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Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Gerichtsprozess unter Beachtung von Art. 6 EMRK

Die Umsetzung von Art. 9 der europäischen Richtlinie über den Schutz von Geschäftsgeheimnissen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union

von Kristina Kober (Autor:in)
©2021 Dissertation 246 Seiten

Zusammenfassung

Aus Sorge vor einer Offenbarung ihrer Geschäftsgeheimnisse scheuen viele Unternehmen die gerichtliche Durchsetzung ihrer Rechte. Um dem entgegenzuwirken normiert der EU-Gesetzgeber erstmals prozessuale Mindeststandards. Besondere Herausforderung ist es dabei, eine Balance zu schaffen zwischen dem Geheimnisschutz einerseits und geltenden Verfahrensmaximen andererseits. Die Autorin versucht in diesem Spannungsfeld einen gerechten Ausgleich widerstreitender Interessen zu erzielen. Sie wirft dabei einen Blick auf die Hintergründe und Anforderungen der Richtlinie sowie des Art. 6 EMRK. Sie bewertet die Umsetzungsgesetze der EU-Länder, entwickelt mit Blick auf andere Rechtsgebiete im In-/Ausland Maßnahmen für einen wirksameren Geheimnisschutz und schlägt entsprechende Gesetzesänderungen vor.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort und Danksagung
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einleitung und Gang der Untersuchung
  • I. Prozessuale Schutzbedürftigkeit von Geschäftsgeheimnissen
  • II. Ziel der Untersuchung
  • B. Die EU-​Geschäftsgeheimnis-​Richtlinie
  • I. Entstehungsgeschichte der Richtlinie
  • II. Rechtswirkung und Harmonisierung
  • III. Hintergründe und Ziele der Richtlinie
  • 1. Einheitlicher Schutzmaßstab
  • 2. Besondere Verletzlichkeit von Geschäftsgeheimnissen
  • 3. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
  • 4. Beseitigung von Schutzlücken
  • IV. Definition des Geschäftsgeheimnisses
  • 1. Begriff der Information
  • 2. Fehlende Offenkundigkeit
  • a) Keine allgemeine Bekanntheit
  • b) Keine leichte Zugänglichkeit
  • c) Maßgeblicher Personenkreis
  • 3. Kommerzieller Wert
  • 4. Angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen
  • V. Prozessuale Vorgaben der EU-​Richtlinie
  • 1. Anwendungsbereich des Art. 9 EU-​Richtlinie
  • a) Sachlicher Anwendungsbereich
  • b) Persönlicher Anwendungsbereich
  • c) Zeitlicher Anwendungsbereich
  • aa) Entfall der Schutzwirkung bei rechtskräftiger Feststellung der fehlenden Geheimniseigenschaft
  • bb) Entfall der Schutzwirkung bei Eintritt von Offenkundigkeit
  • 2. Voraussetzungen und Mindestanforderungen an den prozessualen Geheimnisschutz
  • a) Gerichtliche Überprüfung der Geheimniseigenschaft und Verpflichtung zur Geheimhaltung
  • b) Weitere Maßnahmen zum Schutz der festgestellten Geheimniseigenschaft
  • aa) Zugangsbeschränkungen
  • bb) Vertrauliche Fassung einer gerichtlichen Entscheidung
  • cc) Verhältnismäßigkeit und Datenschutz
  • dd) Sanktionen bei Nichteinhaltung
  • VI. Zusammenfassung und Bewertung des prozessualen Geheimnisschutzes
  • 1. Eingeschränkter Anwendungsbereich
  • 2. Mindestanzahl zugelassener Personen
  • 3. Praktikabilität des Nutzungsverbotes
  • 4. Vereinbarkeit mit dem Grundsatz eines fairen Verfahrens
  • C. Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK
  • I. Bedeutung der Fairnessgarantie
  • II. Hintergrund und prägende Vorbilder
  • III. Geltungsdimension im innerstaatlichen Bereich
  • IV. Sachlicher und zeitlicher Anwendungsbereich
  • V. Gerichtlicher Prüfungsmaßstab
  • VI. Verfahrensgarantien
  • 1. Organisations-​ und Zugangsrechte
  • a) Recht auf ein Gericht und Zugang zu diesem Gericht
  • b) Anforderungen an das Gericht
  • aa) Verhandlung der Rechtssache durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht
  • bb) Gerichtliche Unabhängigkeit
  • cc) Unparteilichkeit des urteilenden Gerichts
  • 2. Verfahrensgarantien im engeren Sinne
  • a) Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung
  • b) Recht auf persönliche Teilnahme am Verfahren
  • c) Grundsatz der Unmittelbarkeit
  • d) Grundsatz der Öffentlichkeit
  • aa) Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes
  • bb) Reichweite des Öffentlichkeitsgrundsatzes
  • cc) Öffentlichkeit in der Praxis
  • dd) Ausschluss von Öffentlichkeit und Presse
  • (1) Allgemeine Ausschlussgründe
  • (2) Prozessbezogene Ausschlussgründe
  • (3) Verhältnismäßigkeit
  • e) Recht auf rechtliches Gehör
  • f) Gebot der Waffengleichheit
  • g) Gebot angemessener Verfahrensdauer
  • 3. Besondere Gewährleistungen im Strafprozess
  • a) Informationsanspruch
  • b) Recht auf angemessene Verteidigungsvorbereitung
  • c) Recht auf effektive Verteidigung
  • d) Recht auf Konfrontation mit Belastungszeugen
  • VII. Folgen eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK
  • 1. Konventionsrechtliche Rechtsmittel
  • a) Staatenbeschwerde
  • b) Individualbeschwerde
  • 2. Verfolgung und Auswirkungen auf nationaler Ebene
  • VIII. Zusammenfassung und Bedeutung der Fairnessgarantie für den prozessualen Geheimnisschutz
  • D. Umsetzung der Geschäftsgeheimnis-​Richtlinie in der EU
  • I. Bundesrepublik Deutschland
  • 1. Rechtsgeschichtlicher Überblick
  • 2. Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor der Reform
  • a) Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Zivilprozess
  • aa) Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung
  • bb) Ausschluss der Öffentlichkeit von der Urteilsverkündung
  • cc) Verpflichtung zur Geheimhaltung
  • (1) Anwendungsbereich der Geheimhaltungsverpflichtung
  • (2) Verfahren und Reichweite der Geheimhaltungsverpflichtung
  • dd) Schutz von Geschäftsgeheimnissen bei Akteneinsicht
  • ee) Schutz von Geschäftsgeheimnissen Dritter
  • ff) Zusammenfassung und Bewertung der bisherigen Regelungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Zivilprozess
  • b) Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Strafprozess
  • aa) Ausschluss der Öffentlichkeit und Schweigegebot
  • bb) Ausschluss des Verletzten von der Verhandlung
  • cc) Schutz von Geschäftsgeheimnissen bei Akteneinsicht
  • dd) Kein Schutz von Geschäftsgeheimnissen Dritter
  • ee) Zusammenfassung und Bewertung der bisherigen Regelungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Strafprozess
  • c) Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Verwaltungsrecht
  • aa) Schutzvorschriften im Verwaltungsverfahren
  • (1) Anspruch auf Geheimhaltung durch die Behörde
  • (2) Schutz von Geschäftsgeheimnissen bei Akteneinsicht
  • bb) Schutzvorschriften im Verwaltungsprozess
  • (1) Vorlage-​ und Auskunftspflicht der Verwaltungsbehörden
  • (2) Gerichtliches Überprüfungsverfahren über Entscheidung der Behörde
  • (3) Ausschluss der Öffentlichkeit und Verpflichtung zur Geheimhaltung
  • cc) Zusammenfassung und Bewertung der bisherigen Regelungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Verwaltungsrecht
  • d) Gesamtüberblick über die bisherigen prozessualen Regelungen im deutschen Recht zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen
  • 3. Deutsches Gesetz zur Umsetzung der EU-​Geschäftsgeheimnis-​Richtlinie
  • a) Entstehungsgeschichte des Geschäftsgeheimnisgesetzes
  • b) Neue gesetzliche Regelungen zum Geheimnisschutz im Gerichtsprozess
  • aa) Anwendungsbereich
  • bb) Verpflichtung zur Geheimhaltung
  • (1) Geheimhaltungsanordnung
  • (2) Nutzungs-​ und Offenlegungsverbot
  • (3) Sanktionen bei Verstößen
  • (4) Dauer der Geheimhaltungspflichten
  • cc) Zugangsbeschränkungen
  • (1) Beschränkung des Dokumentenzugangs
  • (2) Beschränkung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung
  • (3) Erfordernis der Zuverlässigkeit
  • dd) Möglichkeit weiterer gerichtlicher Anordnungen
  • ee) Ausschluss der Öffentlichkeit
  • ff) Verfahren zur Durchsetzung gerichtlicher Maßnahmen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen und Rechtsbehelfe
  • (1) Parteiantrag und Glaubhaftmachung
  • (2) Entscheidung des Gerichts, Anhörung und Rechtsmittel
  • gg) Bekanntmachung des Urteils
  • c) Zusammenfassung und Bewertung des deutschen Geschäftsgeheimnisgesetzes
  • aa) Deutliche Schutzerweiterung
  • bb) Schutzlücken und Verbesserungsbedarf
  • II. Prozessualer Geheimnisschutz in anderen Mitgliedstaaten
  • 1. Überblick über die prozessuale Rechtslage in den EU-​Mitgliedstaaten vor dem Inkrafttreten der Richtlinie
  • 2. Schweden als europäischer Vorreiter
  • 3. Umsetzungsmaßnahmen durch die EU-​Mitgliedstaaten
  • a) Erweiterung des Anwendungsbereiches in Litauen, Portugal, Schweden und UK
  • b) Abweichende Regelungen zur Zugangsbeschränkung in Finnland und Italien
  • c) Maßnahmen ex officio in Frankreich, Irland, Litauen, Luxemburg und Portugal
  • d) Gesetzliche Beweiserleichterung in Slowenien und Österreich
  • e) Einsatz eines Sachverständigen in Österreich
  • f) In-​Camera-​Verfahren in Frankreich
  • 4. Zusammenfassung über den prozessualen Geheimnisschutz in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
  • E. Fortentwicklung prozessualer Schutzmaßnahmen
  • I. Black-​Box-​Verfahren
  • 1. Einzelheiten des Verfahrens
  • 2. Vereinbarkeit mit dem Fairnessgrundsatz
  • II. Geheimverfahren/​Absolutes In-​Camera-​Verfahren
  • 1. Einzelheiten des Verfahrens
  • 2. Vereinbarkeit mit dem Fairnessgrundsatz
  • III. Relatives In-​Camera-​Verfahren
  • 1. Einzelheiten des Verfahrens
  • 2. Vereinbarkeit mit dem Fairnessgrundsatz
  • 3. Praktikabilität des Verfahrens
  • a) Offenlegung im Falle einer Unterlassungsklage
  • b) Geheimhaltung durch den anwaltlichen Vertreter
  • aa) Gesonderte Maßnahmen zur anwaltlichen Geheimhaltung
  • bb) Einschränkung der Anwaltswahl
  • IV. Stufenweises Verfahren
  • V. Erleichterungen im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung
  • 1. Sekundäre Darlegungslast
  • 2. Reduzierte Substantiierungspflicht
  • 3. Beweiserleichterungen
  • VI. Verpflichtung zur Zahlung einer Sicherheitsleistung
  • VII. Vorprozessuale Maßnahmen zum Schutze des Beklagten
  • 1. Wirtschaftsprüfervorbehalt
  • 2. Düsseldorfer Verfahren
  • a) Hintergründe des Düsseldorfer Verfahrens
  • b) Einzelheiten des Verfahrens
  • aa) Anordnung des selbstständigen Beweisverfahrens
  • bb) Erlass der Duldungsverfügung
  • cc) Durchführung der Besichtigung
  • dd) Entscheidung über die Aushändigung des Gutachtens
  • c) Vereinbarkeit mit dem Fairnessgrundsatz und den Anforderungen der EU-​Richtlinie
  • d) Erfordernis einer spezialgesetzlichen Rechtsgrundlage
  • e) Praktikabilität des Verfahrens
  • VIII. Zusammenfassung und Kombinationslösung
  • 1. Geheimnisschutz während der Prozessvorbereitung
  • a) Einführung eines spezialgesetzlichen Auskunfts-​ und Besichtigungsanspruchs
  • b) Schutz der Informationen des Antragstellers
  • c) Schutz des Antragsgegners vor Ausforschung
  • 2. Geheimnisschutz bei Prozesseinleitung
  • 3. Schutzmaßnahmen während des Hauptverfahrens
  • 4. Geheimnisschutz bei Prozessabschluss
  • IX. Vorschlag einer Überarbeitung des deutschen GeschGehG
  • 1. Spezialgesetzlicher Besichtigungsanspruch im Geschäftsgeheimnisgesetz
  • 2. Anpassung bestehender Regelungen zum Geheimnisschutz
  • 3. Einführung eines relativen In-​Camera-​Verfahrens
  • 4. Anpassung bestehender Regelungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen bei Prozessabschluss
  • F. Fazit
  • G. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen
  • Literaturverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

Hinsichtlich der verwendeten Abkürzungen wird verwiesen auf:Kirchner, Hildebert, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Auflage 2018.

Im Übrigen gelten die folgenden Abkürzungen:

AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Einl. Einleitung

GeschGehG Geschäftsgeheimnisgesetz

GRC Grundrechtecharta

MarkenG Markengesetz

←18 | 19→

A. Einleitung und Gang der Untersuchung

Geschäftsgeheimnisse sind für Unternehmen und Forschungseinrichtungen jeder Art und Größe sowie jeglichen Wirtschaftszweiges von wesentlicher Bedeutung. Sie können in vielfältiger Weise in einem Unternehmen vorliegen und sind insbesondere im technologischen und kaufmännischen Bereich zu finden, beispielsweise in Form von Produktionsprozessen, Forschungsergebnissen, Erfindungen, Geschäfts- und Marktstrategien, Vertriebskonzepten oder Kunden- und Lieferantendaten.1 Solche Informationen stellen immaterielle Vermögenswerte dar, die erhebliche Wettbewerbsvorteile schaffen können und somit den Erfolg eines Unternehmens am globalen Markt entscheidend mitbestimmen. Geschäftsgeheimnisse gehören regelmäßig zu den wertvollsten Vermögenswerten eines Unternehmens und sind maßgeblich für die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit.2 Es handelt sich dabei um intellektuelles Kapital, dem als Wirtschaftsgut eine herausragende und existenzielle Bedeutung zukommt und dessen Schutz daher ebenso bedeutsam ist wie der Schutz materieller Vermögenswerte.3

Hinzu kommt, dass der Wert von Geschäftsgeheimnissen in den zurückliegenden Jahrzehnten deutlich gestiegen ist. Grund hierfür ist die stetig steigende Komplexität von Produkten und Fertigungsprozessen, die sich parallel mit einer Schwerpunktverlagerung von Mechanik hin zu Elektrik, Elektronik, Software- und Computertechnologie entwickelt hat.4 Die verbreitete Digitalisierung von Informationen und die allgegenwärtige Zugriffsmöglichkeit auf das Internet ←19 | 20→vereinfachen jede Form der Spionage und machen sie umso gefährlicher.5 Der in der deutschen Wirtschaft durch Ausspähungshandlungen zu verzeichnende Schaden beträgt jährlich in etwa 50 Milliarden Euro.6 Die Gefahr einer Verletzung ist nicht nur von außen zu befürchten, der Geheimnisverlust resultiert in den meisten Fällen aus einem Verrat durch eigene Angestellte, die sich hieraus einen wirtschaftlichen Vorteil erhoffen.7 Laut einer Umfrage waren im Jahr 2014 rund 26,9 % der befragten Unternehmen Opfer von konkreten Spionagehandlungen, wobei mittlere Unternehmen (30,8 %) und Kleinunternehmen (17,2 %) den größten Teil der Betroffenen ausmachten.8 Weitere 27,4 % verzeichneten zumindest Verdachtsfälle, sodass sich insgesamt jedes zweite Unternehmen mit dem Thema Spionage auseinandersetzen musste.9 Dabei sind insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sowie Start-up-Unternehmen in besonderem Maße auf Geschäftsgeheimnisse angewiesen, da es ihnen häufig an entsprechend ausgebildetem Fachpersonal und finanziellen Möglichkeiten für die Verfolgung, Verwaltung und Verteidigung von geistigen Eigentumsrechten fehlt.10

Auch auf europäischer Ebene hat man die Bedeutung und die Schutzbedürftigkeit von Geschäftsgeheimnissen früh erkannt. So stellte der EuGH bereits ←20 | 21→im späten 20. Jahrhundert fest, dass der Schutz von Geschäftsgeheimnissen ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts und das berechtigte Interesse der Geheimnisträger an der Geheimhaltung ihrer wertvollen Informationen stets zu berücksichtigen sei.11 Schließlicht liegt die Wahrung eines unverfälschten Wettbewerbs auch im Interesse der Allgemeinheit.12 Geschäftsgeheimnisse genießen Schutz durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und fallen in den Anwendungsbereich des Art. 16 bzw. Art. 17 GRCh.13 Ausdrückliche Erwähnung finden sie zudem in Art. 41 Abs. 2 lit. b GRCh, wonach bei der Entscheidung über das Recht auf Aktenzugang berechtigte Interessen der Vertraulichkeit sowie Berufs- und Geschäftsgeheimnisse stets zu berücksichtigen sind. Zudem generiert das in Art. 8 EMRK sowie Art. 7 GRCh normierte und weit zu verstehende Recht auf Achtung des Privatlebens auch Schutz für berufliche und geschäftliche Tätigkeiten, also auch für Geschäftsgeheimnisse.14 Ebenso Erwähnung finden Geschäftsgeheimnisse in Art. 339 AEUV, der neben den übrigen primärrechtlichen Anknüpfungspunkten als Grundlage für den allgemeinen europarechtlichen Grundsatz eines Schutzes von Geschäftsgeheimnissen herangezogen wird.15

In Anbetracht der herausragenden Bedeutung der „Währung der wissensbasierten Wirtschaft16 und dem Erfordernis eines einheitlichen europäischen Schutzstandards wurde im Jahr 2016 die Richtlinie (EU) 2016/943 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger ←21 | 22→Nutzung und Offenlegung (im Folgenden benannt als „(EU-)Richtlinie“ oder „(EU-)Geschäftsgeheimnis-Richtlinie“) erlassen. Darin normiert der europäische Gesetzgeber erstmalig umfangreiche Regelungen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen und stellt fest, dass Geschäftsgeheimnisse in Gerichtsprozessen besonders schutzbedürftig sind und es daher auch entsprechender prozessualer Vorgaben bedarf.

I. Prozessuale Schutzbedürftigkeit von Geschäftsgeheimnissen

Ein nach allgemeinen Grundsätzen öffentlich zu führender Gerichtsprozess, der ein Geschäftsgeheimnis zum Gegenstand hat, stellt ein großes Wagnis für den jeweiligen Geheimnisinhaber dar. So steht etwa in einem gerichtlichen Verfahren wegen der Offenbarung einer geheimen Information das möglicherweise verletzte Geheimnis im Mittelpunkt der Verhandlung. Zur Durchführung des Verletzungsverfahrens und Urteilsfindung bedarf es der zweifelsfreien Feststellung, ob überhaupt ein schutzwürdiges Geschäftsgeheimnis vorliegt und eben jenes verletzt wurde. Hierfür muss der Kläger im Sinne einer wahrheitsgemäßen Sachverhaltsaufklärung alle entscheidungsrelevanten Umstände, also auch das streitgegenständliche Geheimnis selbst, zumindest teilweise umfangreich darlegen und beweisen. Entsprechende Beweiserleichterungen, die den Geheimnisträger vor einer ungewollten Offenbarung schützen, sind im deutschen Recht nicht vorgesehen.17 Dabei besteht nicht nur die Gefahr, dass zum Zwecke einer substantiierten und hinreichend bestimmten Anspruchsbegründung oder effektiven Verteidigung die missbräuchlich verwendete Information erst in der mündlichen Verhandlung öffentlich diskutiert wird. Vielmehr ist eine Offenlegung bereits im vorbereitenden Stadium des Gerichtsverfahrens durch Einreichung und Zustellung der Klageschrift zu befürchten.18

Gleiches gilt im Nachgang für die Tenorierung und Begründung des Urteils.19 Nach neueren Entscheidungen ist es nämlich nicht ausreichend, im Antrag ←22 | 23→beispielsweise lediglich von „Kundendaten des Klägers“ zu sprechen, deren Herausgabe verlangt oder Verbreitung untersagt werden soll.20 Vielmehr bedarf es entsprechend § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO einer detaillierten Umschreibung, die den Streitgegenstand unverwechselbar konkretisiert.

Auf diese Weise erhalten sowohl alle Verfahrensbeteiligten als auch regelmäßig die anwesende Öffentlichkeit umfangreich Kenntnis von der so wertvollen Information. Bereits die Kenntnis nur einer unberechtigten Person kann aber dazu führen, dass die Information ihre so wertvolle Geheimniseigenschaft verliert. Dabei gilt insbesondere zu berücksichtigen, dass gerade in einem Verletzungsprozess häufig ein an der Information besonders interessierter Wettbewerber der klagenden Partei selbst oder aber ein Mitarbeiter eines Wettbewerbers auf der Gegenseite steht oder jedenfalls der öffentlichen Verhandlung beiwohnt.21 Zudem geschieht eine Offenbarung des Geschäftsgeheimnisses unabhängig davon, wie das Verfahren ausgeht und das Gericht letztlich entscheidet. Der Geheimnisträger steht also vor der unangenehmen Wahl, ein Geschäftsgeheimnis für einen möglichen, aber nicht sicheren Prozesserfolg herzugeben.22 Da zu befürchten ist, dass im Laufe des Gerichtsverfahrens das streitgegenständliche Geheimnis offenbart werden muss, lag es bislang oft nahe, von einem prozessualen Vorgehen gegen eine mutmaßliche Geheimnisverletzung gänzlich Abstand zu nehmen.23 Viele entschieden sich daher für eine alternative ←23 | 24→Streitbeilegung, die sowohl aus Zeit- und Kostengründen als auch im Hinblick auf die Vertraulichkeit vorzugswürdig schien.24 So schätzte der deutsche Bundesrat, dass insgesamt lediglich zwanzig der im Jahr 2018 vor deutschen Gerichten geführten Verfahren eine Geheimnisverletzung zum Gegenstand hatten.25 Eine ähnlich niedrige Anzahl an gerichtlich geführten Geheimnisstreitsachen war auch in allen übrigen EU-Mitgliedstaaten zu verzeichnen.26 Die nur sehr geringen Fallzahlen verzögern eine Fortentwicklung des Prozessrechts und der grundrechtlich garantierte freie Zugang zu den Gerichten wird durch diese hemmende Wirkung jedenfalls mittelbar eingeschränkt.27

Zudem verlieren die zum Geheimnisschutz vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe erheblich an Wirksamkeit und Bedeutung. Die einschränkende Wirkung betrifft nicht nur den Geheimnisträger selbst, sondern auch den vermeintlichen Verletzer, der in einem gegen ihn geführten Prozess zu der ihm vorgeworfenen Verletzungshandlung Stellung nehmen soll, aber hiervon möglicherweise zum Schutz seiner eigenen Geheimhaltungsinteressen Abstand nimmt. So befürchtete beispielsweise das beklagte Unternehmen Apple in seinem jüngsten Patentstreit vor dem Landgericht München, dass durch die Offenlegung technischer Pläne die Geheimhaltungsinteressen eines Zulieferers verletzt würden, und machte daher keine tiefer gehenden Ausführungen zu seiner Verteidigung.28 Auch dieser Effekt widerspricht dem Sinn und Zweck geltenden Rechts. Dabei stellte bereits Joseph Kohler Ende des 19. Jahrhunderts fest, dass ein Geschäftsgeheimnis ein rechtliches Gut ist, das vor Eingriffen Dritter geschützt werden muss und insbesondere nicht durch die Rechtsordnung im Prozess gebrochen werden darf.29

←24 | 25→

II. Ziel der Untersuchung

In Anbetracht der besonderen Schutzbedürftigkeit stellt die EU-Geschäftsgeheimnis-Richtlinie spezifische Anforderungen an die nationalen Gesetzgeber der EU-Mitgliedstaaten, um die Vertraulichkeit eines Geschäftsgeheimnisses auch während eines Gerichtsverfahrens sicherzustellen. Aufgrund der bis zum 9. Juni 2018 vorgesehenen Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten wurden entsprechend der europäischen Vorgaben diverse Verfahrensmaßnahmen entwickelt, um den Schutz von Geschäftsgeheimnissen auch im Gerichtsverfahren zu garantieren. Dabei ist es von besonderer Herausforderung, eine Balance zu schaffen zwischen dem Geheimnisschutz einerseits und den Grundsätzen eines fairen Verfahrens andererseits, die eine insgesamt ausgewogene Rechteverteilung fordern. Ziel dieser Arbeit ist es, herauszuarbeiten, welche Anforderungen an den Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Gerichtsprozess zu stellen sind und durch welche Maßnahmen ein effektiver Geheimnisschutz unter Beachtung der Grundsätze eines fairen Verfahrens herbeigeführt werden kann. Hierzu wird zunächst ein Blick auf die Hintergründe der Richtlinie und die in ihr formulierten Anforderungen an Geschäftsgeheimnisse als solche und ihren Schutz im Gerichtsprozess geworfen. Die Richtlinie selbst setzt ausdrücklich voraus, dass bei der Entscheidung über Geheimhaltungsmaßnahmen stets das Recht auf ein faires Verfahren zu berücksichtigen ist. Daher werden im Anschluss an die Ausführungen zur EU-Richtlinie Bedeutung und Umfang des in Art. 6 EMRK geregelten europarechtlichen Fairnessgrundsatzes näher beleuchtet.

In einem nächsten Schritt werden die verschiedenen Umsetzungsmaßnahmen der EU-Mitgliedstaaten30 dargestellt und bewertet. Dabei liegt der Schwerpunkt auf einer Analyse der bisherigen rechtlichen Situation in Deutschland und der Umsetzungsmaßnahmen des deutschen Gesetzgebers. Es folgt eine Zusammenfassung der neuen Gesetzeslage in den übrigen EU-Mitgliedstaaten, wobei erwähnenswerte Bemühungen einzelner nationaler Gesetzgeber besonders hervorgehoben werden. Daran anschließend werden mit Blick auf andere Rechtsgebiete im In- und Ausland weitere mögliche Methoden zum Geheimnisschutz im Gerichtsprozess dargestellt und dahingehend überprüft, ob sie im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie und der europarechtlichen Grundsätze ←25 | 26→eine zweck- und rechtmäßige Balance zwischen dem Geheimnisschutz einerseits und den Grundsätzen eines fairen Verfahrens andererseits schaffen können. Abschließend folgt die Entwicklung eines Lösungsvorschlages zur Generierung eines bestmöglichen Geheimnisschutzes im Hinblick auf die beschriebene Problematik sowie eine entsprechende Überarbeitung der gesetzlichen Regelungen für einen prozessualen Geheimnisschutz im deutschen Recht.


1 BVerfGE 115, 205, 230 – Deutsche Telekom; BGH, GRUR 2003, 453 – Verwertung von Kundenlisten; Ann, in: Ann/et al., Praxishandbuch, Kap. 1, Rn. 74; Ann/et al., Auskunftsanspruch und Geheimnisschutz, Rn. 18 ff., 371; Baker & McKenzie, Study on Trade Secrets, S. 1; Buck, in: jM 2020, 59, 60; Kallerhoff/Mayen, in: Sachs/Schmitz, VwVfG, § 30, Rn. 13; Reinfeld, GeschGehG, § 1, Rn. 168; Rosenthal/Hamann, in: NJ 2019, 321; Stadler, in: NJW 1989, 1202.

2 Alexander, in: Köhler/et al. UWG, Vorb. § 1 GeschGehG, Rn. 38 ff.; Stürner, in: JZ 1985, 453; Wiese, EU-Richtlinie, S. 2.

3 BGHZ 16, 172, 175 f. – Dücko; Bartenbach, Patentlizenz- und Know-how-Vertrag, Rn. 2532; Hauck, in: MüKo UWG, Bd. 1, Teil I, Rn. 272; Kalbfus, in: GRUR-Prax 2017, 391, 392; Müllmann, in: WRP 2018, 1177.

4 Huber, in: Ann/et al., Praxishandbuch, Kap. 1, Rn. 235; Harte-Badendamm, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, Vorb. § 17, Rn. 1; Wiese, EU-Richtlinie, S. 2.

5 Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme vom 16.7.2014, C 226/49, Ziff. 4.7; Hernandez, Trade Secret Protection in the U.S. and EU., S. 14; Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 1, Rn. 5; Hillenbrand, Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, S. 2; Hogan Lovells International LLP, Report on Trade Secrets, Ziff. 19; Müllmann, in: WRP 2018, 1177, 1179; Winzer, Schutz von Geschäftsgeheimnissen, Rn. 5.

6 Hoeren/Münker, in: WRP 2018, 150.

7 Baker & McKenzie, The Board Ultimatum, S. 7; Harte-Bavendamm, in: Harte-Bavendamm/et al., GeschGehG, Einl., Kap. A, Rn. 47, § 2, Rn. 61; Rath/et al., Erste Hilfe GeschGehG, S. 9; Sander, in: GRUR Int. 2013, 217, 218 f.; Thiel, in: WRP 2019, 700, 703; Voigt/et al., in: BB 2016, 142, 145; Winzer, Schutz von Geschäftsgeheimnissen, Rn. 6; Ziegelmayer, CR 2018, 693, 695.

8 Corporate Trust, Studie: Industriespionage 2014, S. 8, 13, 73.

9 Corporate Trust, Studie: Industriespionage 2014, S. 8, 13, 73.

10 Europäische Kommission, Vorschlag vom 28.11.2013 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung, COM(2013) 813 final, 2013/0402 (COD), S. 3, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52013PC0813&from=DE (Abrufdatum: August 2020); Europäisches Parlament, Arbeitsdokument SWD (2013) 471, S. 1, 3; EWSA, Stellungnahme 2014/C 226/09, Ziff. 1.2, 1.4., 4.4.; Ohly, in: Harte-Bavendamm/et al., GeschGehG, Einl., Kap. A, Rn. 1.

11 EuGH, Urteil vom 24.6.1986, Rs. 53/85, Slg. 1986, I-1965, Ziff. 28 – AKZO Chemie/Kommission; EuGH, Urteil vom 19.5.1994, Rs. C-36/92 P, Slg. 1994, I-1911, Ziff. 37 – SEP/Kommission; EuGH, Urteil vom 14. Februar 2008, Rs. C-450/06, Slg. 2008, I-601, Ziff. 49 – Varec/Belgien; EuGH, Urteil vom 29.3.2012, Rs. C-1/11, EuZW 2012, 360, Ziff. 43 – Intersoh/SAM; EuGH, Urteil vom 19.6.2018, Rs. C-15/16, EuZW 2018, 697, Ziff. 53 – Bundesanstalt für Finanzdienstleistung/Baumeister.

12 EuGH, Urteil vom 14.02.2008, Rs. C-450/06, Slg. 2008, I-601, Ziff. 50 – Varec/Belgien

Details

Seiten
246
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631864876
ISBN (ePUB)
9783631864883
ISBN (MOBI)
9783631864890
ISBN (Hardcover)
9783631862766
DOI
10.3726/b18876
DOI
10.3726/b18905
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 246 S.

Biographische Angaben

Kristina Kober (Autor:in)

Kristina Kober studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Geistiges Eigentum und Wettbewerb an der Universität zu Köln. Das Referendariat leistete sie am Landgericht Aachen mit Stationen in Brüssel und München ab. Sie ist seit Juni 2018 als Rechtsanwältin zugelassen und berät in einer international tätigen Kanzlei zu allen Themen im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes.

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