Islam auf dem Balkan
Muslimische Traditionen im lokalen, nationalen und transnationalen Kontext
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Herrschaftswechsel und Lebenswelten von Muslimen in Griechenland 1878-1897 (Nicole Immig)
- Religiöser Wandel durch Bürokratisierung? Bosnische Muslime unter habsburgischer Herrschaft (Heiner Grunert)
- Schiitische und alevitische Einflüsse bei den Sufi-Orden sunnitischen Ursprungs in Südosteuropa – Historische, religionsphilosophische und politische Dimensionen (Christoph Giesel)
- Islam und religiöse Autorität im heutigen Albanien (Cecilie Endresen)
- Dschihadistische Propaganda und der Balkan (Rüdiger Lohlker)
- Das Gespenst des Salafismus. Islam und Kontroversen im postkommunistischen Bulgarien (Jordanka Telbizova-Sack)
- Die Türkei und die Muslime auf dem Balkan – Machtkampf, Machtverlust und Symbolkraft seit 2013 (Kerem Öktem)
- Die öffentliche Diplomatie einer kommunikativen Figuration zwischen Sarajevo und Ankara: Das Verhandeln von Sicherheit, Kultur und Verwandtschaft (Thomas Schad)
- Die türkische Minderheitenpolitik (Gülistan Gürbey)
- Europabezüge in bosnisch-muslimischen (bosniakischen) Identitätsdiskursen – Eine Existenzerhaltungsstrategie? (Kerim Kudo)
- Die Islamische Gemeinschaft von Kosovo, ihre Rolle für das religiöse Leben der Kosovaren in Europa und ihre Kontakte mit der islamischen Welt (Xhabir Hamiti)
- Cross-boundary identities of the Albanian Muslimsin Socialist Macedonia (Agata Rogoś)
- Pomakische Identitäten in West-Thrakien seit dem Fall der Mauer: Zwischen Transnationalismus und Reethnisierung (Christian Voß)
Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse der 55. Internationalen Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft dar, die vom 26. bis zum 30. September 2016 in Tutzing stattfand. Ein aktuelles und zugleich kontroverses Thema führte Experten aus verschiedenen Fachdisziplinen und Ländern zusammen, um über muslimische Traditionen im lokalen, nationalen und transnationalen Kontext in den Balkanländern zu diskutieren sowie aktuelle Tendenzen zu beleuchten.
Zunehmende Globalisierung, erhöhte Mobilität und postsozialistische Transformation haben zu massiven Verschiebungen der religiösen Landschaft in den Ländern Südosteuropas geführt. Islam-Debatten sorgen für Kontroversen und spalten große Teile der Öffentlichkeit. Dadurch hat die internationale Forschung zum Thema „Islam und Muslime auf dem Balkan“ einen erheblichen Aufschwung erfahren, auch wenn sie gegenüber der an Integration und Sicherheit orientierten Westeuropa-Forschung deutlich unterrepräsentiert bleibt. Geschichte, religiöse Praxis und kulturelles Selbstverständnis der südosteuropäischen Muslime sind für die Entstehung und Bestimmung eines „europäischen Islam“ von großer Bedeutung. Griechenland, Bulgarien, Rumänien und Kroatien sind mit ca. 900.000 Bürgern muslimischen Hintergrunds Mitglieder der Europäischen Union. Staaten mit substantiellen muslimischen Bevölkerungsanteilen wie Bosnien und Herzegowina, Makedonien, Kosovo und Albanien werden mittel- oder langfristig der Europäischen Union beitreten.
Südosteuropa steht dabei für einen historischen Raum, in dem der Islam seit Jahrhunderten ein Teil der europäischen Geschichte ist. Von einigen Randgruppen abgesehen, sind die zahlreichen muslimischen Gemeinschaften auf dem Balkan – von Bosnien und Herzegowina, über Albanien, Kosovo, den Sandžak und Makedonien bis zu Teilen Bulgariens und Westthrakiens – ein Erbe der osmanischen Herrschaft. Eine Zeit, die in der Wahrnehmung der (West)Europäer mit der politischen Hegemonie des Islam über die christliche Bevölkerung, nicht selten auch mit „asiatischer Despotie“ assoziiert wird.
Auch die christlichen Völker des ehemaligen osmanischen Balkans definierten seit dem 19. Jahrhundert ihre nationale und europäische Identität in Abgrenzung zum Islam und den orientalischen „Türken“. Sie wollten einen Platz in den „Reihen der zivilisierten europäischen Nationen“ einnehmen und am Fortschritt teilhaben, welcher für sie gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zu Europa war. In den neu gegründeten post-osmanischen Staaten erlebten die ← 7 | 8 → in ihrer ethnisch-nationalen und sprachlichen Zusammensetzung heterogenen Muslime eine wechselhafte Geschichte: Statuswechsel nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, Modernisierungsanstrengungen vor und nach 1945, Säkularisierungs- und teilweise Homogenisierungszwänge während der sozialistischen Diktaturen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sie ihre religiösen Institutionen (Muftiämter, Islamska zajednica).
Ansätze eines islamischen Reformismus finden sich in der Zwischenkriegszeit. Die Balkanmuslime und ihre politischen und religiösen Führer lebten in Gesellschaften, in denen die Religion auf den privaten Bereich beschränkt wurde und sie akzeptierten fast ausnahmslos das Prinzip des säkularen Staats. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren versuchten insbesondere Vertreter der bosnischen Ulamas, dieser Haltung eine religiöse Legitimation zu geben.
Nach dem Zerfall der kommunistischen Systeme wurden die muslimischen Bevölkerungsgruppen in den südosteuropäischen Ländern in dynamische Wandlungsprozesse einbezogen. Religiöse Freiheiten, das Nachwachsen neuer Generationen sowie der Anschluss an die internationale islamische Szene haben zu einer weitgehenden Pluralisierung unter ihnen geführt. Neben der Wiederherstellung islamischer Institutionen lässt sich die Veränderung daran erkennen, wie sich jüngere Muslime mit Fragen des religiösen Wissens, der religiösen Autorität und der Politik auseinandersetzen. Dies hat nicht zuletzt Implikationen für die relative Macht der in diesem Feld operierenden Akteure (der Laien gegenüber der Geistlichkeit, der non-konformistischen Gemeinden gegenüber dem staatlich eingebundenen Islam), aber auch für die veränderte Rolle einer wiederkehrenden Religiosität. Die Religion scheint nicht mehr nur eine private Angelegenheit zu sein, sondern sie fordert einen sichtbaren Platz im öffentlichen Raum ein, wobei neue religiöse Akteure die Szene betreten.
Sicher teilen muslimische Bevölkerungsgruppen in Südosteuropa mit solchen in Westeuropa strukturelle Gemeinsamkeiten. Neben den Prozessen der Globalisierung gehören dazu die finanzielle Dominanz Saudi-Arabiens (und zunehmend der Türkei) bei internationalen islamischen karitativen Einrichtungen, aber auch eine weltweit wachsende Islamophobie. Retraditionalisierungsprozesse der Religionen, insbesondere in ihrer neofundamentalistischen Prägung, sind ein globales Phänomen der Postmoderne. Aber diese Makrofaktoren interagieren mit den spezifischen kulturellen, politischen, historischen und wirtschaftlichen Bedingungen vor Ort, die die Kulissen für Transformation und Weitergabe islamischer Tradition in einzelnen Ländern Südosteuropas darstellen. ← 8 | 9 →
Dies sind nur einige der vielen Aspekte, die im Verlauf der Hochschulwoche 2016 diskutiert wurden. Der vorliegende Band stellt deren Ergebnisse vor und will exemplarische Einblicke in muslimische Lebenswirklichkeit und Erscheinungsformen des Islam in den einzelnen südosteuropäischen Ländern vermitteln. Dabei liegt der Fokus sowohl auf historischen Kontinuitäten als auch auf aktuellen Entwicklungen muslimischer Gemeinschaften auf dem Balkan. Islamische Phänomene werden nicht nur als Träger nationaler und kollektiver Identität betrachtet, sondern als Symptom alternativer Formen der Zugehörigkeit in einer Vielzahl von lokalen, nationalen oder grenzüberschreitenden Zusammenhängen.
Die fachliche Vielfalt und die regionalen sowie zeitlichen Schwerpunkte der Hochschulwoche spiegeln sich in der Gliederung des vorliegenden Sammelbandes wider, die vier Panels aufweist:
Im Panel „Historische Perspektiven: Islam, Staat und Politik“ wird zunächst der Herrschafts- und Elitenwechsel thematisiert, den die Kontraktionen des Osmanischen Reichs im Laufe des 19. Jahrhunderts auslösten: Nicole Immig fokussiert den Zeitraum 1878-1897 in den Regionen Thessalien und Arta und fragt, wie sich der Wechsel von osmanischer zu griechisch-nationaler Herrschaft auf die Lebenswelten der Muslime auswirkte – insbesondere im Hinblick auf religiös-kulturelle Praxis und islamisches Recht. Ähnliche Konflikte beschreibt Heinert Grunert beim Übergang zur habsburgischen Herrschaft in Bosnien-Herzegowina nach 1878 und spricht von der staatlich geförderten Bürokratisierung von Religion und einer Rationalisierung der Durchsetzung religiös genannter Normen. Christoph Giesel wiederum gibt einen historischen und religionsphilosophischen Überblick über unterschiedliche islamische Glaubensgemeinschaften jenseits des sunnitischen (und in zweiter Linie schiitischen) Mainstream: Er führt den Balkan als eine synkretistische Kontaktzone vor, in der Bektaschi und Aleviten starken Einfluss ausgeübt haben.
Die weiteren Panels haben einen klar gegenwartspolitischen Bezug und beruhen vielfach auf rezenter Feldforschung in der Region. Das Panel „Pluralisierung und Transformation“ zeigt die innerislamische Ausdifferenzierung der muslimischen Gemeinschaften, wobei der Balkan globale Tendenzen spiegelt. Cecilie Endresen führt die Polarisierung in einen traditions- und kulturorientierten, somit regional geprägten Islam (hier „Akkommodation“ genannt) vor, dem neofundamentalistische Strömungen entgegenstehen, die einen von kultureller Anpassung „gereinigten“ Islam vertreten. Rüdiger Lohlker lotet das Potenzial für dschihadistische foreign fighter auf dem Balkan aus und analysiert ein dschihadistisches ← 9 | 10 → Propagandavideo, das sich gezielt an bosnische und (kosovo)albanische Muslime richtet. Jordanka Telbizova-Sack wiederum resümiert den Prozess des bulgarischen Staats gegen dreizehn Imame in Bulgarien (in Pazardžik im Jahr 2012) und stellt fest, dass die staatliche Politik aufgrund von Mängeln in der Prozessführung (Zeugen, Beweislage u.ä.) ihr angestrebtes Ziel – die Eindämmung radikaler Tendenzen unter den bulgarischen Muslimen – verfehlt habe.
Im Panel „Türkei: Transnationale Verflechtungen und Innenpolitik“ fragt Kerem Öktem nach privaten und staatlichen Akteuren türkischer Kulturdiplomatie auf dem Balkan, die seit dem Putschversuch im Juli 2016 und sichtbarer Gülen-Anhängerschaft stark geschwächt worden ist. Thomas Schad wiederum fokussiert das türkisch-bosnische Verhältnis im balkanischen Verflechtungszusammenhang und überprüft die traditionelle Rolle der Türkei als Schutzmacht der Balkanmuslime im Kontext von Srebrenica. Gülistan Gürbey resümiert die ideologischen und rechtlichen Grundlagen des Minderheitenschutzes in der Türkei und beschreibt die Reformen der AKP-Regierung auf diesem Gebiet im Kontext der EU-Annäherung in den 2000er Jahren.
Das Panel „Diversität, Identität und Debatten“ fasst aktuelle Identitätsdebatten auf dem Balkan zusammen: Zunächst stellt Kerim Kudo die Defensivhaltung der bosnischen Muslime heraus, die sich gegen einen dominanten serbischen Diskursstrang zur Wehr setzen müssen, der sie als Europa herausdividieren möchte. Xhabir Hamiti zeichnet dann nach, wie sich die Muslime im Kosovo während der zwei jugoslawischen Staaten im 20. Jahrhundert organisiert haben, um dann die innen- und außenpolitische Orientierung der Islamischen Gemeinschaft im Kosovo zu beschreiben. Agata Rogoś führt uns die transnationale Ausrichtung der albanischsprachigen Muslime im tito-jugoslawischen Makedonien zwischen der albanischen und türkischen Option vor. Abschließend zeigt Christian Voß für die slawischsprachigen Muslime (Pomaken) im Grenzgebiet zu Bulgarien in Westthrakien, wie seit dem Fall der Mauer Gruppengrenzen verhandelt werden und warum die Gruppe keine grenzüberschreitende Kohäsion Richtung Bulgarien zeigt, sondern sich eher transnational türkisch orientiert. ← 10 | 11 →
Allen Autorinnen und Autoren, die zu diesem Sammelband beigetragen haben, sind wir zu großem Dank verpflichtet. Außerdem gebührt unser herzlicher Dank Megan Nagel, studentische Hilfskraft im Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin, für ihre engagierte Mitarbeit bei der Erstellung des Druckmanuskripts.
Berlin, im Dezember 2018
Die Herausgeber ← 11 | 12 → ← 12 | 13 →
Herrschaftswechsel und Lebenswelten von Muslimen in Griechenland 1878-18971
Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwieweit sich im Zeitraum 1878 bis 1897 der durch die territorialen Umwälzungen am Ende des 19. Jahrhunderts bedingte Wechsel von osmanischer zu griechischer Herrschaft auf Lebenswelten von Muslimen auswirkte und – möglicherweise im Zusammenspiel mit politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen – als Beweggründe für einen Verbleib und/oder aber für eine Emigration von Muslimen aus Griechenland verstanden werden können. Im Fokus der Untersuchung stehen die Region Thessalien und die Stadt Arta im heutigen Mittelgriechenland, die nach dem Berliner Kongress 1881 an das griechische Königreich angegliedert wurden.
Die Übernahme Artas und Thessaliens 1881
Details
- Seiten
- 240
- Erscheinungsjahr
- 2019
- ISBN (PDF)
- 9783631793213
- ISBN (ePUB)
- 9783631793220
- ISBN (MOBI)
- 9783631793237
- ISBN (Paperback)
- 9783631789766
- DOI
- 10.3726/b15775
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (September)
- Schlagworte
- Balkanislam Religiöse Minderheiten Transnationalismus Radikalisierung Diversität
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 240 S., 1 farb. Abb., 4 Tab.