Transferprozesse der Moderne
Die Nachbenennungen «Alpen» und «Schweiz» im 18. bis 20. Jahrhundert
Zusammenfassung
Zwei Phänomene der globalen Toponomastik der Neuzeit werden mit folgenden Forschungsfragen untersucht: Wie, wann und in welcher Form war es möglich, dass sich der Ländername «Schweiz» zu einer verbreiteten Metapher in der Literatur und zu einem häufigen toponymischen Beinamen in der Kartographie sowie im Tourismus entwickeln konnte? Wie konnte sich parallel dazu der Gebirgsname «Alpen» von einem Eigennamen zu einem Beinamen der Geographie, Kartographie und der Botanik wandeln? Die Arbeit schliesst thematisch eine Lücke in der globalen Umweltforschung.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autoren-/Herausgeberangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhalt
- Dank
- 1. Einleitung
- 1.1 Forschungsstand und Forschungsfragen
- Schlüsselbegriffe der Studie
- Die Alpen und die Schweiz als Modell
- 1.2 Theoretische Ansätze
- Sprachwissenschaft
- Globalgeschichte
- 1.3 Methodik
- Vorgehen bei der Datensammlung
- Handatlanten als Quellen
- Aufbau der Studie
- 2. Fallbeispiele – «Schweizen» und «Alpen»
- 2.1 Von Bezeichnungen der Romantik zu Markennamen: die «Sächsische» und «Fränkische Schweiz»
- Die ersten Schweiz-Nachbenennungen
- Motive für die Namensgebung
- Verselbständigung der Schweiz-Nachbezeichnung
- 2.2 Von «Englischen Alpen» zu «Englischen Schweizen»
- Die «English Alps» – eine römische «Erfindung»
- Motive für die Schweiz-Nachbenennung
- Vermarktung im Tourismus
- 2.3 «Argentinische Schweiz»: Entwicklungen einer kolonialen Bezeichnung
- Erste Vergleiche
- Motive für die Nachbenennung
- Südamerikanische «Schweizen» im Vergleich
- Die «Schweizen» Südamerikas im 20. Jahrhundert
- 2.4 Kolonial-wissenschaftliche Benennungspraxis: die «Southern Alps»
- Motive für die Benennung
- Das «Phantom» «See Alpen»
- Gegendiskurse im nachkolonialen Zeitalter
- 3. Dokumentation der Schweiz- und Alpen-Nachbenennungen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert
- 3.1 Die Entwicklung der Handatlanten im 19. und 20. Jahrhundert
- Wissenschaftliche Herausforderungen
- Bereinigung des Atlanten-Marktes im 20. Jahrhundert
- 3.2 Die Verwendung des Begriffes «Alpen» in Handatlanten
- Drei Typen der Alpen-Nachbezeichnung
- Begriffskonjunkturen im 19. und 20. Jahrhundert
- Kartographische Darstellungen zu Alpen-Nachbenennungen in Handatlanten
- 3.3 Die Verbreitung der Schweiz-Nachbenennungen
- Handatlanten
- Kartographische Darstellung der Schweiz-Nachbenennungen
- Textquellen
- 4. Erste Globalisierungsphase – 1770 bis 1850
- 4.1 Von der Schweiz zu Schweiz-Nachbenennungen
- Potenzielle Verbreitungsmotive
- Der ökonomische Aspekt
- Das romantische Modell
- 4.2 Globalisierung der Alpen-Nachbezeichnung
- Die Rolle von Tourismus und Alpinismus
- Die Verflechtung von Kolonialismus und Wissenschaft
- «Alpen» als Landschaftsmodell für «hohe Gebirge»
- 5. Globale Hochkonjunktur des Namenstransfers – 1850 bis 1930
- 5.1 Verselbständigung der Schweiz-Nachbezeichnung
- Die Rolle von Migration, Politik und Wissenschaft
- Die treibende Kraft der Tourismusindustrie
- Das Modell der «schönen Landschaft»
- 5.2 Vervielfachung der Alpen-Nachbezeichnung
- Verbreitung im Bergsport
- «Alpen» als Gattungsbegriff in der Wissenschaft
- Wissenschaft und Kolonialismus
- 6. Höhepunkt und Rückgang der Nachbezeichnungen – 1930 bis 1992
- 6.1 Faschistische Landschaft: Entwicklungen der Schweiz-Nachbezeichnung
- Verbreitung im Dritten Reich
- Streit um die Schweiz-Nachbezeichnung
- 6.2 Rückgang und Umdeutung der Schweiz-Nachbezeichnung in der Nachkriegszeit
- 6.3 Wandlungen der Alpen-Nachbezeichnung im 20. Jahrhundert
- Ende der Verbreitung in Kolonialismus und Nationalsozialismus
- Umdeutung und Erhaltung der Alpen-Nachbezeichnung
- 7. Gesamteinordnung
- 7.1 Rezente Umdeutung und Begriffskonjunkturen
- Die Schweiz als erneuter Bezugspunkt
- Von den Alpen zum Alpenraum
- 7.2 Zum Vergleich – die Paris-Nachbenennung
- Die Stadt des 19. Jahrhunderts
- Journalistische Interpretationen
- Motive für Paris-Nachbenennungen
- 7.3 Fazit
- Anhang
- Abbildungen
- Tabellen
- Bibliographie
- Abbildungsverzeichnis
- Tabellenverzeichnis
Diese Studie zur Verbreitung der Nachbenennungen «Alpen» und «Schweiz» vom 18. bis ins 20. Jahrhundert ist eine fächerübergreifende Untersuchung, die dem Transfer, der Verwendung und Bedeutung von Namen nachgeht. Verbunden mit der Bedeutung der Alpen und der Landesbezeichnung Schweiz sind Konnotationen, die Bezeichnungen mit «Nebensinn», «Gefühlswert» und «Stimmungsgehalt» füllten. Diese waren in der hier untersuchten Zeitspanne einem konstanten Wandel ausgesetzt und es bestanden zwischen Fachrichtungen stets Differenzen. 2011 hat mich Jon Mathieu in einem Gespräch auf diese thematisch interessante Lücke in der globalen Umweltforschung aufmerksam gemacht. Wissenschaftlich inspirierend und geduldig begleitete er mich während der folgenden drei Jahre. Für die Begleitung, Inspiration, Unterstützung und den Input möchte ich ihm herzlich danken. An dieser Stelle sei auch Patrick Kury gedankt, der sich als Zweitleser der Studie zur Verfügung stellte.
Anfang 2014 konnte ich den Künstler George Steinmann in seinem Atelier in Bern besuchen. Er erschuf das Kunstwerk beim Berner Bundeshaus zu den nachbenannten «Schweizen». Steinmann ermöglichte mir Einblicke in sein persönliches Archiv. Die globale Dimension der Studie wurde im Sommer 2013 bei einem Vortrag an der Summer School in Lavin «Mountains across boarders» rege diskutiert. Ein Grossteil der Forschung konnte in der Kartensammlung der Zentralbibliothek Zürich komplettiert werden. Das Team der Kartensammlung der Zentralbibliothek Zürich, insbesondere Thomas Germann, unterstützen die Recherchen tatkräftig.
Für die wertvolle Unterstützung sowie für die Idee und Motivation, eine Dissertation zu verfassen, bin ich besonders Joseph Helbling zum Dank verpflichtet. Nützlich war auch eine Projektbeschäftigung im Stadtarchiv Luzern, für die ich mich bei Daniela Walker bedanken möchte. Gegenlesungen, Korrekturen und wertvolle Inputs stammen von George Steinmann, Gabriela Schwarz, Heinz Nauer, Guy Lang und Cornelia Havelka. Zudem möchte ich an dieser Stelle besonders Peter Frei für seine stets positive und motivierende Einstellung danken. Hilfreich war Rahel Scheurer, die es verstand schwierigen Situationen stets mit Humor zu begegnen.
Am 23. September 1992 berichtete die Berner Tageszeitung «Der Bund» über ein am Tag zuvor eingeweihtes Kunstwerk neben dem Bundeshaus. Dieses Kunstwerk – ein harmonisch angeordneter Steingarten namens «Gleichgewicht der Dinge» – war vom Berner Künstler George Steinmann für die vorausgegangene Ausschreibung konzipiert worden. Die Idee ging auf Walter Leu, den damaligen Direktor der Schweizerischen Verkehrszentrale, zurück. Unter dem Projektleiter Theo Wyler waren Orte mit der Nachbenennung «Schweiz» in aller Welt gesucht worden. Aus den 187 gefundenen «Schweizen» – eine im Alltag höchst ungewöhnliche Pluralform, die jedoch in der vorliegenden Arbeit zu benutzen sein wird – wurden bis zum 15. Juli 1992 44 Steine für die von Steinmann geplante Skulptur importiert. Dieser in den Medien «Skulptur» genannte Steingarten, der jedoch eher an eine Installation erinnert, wurde von der Schweizerischen Volksbank und der Swissair gesponsert. Die Einweihung geschah im Rahmen einer Zeremonie in Anwesenheit zahlreicher Parlamentarier, Diplomaten und Gemeinderäte. Der Berner Stadtpräsident Werner Bircher1 hielt dabei eine Ansprache, in der er die Steine nicht nur ein Symbol der Beständigkeit nannte, sondern auch hinter diesem Geschenk Gedanken der Verbundenheit und der Ermutigung zu Weltoffenheit vermutete.
Der Schöpfer des Steingartens erklärte anlässlich der Einweihung, dass die fünf gemäss dem Goldenen Schnitt angeordneten Felsgruppen die Zusammengehörigkeit Asiens, Afrikas, Amerikas, Australiens und Europas wiedergäben. Ausserdem erinnerte er an den Respekt, mit welchem diese Steingeschenke auf ihre Reise geschickt worden waren. Darunter befanden sich sorgfältig in Samt gebettete Steine aus Indien sowie handschriftliche Grüsse aus Alaska. Als Gegengeschenk erhielten die beteiligten «Schweizen» Wegweiser aus der ursprünglichen Schweiz, die Richtung und Distanz zur Schweiz vermerkten.2
Doch nicht überall stiess das Projekt auf Wohlwollen. Die Boulevardzeitung «Blick» hatte Monate zuvor getitelt: «Fünf Steinhaufen für 350 000 ← 11 | 12 → Franken beim Bundeshaus, und das soll Kunst sein?».3 Die vom «Blick» genannte Summe war allerdings, so Steinmann, aus der Luft gegriffen.4 Zudem waren die Felsgruppen und die damit verbundene Symbolik vom Blick-Reporter in Frage gestellt worden, auch mass er der Bedeutung der Schweiz-Nachbenennungen keinen tieferen Sinn zu. Doch diese öffentliche Kritik regte auch zum Nachdenken an. Wie können Beziehungen zwischen der Schweiz und nachbenannten «Schweizen» definiert werden? Wie steht es mit der von Bircher genannten Verbundenheit und mit den Gemeinsamkeiten? Welche Prozesse und Wandlungen haben sie im Wandel der Zeit durchlaufen?
1.1 Forschungsstand und Forschungsfragen
Weltweit lassen sich zahlreiche Regionen und Gebirge nachweisen, die eine Nachbenennung mit den Begriffen «Schweiz» oder «Alpen» tragen. Die vorliegende Arbeit evaluiert die Ursachen und die Bedeutung dieses Transfers zweier Landschaftsnamen in den letzten drei Jahrhunderten in einem globalen Rahmen. Erste prominente Namensgeber von Alpen-Nachbenennungen waren Geographen und Kartographen auf wissenschaftlichen Entdeckungsreisen – darunter der Zeichner und Kartograph Sydney Parkinson (1745–1771) auf der ersten Südseereise 1768–1771 von Captain James Cook (1728–1779) oder Alexander von Humboldt (1769–1859) –, die sich auf die Alpen oder deren Modell bezogen, um bisher unbekannte Landschaften knappstens zu beschreiben und benennen zu können. Auf dieser Basis baute eine vielfältige Entwicklung von Nachbenennungen auf.
Die vorliegende Untersuchung der Geschichte der Transfers von Landschafts-Nachbenennungen mit «Schweiz» und «Alpen» schliesst eine Lücke in der globalen Umweltforschung. Eine generalisierende Geschichte der Landschaft an sich ist hingegen in der Forschung bereits etabliert. Denn ab den 1930er-Jahren wurde die Landschaft, und somit der Landschaftsbegriff, in den «Annales» in einem akademischen Kontext thematisiert. ← 12 | 13 → Gegenwärtig widmen sich auch die Geisteswissenschaften im Kontext des Klimawandels wieder vermehrt den historischen Bedingungen der natürlichen Umwelt. Allerdings sind diese Studien, gemäss David Blackbourn, von der Tendenz geprägt, Eingriffe in die natürliche Umwelt in der Vergangenheit negativ zu bewerten, ohne die damaligen Notwendigkeiten und die schon immer dagewesenen Interaktionen zwischen Mensch und Umwelt genügend zu würdigen. Trotzdem vermitteln solche Studien den Geisteswissenschaften auch neue Perspektiven.5
Zur Verbreitung der Alpen-Nachbenennung wurden bis anhin kaum Arbeiten publiziert. Eine der seltenen Erwähnungen stammt von Jon Mathieu, die die Verbreitung der Nachbezeichnung «Alpen» in einem Artikel aufführt.6 Besser als die Nachbenennung der Alpen ist jedoch die Nachbenennung mit dem Begriff «Schweiz» dokumentiert, denn beispielsweise der Wirtschaftsgeograph Irmfried Siedentop veröffentlichte 1977 und 1984 Listen der Landschaften mit einer Schweiz-Nachbenennung.7 Problematisch an diesen Listen ist aber das Fehlen von Quellenangaben und Datierungen, von Begründungen der Anwendung der Nachbenennungen sowie von einer Beschreibung der zeitlichen Tiefe der Verankerung von Nachbenennungen. Zudem publizierte das Heimatmuseum «Wassermühle Ziddorf» in Mecklenburg eine Liste von Schweiz-Nachbenennungen und eine kleine Sammlung von Postkarten aus der «Mecklenburger Schweiz».8 Allerdings wurden auch hier keine Quellenangaben gemacht. Neben der Gesamtdarstellung von Siedentop existieren zudem vereinzelt weitere historische Aufarbeitungen zu Schweiz-Nachbezeichnungen. Diese werden in der vorliegenden Arbeit laufend aufgegriffen. Im Weiteren veröffentlichte Helmut Weinacht einen bemerkenswerten Artikel zur «Fränkischen Schweiz»9, auf den im Abschnitt zur Methodik in diesem Kapitel nochmals zurückgegriffen werden wird.
Es werden auch weitere spezifische Ursachen zur Wahl des Beinamens «Schweiz» geltend gemacht. So führte François Walter im Jahr 2005 die Ausbreitung der Schweiz-Nachbezeichnung auf die graphische Kunst und ← 13 | 14 → Photographie zurück.10 Ähnlich thematisierte ein 2007 erschienener Bilderband mit Titel «Sehnsucht Schweiz; helvetische Landschaften in aller Welt» von Jakob Grünwies die Verbreitung der Schweiz-Nachbezeichnung auf einer bildlichen und sinnlichen Ebene.11 Laurent Tissot wiederum machte 2011 den Alpinismus, Tourismus-Protagonisten und die Hotelindustrie als Promotoren der Verbreitung der Schweiz-Nachbezeichnung aus.12
Die vorliegende Dissertation untersucht zwei Einzelphänomene der globalen Toponomastik der Neuzeit mit folgenden Forschungsfragen:
– Wie, wann und in welcher Form war es möglich, dass sich der Ländername «Schweiz» zu einer Metapher in der Literatur und zu einem global verbreiteten toponymischen Beinamen in der Kartographie und im Tourismus entwickelte?
– Wie konnte sich parallel dazu der Gebirgsname «Alpen» von einem Eigennamen zu einem weltweit verwendeten Begriff der Geographie, Kartographie und Botanik wandeln?
Aufgrund der oben aufgeführten Forschungsfragen sind bereits jetzt die vier Schlüsselbegriffe «Transfer-Prozesse», «Nachbenennungen», «Landschaft» und «Tourismus» zu definieren. Nötig sind auch Erläuterungen zur Toponomastik, Gedanken zum Gebrauch von Metaphern und zur kulturellen Bedeutung von Bildern.
Der Terminus «Transfer» leitet sich vom lateinischen Verb «transferre» ab, also «etwas von einem Ort zum andern hintragen»; er wurde zudem auch bereits in der römischen Zeit für den Gebrauch von Metaphern verwendet, und zwar in dem Sinne, dass die Bedeutung eines Wortes auf ein anderes übertragen wird.13 Somit wird hier die Richtung einer Veränderung angegeben. Die Toponomastik, eine Subdisziplin der Onomastik, befasst sich mit den Orts- und Flurnamen einer Region und deren langfristigen ← 14 | 15 → historisch-philologischen Veränderungen.14 Als neueres Beispiel für Orts- und Flurnamenforschung sei hier nur die Arbeit von Viktor Weibel für den Kanton Schwyz (2012) genannt.15 Doch sie alle befassen sich mit feststehenden, historisch gewachsenen Toponymen.
Benennungen sind grundlegende Vorgänge des Denkens und Differenzierens und damit der Kommunikation. Die vorliegende Untersuchung hingegen befasst sich mit der bewussten Übertragung eines bestehenden toponymischen Begriffes auf eine neue Örtlichkeit, und dies in der Neuzeit. Dafür wird hier hauptsächlich der Begriff «Nachbenennung» verwendet, selten auch die Bezeichnung «Metapher» oder «Beinamen».16 Als Basis zur Theorie der Nachbenennungsnamen diene hier der Artikel des Niederländers Robert Rentenaar über «Namen im Sprachaustausch. Toponymische Nachbenennungen» in einem von Ernst Eichler 1996 herausgegebenen Sammelband zur Onomastik:
«In der Anthroponymie ist die Nachbenennung ein Prozess, der darin besteht, dass man bewusst den Namen eines Menschen als den Namen eines anderen […] Menschen fungieren lässt. Ein derartiger Nachbenennungsprozess kann auch auf toponymischer Ebene stattfinden und das onymische Ergebnis wird dann als Nachbenennungsnamen […] bezeichnet. […] Ein Nachbenennungsname ist als ein Toponym zu definieren, das dadurch entstanden ist, dass man bewusst ein anderswo existierendes Toponym zur Benennung einer Örtlichkeit gewählt hat. Diese Wahl hat auf der Basis der mit dem Namen verbundenen sekundären Konnotationen oder assoziativen Bedeutung stattgefunden. Es soll noch hinzugefügt werden, dass vom topographischen Zusammenhang keine Rede ist.»17
Gemäss Rentenaar ist die Erscheinung toponymischer Nachbenennungen zwar schon aus der Römerzeit bekannt, deren Zahl nahm aber erst nach dem Jahr 1000 zu. Im 17. und 18. Jahrhundert wuchs dann die Verschiedenheit der Nachbenennungs-Namen aufgrund von weiträumigem Handel, Schifffahrt, Kolonisation und Ausbildung. Und wichtig für die vorliegende Untersuchung ist die Beobachtung, dass das Wahlmotiv oft durch ← 15 | 16 → die äussere Erscheinung gegeben war, so seien beispielsweise Gebiete, die für die Erholung geeignet schienen, nach der Schweiz benannt worden.18
Die vorliegende Arbeit untersucht somit ein bisher wenig beachtetes Phänomen, nämlich die im Ausmass wohl einzigartige und teilweise gezielte endonyme Nachbenennung von europäischen und kolonisierten Regionen mit den Begriffen «Schweiz» und «Alpen», und zwar innerhalb des Zeitraums der letzten drei Jahrhunderte. Damit beschränkt vergleichbar sind nur Nachbenennungen mit dem Städtenamen «Paris». Es handelt sich bei den Schweiz- und Alpen-Nachbenennungen jedoch um einen sich im Laufe der Zeit unterschiedliche entwickelnden Gebrauch der Begriffe, genauer gesagt, um die Entwicklung zweier Eigennamen zu weitverbreiteten Gattungsbegriffen und deren teilweise Kritik und Korrekturen am Ende des 19. und vor allem im 20. Jahrhundert.
Die Semantik des Begriffes bei einer Nachbenennung kann von einer kommunikativen Funktion der Identifizierung bis hin zu einer reduzierten Bedeutung, zur blossen Etikette, reichen19; damit ergeben sich ähnlich breitgefächerte Möglichkeiten wie sie der unten folgende Vergleich mit dem philologischen Begriff der Metapher zeigt. Aus der hier spezifischen Forschungs-Situation heraus wird für die vorliegende Untersuchung ausserdem die Pluralform «Schweizen» generiert.
Der Begriff «global» meint im vorliegenden Rahmen der Untersuchung selbstverständlich eine eurozentrierte Nachbenennung und darauf aufbauende Datensuche. Denn diese europäischen Transfer-Prozesse inner- und ausserhalb Europas waren eng mit der zeitgenössischen Literatur, den wissenschaftlichen Expeditionen und den dazugehörigen Forschungsberichten und Kartographie, mit der Kolonisation und dem Handel durch europäische Staaten sowie dem später einsetzenden Tourismus verbunden.
Aus der philologischen Perspektive kann eine toponomastische Nachbenennung auch als Sonderform einer Metapher verstanden werden. Gleich wie der lateinische Begriff «Transfer» bedeutet auch das griechische «μεταφορά» Übertragung.
«Die poetische Metapher […] deckt Zusammenhänge auf und stellt Beziehung her, wobei ein bildhaft-wertendes Denken und Bestimmung der Dinge und Vorgänge hineingetragen und vom Leser mitvollzogen wird. Der so auftretende Widerspruch ← 16 | 17 → zwischen (objektiver) Bestimmung und (subjektiver) Wertung wird durch die Konvergenz von Bild und Gedanke nicht notwendig ausgelöscht, sondern in der kleinsten sprachlichen Einheit vieldeutig reproduziert. Ein Gegenstand, ein Sachverhalt, eine Empfindung werden eben dadurch bezeichnet, dass das Bild den Gedanken und der Gedanke das Bild überhöht, kritisiert, verzerrt oder präzisiert.»20
Gemäss Wilpert entstehe zudem nach Quintillian ein Nebeneinander der Werte, nicht in der eigentlichen Bedeutung, sondern «übertragen».21 Somit ist bereits mit diesen philologischen Definitionen angedeutet, wie unterschiedlich sich der praktische Gebrauch der Nachbenennungen «Schweiz» und «Alpen» im untersuchten Zeitraum gestalten kann. Betont sei hier der eingeschränkte Gebrauch dieser Metaphern, der nicht einen überraschenden Zusammenhang herstellt, sondern vielmehr vor allem eine Gebirgs- beziehungsweise eine Erholungslandschaft visualisieren will.
Der Gebrauch der Nachbenennungen «Schweiz» und «Alpen» hängt auch mit Vorstellungen zu Landschaften zusammen. In diesem Sinne wird hier die Entwicklung des Landschaftsbegriffs thematisiert. Gemäss Backhaus et al. (2007) stammen die europäischen Wurzeln des «Konzeptes einer wahrgenommenen Landschaft» aus dem 14. Jahrhundert, nämlich aus der Kunst des Gartenbaus, der Erfindung der Perspektive in der Renaissance und den Erneuerungen der wirtschaftlichen und politischen Gebietskontrollen. Ab 1760 nahmen dann die Alpen in den Landschaftsbeschreibungen eine zentrale Rolle ein.22 Und ab 1929 wurde schliesslich die Landschaft in den «Annales» in einem akademischen Kontext thematisiert. Der Historiker Marc Bloch (1886–1944) gehörte zu den Promotoren eines Studiums der natürlichen Umwelt und forderte, dass sich die Geisteswissenschaften auch den Besonderheiten einer Landschaft anzunehmen hätten. Diese Bewegung fand in der Folge auch in den Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Deutschland ihre Anhänger.23
Simon Schama verwies 1996 auf die überraschende Dauerhaftigkeit von Mythen und Erinnerungen, welche eng mit Landschaftsmetaphern und nationalen Identitäten von Gesellschaften zusammenhängen.24 Backhaus et al. zeigten 2007, dass kulturelle Ansätze zum Landschaftsbegriff davon ausgehen, dass visuelle, sprachliche und verhaltensbezogene Muster ← 17 | 18 → die Wahrnehmung von Menschen prägen. Zusätzlich kommen zum Landschaftsbegriff gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und körperliche Dimensionen. Backhaus et al. erklärten die vielschichtige Komplexität des Landschaftsbegriffes. Denn sie umschrieben als mögliche Auffassungen der Landschaft Folgendes: Es handle sich dabei um die Welt, wie sie subjektiv erscheint, als politischen Träger, als naturwissenschaftliches Untersuchungsobjekt, als ästhetisches Objekt der Philosophie und als Subjekt des Gemütes in der Literatur. Gleichzeitig könne dem Landschaftsbegriff in verschiedenen Sprachen zusätzlich unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben werden.25
Somit ermöglicht eine offene Fassung des Landschaftsbegriffes eine detaillierte Analyse des Transfers von Vorstellungen und Praktiken. Blackbourns folgende Fassung des Landschaftsbegriffs erscheint sinnvoll, da mit seinen Ausführungen nicht bei theoretischen Fragestellungen angesetzt werden muss. Er trägt vielmehr der Erkenntnis Rechnung, dass sowohl Mensch als auch Gesellschaft zur Landschaft gehören. Seine Studie zeigt, dass eine Analyse einer Landschaft sich gut auf zwei Pole konzentrieren kann. Dabei kann der eine Pol als subjektive, kulturelle Konstruktion des Beobachters identifiziert werden.26 Der zweite Pol besteht aus der materiellen Wirklichkeit, nämlich aus Stein, Vegetation, Wasser, Eis und Boden. Zusammen bilden diese zwei wandelbaren Pole eine einzige Geschichte.27 In diesem Sinn werden in der vorliegenden Studie die Landschaft und deren Wahrnehmung über sprachliche Indikatoren als eine einzige Geschichte untersucht.
Ein weiterer Begriff, der hier umschrieben werden sollte, ist der des Tourismus. Rüdiger Hachtmann hielt 2007 fest, dass die moderne Tourismusforschung in den deutschen Geisteswissenschaften «vernachlässigt» wurde.28 Benedikt Bock präzisierte, dass es sich insbesondere beim Massentourismus um ein wenig erforschtes Feld handelt. Die historische Tourismusforschung nahm erst zu Beginn der 1990er Jahre zu.29 Bock zieht für eine differenziertere Begriffserklärung Julia Gebauer heran, die den Tourismus als eigenständige, sich aus anderen Reiseformen entwickelte ← 18 | 19 → Reiseform definiert.30 Etymologisch ist das Wort «Tourist» nach Grimm auf das Englische und Französische «Tour» zurückzuführen. Dieses stand für die Bildungsreise «grand tour» englischer Adliger des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Wort «Tourist» ist eine Ableitung von «grand tour» und erschien erstmals um 1800. Um 1839 taucht das Wort auf Deutsch auf und beschreibt einen Reisenden, der sich zum «Vergnügen» und «ohne festes Ziel» in fremde Länder begibt.31
Details
- Seiten
- 306
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (PDF)
- 9783034323710
- ISBN (ePUB)
- 9783034323727
- ISBN (MOBI)
- 9783034323734
- ISBN (Paperback)
- 9783034323703
- DOI
- 10.3726/978-3-0343-2371-0
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (März)
- Erschienen
- Bern, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 306 S., 3 s/w Abb., 7 farb. Abb., 20 s/w Tab., 10 Karten