einem FAZ-Interview seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Bezeichnenderweise begründet Grass diese Enthüllung literarisch:
Ich mußte eine Form für dieses Buch finden, das war das Schwierigste daran. Es ist ja eine Binsenwahrheit, daß unsere Erinnerungen, unsere Selbstbilder trügerisch sein können und es oft auch sind. Wir beschönigen, dramatisieren, lassen Erlebnisse zur Anekdote zusammenschnurren. Und all das, also auch das Fragwürdige, das alle literarischen Erinnerungen aufweisen, wollte ich schon in der Form durchscheinen und anklingen lassen. Deshalb die Zwiebel. Beim Enthäuten der Zwiebel, also beim Schreiben, wird Haut für Haut, Satz um Satz etwas deutlich und ablesbar, da wird Verschollenes wieder lebendig.8
Dass diese Einsicht heftige Reaktionen – von der Verlogenheit einer 60-jährigen Verspätung bis zum Respekt vor dem späten Selbstbekenntnis – auslöste, hat sich längst in die jüngere deutsche (Literatur)Geschichte eingeschrieben. Als Politikum gehören hierzu auch die Andeutungen eines möglicherweise gemeinsamen Lageraufenthalts mit Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Empört fragte die Zeit-Journalistin Evelyn Finger in ihrem Artikel Geständnis-Event nicht nach den von Grass vorgegebenen Gründen für die späte ‚Beichte‘, sondern nach denjenigen für das lange Schweigen.9 In Beim Häuten der Zwiebel wiederum bleibt offen, „wer wem was in den Mund gelegt hat, wer genauer lügt, [die fiktive Figur; G.H.] Oskar oder ich, wem man am Ende glauben soll, was hier wie da fehlt und wer wem die Feder geführt hat.“10
Als überaus umstritten ist das politische Gedicht Was gesagt werden muss, im April 2012 in der Süddeutschen Zeitung, in der italienischen Tageszeitung La Repubblica und der spanischen El País veröffentlicht, gleichfalls bereits in die (Literatur)Geschichte eingegangen. Dies gilt vor allem für die Debatten darüber, wie das poetisch anklagende oder aufrufende lyrische Ich zu verstehen ist – warnt es vor einer politischen Eskalation, steht es angesichts der Vergangenheit des Verfassers mit sich selbst als Kritiker in Konflikt usf.
Der Fall Günter Grass wird hier deshalb exemplarisch rekapituliert, weil der Autor mit seiner Danziger Herkunft, worauf unter anderem die Triologie – Die ←9 | 10→Blechtrommel (1959), Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963) – zurückgeht, als deutschsprachiges Paradebeispiel für einen Schriftsteller gilt, dessen dezidierte politische Ansichten sich nicht nur in der Presse, sondern auch literarisch niederschlagen. Hierdurch verwischen allerdings häufig die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, was den Autor ebenso schützt wie angreifbar macht.11 Wie Harro Zimmermann resümiert, lernte
die bundesdeutsche Republik […] [w];ie mit keinem anderen Autor mit Günter Grass das politische Buchstabieren. Zugleich stieg Grass im Kanon der Weltliteratur zur Berühmtheit auf. Nur eine Ikone wie er vermochte über Jahrzehnte die geschichtspolitischen ebenso wie die aktuellen Debatten so glaubhaft wie skandalumwittert zu schüren.12
Vor allem Letztgenanntes provozierte nur wenige Wochen nach Was gesagt werden muss die Verspottung eines weiteren Politgedichts von Grass unter den Bedingungen neuer medialer Mitteilungsmöglichkeiten und deren Vernetzung. Im Mai 2012 erschien das politische Griechenland-Gedicht Europas Schande online und unter anderem in der Süddeutschen Zeitung. Grass trug die Verse zudem im Radio Bremen vor. Der Literaturkritiker Volker Weidermann behauptete in Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass das Satiremagazin Titanic und nicht Grass selbst Urheber des Gedichts sei.13 Diese Satire wurde in diversen Internetforen wie Twitter nicht als solche erkannt, bis die Süddeutsche Zeitung gleichfalls online klärte, dass es sich durchaus um Verse von Grass handelt. Am Ende dieser Medienfarce kursierten zahlreiche spöttische Nachdichtungen in unterschiedlichen Internetforen. Markiert ist damit nicht nur der Übergang ins digitale Zeitalter, sondern auch und vor allem die hiermit einhergehende Beschleunigung möglicher Reaktionen auf literarisierte Kritik an politischen Ereignissen. Das ‚politische Buchstabieren‘ ist vom papiernen Schwarz auf Weiß zu weniger verlässlichen digitalen Posts übergegangen und unterliegt damit vollends neuen Konditionen. Mit dem Wechsel der Datenträger veränderten sich allmählich auch die literarischen Potentiale politischen Engagements, da nicht nur die Verbreitung von Nachrichten, Positionen und Debatten im digitalen Zeitalter erheblich beschleunigt wurde, sondern sich im weltweiten Netz auch ←10 | 11→die Möglichkeiten von Meinungsäußerungen zu einem unkontrollierbaren Kreis von Verfasserinnen und Verfassern ausweiteten. Zudem erweisen sich im Zeitalter von Fake News, Hate Speech und Trollen die sogenannten sozialen Netzwerke als zunehmend asozial, denn in der auf das schnelle Eintippen und Posten beschränkten Kommunikation fallen Hemmungen, was die Schnelligkeit des digitalen Mediums befördert, und Algorithmen verpassen Hassreden einen vermeintlich von der breiten Masse geteilten Echoeffekt.
Dass es sich bei der Literatur um ein Medium unter vollends anderen Produktions- und Rezeptionsbedingungen handelt, wirkt sich teils wesentlich auf das engagierte Schreiben und Erzählen aus. Naturgemäß sind es keine spontanen Äußerungen, sondern vielmehr umfangreiche Narrative, die derzeit vor allem über die Krisen in Europa und andernorts sowie deren Eindringen in unterschiedliche Lebenswelten handeln. Dem literarischen Engagement wies Sartre bereits nach dem II. Weltkrieg vor allem einen Appell-Charakter zu, denn „Schreiben heißt an den Leser appellieren, dass er die Enthüllung, die ich mittels der Sprache unternommen habe, zur objektiven Existenz übergehen lasse.“14 Dem fügt Adorno später kritisch hinzu, dass engagierte Literatur „nicht Maßnahmen, gesetzgeberische Akte, praktische Veranstaltungen herbeiführen [will] wie ältere Tendenzstücke gegen die Syphilis, das Duell, den Abtreibungsparagraphen oder die Zwangserziehungsheime, sondern auf eine Haltung [hinarbeitet].“15 Manfred Frank wendet aus poststrukturalistischer Perspektive schließlich ein, dass „jene Art von Kommunikationstheorie, die darauf setzt, dass ein regelkonform enkodierter Inhalt von einem Sprecher gleicher Kompetenz auf exakt die gleiche Weise dekodiert werden müsse“,16 längst obsolet ist. Exemplarisch zeugen diese inzwischen literaturhistorischen Standpunkte von der Brisanz engagierter Schreibpotentiale, die in der Postmoderne von der Massen- resp. Popkultur teils erschüttert, teils befördert wurden und nach der Wende von 1989 unter ideologischen Verdacht gerieten.17 Angesichts der enormen digitalen Vernetzung, die ←11 | 12→den Informationsfluss im Radius wie in seiner Aktualität beträchtlich erhöhen,18 und gesellschaftlich einschneidender Krisen erweist sich gerade die engagierte Literatur zwischenzeitlich verstärkt als ‚verlangsamtes‘ Medium, wird oft als verspätet wahrgenommen.
Eine fünfjährige Verspätung attestiert Heribert Tommek daher im gleichnamigen Sammelband dem Wendejahr 1995 literarischen Werken mit eben diesem Erscheinungsjahr, die in den Kanon eingegangen sind.19 Dazu gehört unter anderem Thomas Brussigs Schelmenroman Helden wie wir, der schon ein Jahr später auf die Bühne und 1999 auf die Kinoleinwand kam. Satirisch beansprucht der Ich-Erzähler darin, mit seinem ‚Pimmel‘ für den Mauerfall verantwortlich zu sein.20 Neben diesem Wenderoman, der die sozialistische Entwicklung des interviewten Helden überspitzt dokumentiert, zählt zu den ‚verspäteten‘ Wendewerken auch der bereits erwähnte Roman Ein weites Feld von Grass, worin die urteilsfreie Ich-Perspektive eines namenlosen Potsdamer Archivars eingenommen wird. Hinzu kommt neben prosaischen wie lyrischen Texten weiterer Autorinnen und Autoren Christian Krachts Debütroman Faserland.21 Schon dass hierin ein gleichfalls namenloser Ich-Erzähler von Sylt über Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und Meerburg nach Zürich reist und damit das Terrain der alten Bundesrepublik von Norden in den Süden ‚erfährt‘, mag der ←12 | 13→Zuordnung zur deutsch-deutschen Wendethematik widersprechen. Zugleich klingt bereits in dem Titel das englische ‚fatherland‘ ebenso an wie die Fasern von Textilien, mit denen sich die schnöseligen Protagonisten in einem elitären Markenwahn einkleiden. Zudem wurde der Text – lateinisch ‚textus‘ – aus unterschiedlichen Erzählfäden zusammengesponnen. Auch lässt sich die eigenwillige Durchquerung des vermeintlichen Vaterlands ebenso als Politikum eines Konsumbesessenen mit eigenwilligen Kindheitserinnerungen und obsessiven Reflexen zum Nationalsozialismus lesen wie als popliterarischer Reisetext in Anlehnung an die Beat-Literatur, wobei der Ich-Erzähler eine ambivalente Figur zwischen ironischem Dandy und abstoßendem Schnösel bleibt. Seine Gedächtnislücken nach diversem Alkohol- und Drogenkonsum begründen zwar einige Auslassungen, jedoch zerfasert der Erzählfaden auch ansonsten beim Fort- oder Weiterfahren. Es soll hier nicht um die Frage nach der Rolle von Faserland als Vorreiter einer neuen Deutschen Popliteratur gehen, was andernorts längst verhandelt wurde,22 sondern um die Halbwertszeit der politischen Aktualität, die dem ‚Sofort‘ und ‚Jetzt‘ der digitalen Medien zeitlich hinterherhinkt.
Hinzu kommt, dass auf Kracht, Sohn eines Verlagsmanagers, das zutrifft, was Florian Kessler im Januar 2014 in Die Zeit an der jungen deutschen Gegenwartsliteratur kritisiert. In seinem Kommentar-Artikel „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“23 konstatiert Kessler, dass sich im Literaturbetrieb diejenigen durchsetzen, die sich aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft das finanziell riskante Dasein als Literatin oder Literat leisten können, da sie notfalls von ihren Eltern unterstützt werden. Dies wirke sich insofern auf das Schreiben aus, dass hierin kontroverse Themen fehlten. Kessler führt die literarische Angepasstheit und Bravheit direkt darauf zurück, dass die „Absolventen der Schreibschulen von Leipzig und Hildesheim aus demselben saturierten Milieu kommen“.24 Seiner Absage an die „Repolitisierung der deutschsprachigen Literatur“25 und Zuspitzung von Thematisierungen als „Distinktionsprosa“26 löste eine kurze, aber heftige Debatte im Feuilleton aus. Hierbei wurde Kesslers Kurzschluss teils ←13 | 14→als Insiderwissen, teils als selbstironische Inszenierung eines Professorensohns, der selbst die Hildesheimer Schreibschule besuchte, gelesen. Provokant macht Maxim Biller im Februar 2014 gleichfalls in Die Zeit eine Eintönigkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus, die er auf die Überzahl von Deutschen im Literaturbetrieb zurückführt:
Kritiker, aber auch Verleger, Lektoren und Buchhändler sind zu 90 Prozent Deutsche. Sie, als echte oder habituelle Christen, als Kinder der Suhrkamp-Kultur und Enkel von halbwegs umerzogenen Nazisoldaten, bestimmen, was gedruckt wird und wie, sie sagen, was bei Hugendubel, Thalia und Dussmann auf die alles entscheidenden Verkaufstische kommt, sie zahlen die Vorschüsse, sie verleihen die Preise, sie laden als Verleger zum Abendessen ein.27
Der Autor diagnostiziert hierbei eine übereifrige Integrationserwartung in einem Deutschland, das danach strebe „Einwanderer und Fremde bis zur Unkenntlichkeit ihrer eigenen Identität zu integrieren, so wie die Hugenotten und die Polen im Ruhrgebiet.“28 Dies schlage sich letztlich wegen der Anpassung an den Buchmarkt auch literarisch nieder.
Abseits vom Feuilleton fordert Enno Stahl ein Jahr zuvor in seiner Essaysammlung Diskurspogo. Zu Literatur und Gesellschaft einen literarischen Realismus, der Ursachen von und mögliche Lösungen für Missstände vorführt.29 2015 rehabilitiert Bernd Stegemann einen Realismus, den er von den Strömungen des 19. Jahrhunderts ebenso abgrenzt wie vom zeitgenössischen Reality-TV. In Lob des Realismus plädiert der Dramaturg dafür, verdeckte Zusammenhänge entsprechend erfahrbar und wahrnehmbar zu machen.30 Gleichfalls 2015 erscheint in der Zeit-Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse ein Gespräch Ijoma Mangolds mit Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow.31 Deren Ansichten zur Politisierung von Literatur, die Mangold zufolge von der Kritik verlangt werde, sind sehr unterschiedlich. Erpenbeck lässt die Art und Weise weitgehend offen, indem sie auf individuelle Wege des politischen Engagements im Privaten oder in Bewegungen anführt: „Man schreibt über Dinge, die einen beschäftigen, die einem widerfahren.“32 Peltzer verweist auf die Notwendigkeit, „Kausalitäten“, ←14 | 15→„Kohärenz“ und „Zusammenhänge“33 aufzuzeigen, und Trojanow führt unter anderem Kontexte an, die darüber entscheiden, ob und wie etwas oder jemand politisch ist. Bereits im April 2015 fand im Berliner Brecht-Haus eine Tagung unter dem leitmotivischen Titel Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller – Kapitalismus – Kritik statt, woran sich rund ein Dutzend Autorinnen und Autoren beteiligten. Diskutiert wurde unter anderem über die Auswirkungen von elektronischen Medien, digitaler Hyperbeschleunigung und Globalisierungseffekten auf den Kapitalismus und die Gesellschaft überhaupt. Wie und warum dieses Treffen und eine Folgeveranstaltung 2016 im Feuilleton stark rezipiert wurden,34 erläutert Helmut Peitsch, der selbst im Brecht-Haus beteiligt war, im vorliegenden Band.35
Angesichts der im zeitnahen Feuilleton und in den hochaktuellen (a)sozialen digitalen Netzwerken verhandelten Positionen zum literarischen Engagement stellt sich mit Olga Martynova in ihrem Essay Über die Dummheit der Stunde die Frage,
wie die Themen der Aktualität so zu behandeln wären, dass das Ergebnis nicht danach aussehen würde, dass sie vom medialen Feld aufgezwungen oder ihm entnommen sind und zwar deswegen, weil der Autor entweder nicht weiß, was und worüber er sonst schreiben sollte, oder weil er Angst hat, zurückzubleiben. Dabei muss man sich gar nicht bemühen, gegenwärtig zu sein. Man lebt in der Gegenwart.36
Viele der Beiträge dieses Bandes beleuchten eine solche Gegenwart sowohl angesichts heutiger medialer Streufelder als auch angesichts medialer wie literarischer Felder, deren Ausgestaltung bis in die deutsche Geschichte – insbesondere der Shoah – zurückreicht. In beiderlei Hinsicht werden narrative Strategien ←15 | 16→aufgedeckt, die zeigen, wie sich das Politische artikuliert – etwa in der Figurenrede, der Erzählperspektive, auf realistischer, utopischer oder auch dystopischer Ebene oder in dramatischer bzw. theatraler Weise.
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Eingeläutet wird der Band mit dem Essay eines Schriftstellers, der insofern an die bereits am Beispiel von Günter Grass erläuterten Dualismus von literarischer und essayistischer Autorenschaft anknüpft, als er selbst seinen Essayband Politik der Gefühle als politische Stellungnahme und Einmischung ausweist. Josef Haslinger (Wien) nimmt anhand der Waldheim-Affäre den österreichischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Fokus. In Politik der Gefühle reloaded rekapituliert der Verfasser das Berufen ehemaliger Wehrmachtssoldaten auf ihre Dienstpflichten, die nicht mit Gräueltaten zu verwechseln seien, mediale Wahlkampfstrategien, die Lebenslügen decken und Sprachvorgaben stützen sollten, und einen Zensurversuch seitens des österreichischen Botschafters im Vorfeld der ersten Lesung, die Haslinger 1987 in Polen hielt. Später vermochten der mediale Druck, das Aufbegehren von Bürgerinnen und Bürgern des Landes, intellektuelles und politisches Engagement das Lügen- und Schweigegerüst zur Beteiligung am nationalsozialistischen Verbrechen einreißen.
Auch der Beitrag von Carola Hilmes (Frankfurt am Main) greift einen historischen Diskurs auf, indem Adornos Begriff des Engagements auf den Prüfstand gestellt wird. Adornos auf die 1960er Jahre zurückgehende dialektische Betrachtungsweise des Engagements in Noten zur Literatur ‚reloaded‘ der Beitrag mit dem künstlerischen Schaffen von Alexander Kluge. Von hoher Aktualität seien hierbei dessen Gespräche mit Künstlerinnen und Künstlern, von denen Hilmes für ihre Analysen einen Dialog mit Anselm Kiefer wählt. Zu Kluges medialen Strategien zähle das Herstellen von Distanz zum Gegenüber und von Nähe durch Gesprächsunterbrechungen, wodurch die Zuschauerschaft zu eigenen Standpunkten provoziert werde. Dadurch erfolgen der Beiträgerin zufolge mediale Transformationen von Adornos Dialektik des Engagements unter den Bedingungen der Gegenwart.
Wenn auch das Wort ‚Heimat‘ im Beitragstitel von Joanna Jabłkowska (Łódź) auftaucht, so ist es gerade die Absage an eine zu enge Heimat, die hier am Beispiel von Werken der österreichischen Literatin Kathrin Röggla befragt wird. Röggla beschäftige sich nicht mit dem Politischen eines bestimmten Landes und schließe sich literarisch auch nicht denjenigen an, die sich mit dem Umgang der heimatlichen Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzten. In „Enge der Heimat ist nichts für mich“: eine neue Generation der österreichischen Literatur ←16 | 17→oder der Einzelfall Kathrin Röggla? wird der als Tochter Jelineks apostrophierten Schriftstellerin eine literarische Eigenwilligkeit von globaleren Themen, aber auch ästhetischer Verfahren attestiert. Jabłkowska vermutet, dass die Hinwendung zu andauernden und erwarteten Katastrophen und Untergangsszenarien generationsspezifisch ist, und zeigt dies exemplarisch an Rögglas Essays und erzählerischen Werken.
Detailliert zeichnet Helmut Peitsch (Potsdam) als Augenzeuge die bereits erwähnte Tagung zum Verhältnis von kritischer Schriftstellerei und Kapitalismus nach. In Engagierte als Richtige Literatur im Falschen? Die Schriftsteller-Tagungen im Literaturforum im Brecht-Haus 2015 und 2016 erläutert Peitsch, wie es zur Auswahl von Literatinnen und Literaten wie Ann Cotten, Annett Gröschner, Thomas Meinecke, Norbert Niemann, Kathrin Röggla, Ingo Schulze, Michael Wildenhain, Heike Geißler, Björn Kuhligk und Daniela Seel kam. Untersucht werden auch der Tagungsverlauf, d.h. die provokante Forderung nach einem ‚sozial-analytischen Realismus‘ durch Enno Stahl und die Diskussionsbeiträge hierzu. Verständlich nachvollzogen wird dadurch schließlich die enorme Resonanz der Veranstaltungen in Feuilleton-Beiträgen.
Details
- Seiten
- 184
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631790120
- ISBN (ePUB)
- 9783631790137
- ISBN (MOBI)
- 9783631790144
- ISBN (Hardcover)
- 9783631780411
- DOI
- 10.3726/b15623
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Juli)
- Schlagworte
- Gegenwartsliteratur Wende Politik Shoah Gesellschaftskritik Theater
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 184 S.