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Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart

von Monika Leipelt-Tsai (Autor:in)
©2021 Monographie 342 Seiten

Zusammenfassung

In diesem Band wird die neue Verknüpfung von literarischem Familienroman mit Diskursen der Neurowissenschaften und Gerontologie anhand von Demenz-Erzählungen textologisch entfaltet. Nach einer Archäologie des deutschsprachigen Begriffs «Demenz» in allgemeinsprachlichen und medizinischen Nachschlagewerken werden literarische Texte zwischen Autobiografie und Psychothriller (von Arno Geiger, Helga Königsdorf, Tilman Jens, Roswitha Quadflieg, Martin Suter, Ulrike Draesner, J. Bernlef und Hélène Cixous) bezüglich des genus als Geschlecht, Gender bzw. Genre untersucht. Zwischen wissenschaftlichem und literarischem Diskurs stört «Demenz» die Wissens-Ordnungen der Moderne. Der Band zeigt in Demenz-Romanen der Gegenwart die Produktivität des Nichtwissens von Demenz für die literaturwissenschaftliche Forschung auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • I. Erzählungen von ‚Demenz‘. Zur Einführung
  • 1.1 Zur Frage des Wissens von der Demenz in literarischen Texten
  • 1.2 Literarische Texte von Demenz-Erzählungen. Ein exemplarischer Überblick
  • 1.3 Imaginär aufgeladenes Wissen im Modell der ‚Plaque‘
  • 1.4 Weitere Demenz-Erzählungen in anderen Diskursen
  • 1.5 Foucault und die Frage nach dem Wissen der Medizin als Erzählung
  • 1.6 Von dementia und amentia. Eine Entfaltung
  • 1.7 Der deutschsprachige Begriff ‚Demenz‘ in fachsprachlichen Nachschlagewerken
  • 1.8 Der deutschsprachige Begriff ‚Demenz‘ in allgemeinsprachlichen Nachschlagewerken
  • 1.9 Problematik der Erzählung von ‚Demenz‘
  • 1.10 Demenz als Erzählung von Nicht-Wissen. Zum Ansatz dieses Buches
  • II. Textologische Lektüren
  • Praxis des Sprachspiels. Strukturell-weibliches Um-Schreiben von Demenz in Hélène Cixous’ „Osnabrück“
  • 2.1 Fluidität von ‚Demenz‘ in Hélène Cixous’ „Osnabrück“
  • 2.2 Sprachspiel und Verkehrung von Demenz: ‚zu [S]‌chafen‘ machen
  • 2.3 Schutz
  • Demenz und (Post-)Romantizismus in Arno Geigers Roman „Der alte König in seinem Exil“
  • 3.1 Buch – Buche
  • 3.2 Familiale Genealogie von Demenz?
  • 3.3 „Meine Schuhe haben nicht die richtige Übersetzung“. Umherirren in stetiger Nacht
  • 3.4 Auflösung von Verbindungen im neuen Subgenre ‚Demenz-Roman(tik)‘
  • 3.5 Eine Inklusion des ‚Anderen-als-Erkrankten‘?
  • 3.6 ‚Ewiges Werden‘
  • Heterotopie, Obdachlosigkeit und Unheimeligkeit. Helga Königsdorfs „Die Entsorgung der Großmutter“ und Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“
  • 4.1 Eigentum und Verwandtschaftsbeziehungen in „Die Entsorgung der Großmutter“
  • 4.2 Metamorphose zu einem unnützen „Un-Wesen“
  • 4.3 Eine andere Art von Obdachlosigkeit in Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“
  • 4.4 Eine Frage des Verlusts
  • Die Auflösung von/einer Geschichte. Tilman Jens’ Roman „Demenz. Abschied von meinem Vater“
  • 5.1 Ein Mythisierungsprozess
  • 5.2 Ein vermeintliches Wissen vom sogenannten ‚Genie‘
  • 5.3 ‚Hämmernde‘ Anklänge an den literarischen Diskurs
  • 5.4 Dokumentarische ‚Technik‘ der Erinnerung, dramatisch gestaffelt
  • 5.5 Das Publikum als „pharmakon“?
  • 5.6 Die Frage der NSDAP-Mitgliedschaft und „Jenningers törichte Rede“
  • 5.7 Jahrzehntelanges Schweigen als „politische Demenz“?
  • 5.8 Eine „vitale Vergesslichkeit“
  • 5.9 Auflösung von Identität und Historizität
  • Variationen von Alterität und Gender. Demenz in Roswitha Quadfliegs Roman „Neun Monate. Über das Sterben meiner Mutter“
  • 6.1 Die Frage der Identität. „Frau Q.“ alias „Frau B. Anders“
  • 6.2 Im Transit. Über-Setzungen und „Phantasus“
  • 6.3 Die Strategie der quaestio
  • 6.4 Spiel mit der Alterität: Das fremde Land als die Fremde
  • 6.5 Aufzeichnungen, und die Metaphorik des Fließens als Redestrom
  • 6.6 Mutter – Mund
  • Literarisches genus und (Nicht-)Erinnern in Demenz-Erzählungen von Martin Suter, J. Bernlef und Ulrike Draesner
  • 7.1 Ein Einblick in Martin Suters Roman „Small World“
  • 7.2 Ambiguitäten des Gedächtnisses und der kindlichen Identität
  • 7.3 „Es schneit sogar in mir“ – J. Bernlefs Topos des Winters und das Motiv des Schnees
  • 7.4 Die Poetik in Draesners Kurzgeschichte „Ichs Heimweg macht alles alleine“
  • 7.5 Draesners „Bach in den Rohren“ als ‚Pipe dreams‘
  • 7.6 Der Bericht des erzählenden Ich und das Ikarus-Motiv bei Draesner
  • 7.7 Draesners zweite Version „Ichs Heimweg macht alles allein“
  • 7.8 Zur Frage des genus in anderen zeitgenössischen Demenz-Erzählungen
  • III. Literatur

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Vorwort

Die vorliegende Monographie „Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart“ trägt einen provokanten Titel, der aufstößt. Denn gemeinhin denkt man poetische Dichtung und demenzielle Erkrankungen nicht zusammen. Die wissenschaftliche Fragestellung nach der ‚Demenz‘ wendet sich an eine breite Leserschaft, um darauf hinzuweisen, dass die Umwertung der Formulierung des Begriffs ‚Demenz‘ gesellschaftlich von hoher Relevanz ist. In der Einleitung wird der vielfältige Wandel des deutschsprachigen Begriffs ‚Demenz‘ chronologisch und begriffshistorisch in allgemeinsprachlichen und medizinischen Nachschlagewerken verfolgt. An diesem Beispiel wird verdeutlicht, auf welche Weise Sprache und ethische Fragen miteinander verzahnt sind. So wird aufgezeigt, dass die Brüche in der Formulierung von Erkrankung wesentlich mitbestimmen, welche Personengruppe in ihren Grundrechten zu jeweils unterschiedlich historischer Zeit geschützt oder (z.B. im Nationalsozialismus durch vermeintliche ‚Euthanasie‘) nicht geschützt wird. Diese Thematik ist von literaturwissenschaftlicher, sozialer sowie europäischer Relevanz, weshalb im Folgenden verschiedene literarische Texte aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich analysiert werden.

Die Entstehung von Differenz als Geschlecht(ung) zeigt sich nicht allein in den drei soziologischen Konstrukten von Geschlecht, Ethnizität und Gesellschaftsschicht (im Englischen als ‚gender‘, ‚race‘ und ‚class‘ bezeichnet), vielmehr bewirken schwere Erkrankungen ebenfalls soziale Verwerfungen. Durch die Methode der Geschlechterforschung werden das zirkulierende Wissen vom Altern und den Denkkapazitäten im Alter hinterfragt und Alternativen aufgezeigt. Es erweist sich, dass literarische Erzählungen in verschiedenen generationellen Konstellationen strukturell unterschiedliche Schreibverfahren nutzen, um das Denken von ‚Demenz‘ zu formulieren oder umschreibend offen zu lassen, respektive zu variieren und zu modellieren. Als ich das Schreiben an dem vorliegenden Band im Dezember 2020 beendete, wurde die Aktualität der Problematik des Schutzes von Wehrlosen und Erkrankten auch global sichtbar: In Zeiten der COVID-19-Pandemie diskutierte man in vielen Ländern darüber, ob der Sicherheit von erkrankten und älteren Menschen höchste Priorität einzuräumen sei, oder ob die Wirtschaft zu schützen sei, damit das Leben der Erwerbstätigen generationengerecht erleichtert werde.

Wie kam es zu diesem Buch? Im Frühling 2016 erhielt ich ein „Call for papers“ des „Enlightenment and Romanticism Network EARN“, das damals mit dem „Department for English“ der Nationalen Chengchi Universität (國立政治大學) in Taipeh, an der ich arbeite, zusammenarbeitete. Das Thema der zweitägigen internationalen Konferenz lautete „Romantic Legacies“, und ich überlegte, zu welchem aktuellen Vermächtnis der literaturgeschichtlich als ‚literarische Romantik‘ eingeordneten Epoche ich mich dort mit einem Vortrag bewerben könnte. Dabei fiel mir ←9 | 10→Arno Geigers Buch „Der alte König in seinem Exil“ von 2011 ein, das ich mir auf Empfehlung meiner Freundin Martina Ludwig angeschafft hatte: Das Cover von Geigers Buch erinnert in gewisser Weise an ein romantisches Gemälde. Diese Verknüpfung zur sogenannten ‚Romantik‘ mag für Außenstehende überraschend sein, denn man erwartet in einem Demenz-Roman keine romantizistischen Anklänge. Jedoch wurde bei meiner Arbeit dieser Zug im Schreiben Geigers sowie textologisch in der visuellen Darstellung ganz deutlich. Mich begeisterte, dass bei Geiger zugleich die Ambivalenz von demenziellen Erkrankungen herausgestellt wird. Im Roman „Der alte König in seinem Exil“, der zudem 2014 auch von der Bundeszentrale für politische Bildung als Sonderausgabe herausgegeben wurde, sagt Geigers Erzähler, die Demenzerkrankung des Vaters habe ihn dazu gebracht, sich der Welt weiter zu öffnen: „Das ist sozusagen das Gegenteil von dem, was der Alzheimerkrankheit normalerweise nachgesagt wird – dass sie Verbindungen kappt. Manchmal werden diese Verbindungen geknüpft.“ Seine literarische Erzählung lässt so Demenz anders denken.

Nach meinem ersten Konferenzvortrag zu „Dementia and (Post)Romanticism in Arno Geiger’s ‚Der alte König in seinem Exil‘ (The old king in his exile)“ im November 2016 begann ich mich intensiv mit weiteren Demenz-Erzählungen zu befassen. In der Folge hielt ich auf vier internationalen Konferenzen in Taiwan und einer Konferenz in Tokio dazu Vorträge (auf Englisch bzw. Deutsch, Einzelheiten sind auf meiner Webseite <https://monikaleipelttsai.wordpress.com/> abrufbar). Es waren Exzerpte von einigen der folgenden Kapitel, wie jeweils in den Fußnoten angemerkt. Ich danke diesbezüglich für die finanzielle Unterstützung von zwei einjährigen Forschungsprojekten durch das Ministry of Science and Technology in Taiwan (MOST Nr. 105-2410-H-004-100- („在當代德國小說裡的老年癡呆症敘述“) und Nr. 106-2410-H-004-021-(„性別問題在當代德語 ‘療養院小說“), deren Ergebnisse in den vorliegenden Band eingeflossen sind. Keines der vorliegenden Kapitel wurde jedoch zur Gänze vorgetragen und es wurde dazu zuvor auch kein Aufsatz andernorts publiziert. Die hier vorliegenden Kapitel wurden vielmehr gesammelt, nach intensiven Diskussionen überarbeitet und erweitert, und alle für das vorliegende Buch geschrieben. Demenz-Erzählungen betreffen früher oder später alle alternden Menschen. Sie thematisieren die Unsicherheit unseres Wissens von Erkrankung und führen dadurch zu der entscheidenden Frage, wie wir leben wollen.

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I. Erzählungen von ‚Demenz‘. Zur Einführung

Dementia unfolded – Foucault – literary German language texts – plaque – ‘Demenz’ in historical reference works – rupture of civilisation – medical discourse as knowledge?

Since the last turn of the millennium, more and more German-language literary novels deal with the topic of dementing diseases. Where does this knowledge come from, and how is it generated? When was the German term ‘Demenz’ (‘dementia’) firstly used in fiction? The now prominent topic leads people to worry about their own age. After all, finding information and being able to prioritise it is one of the conditions for optimising the subject of modernity. The compulsion for self-optimisation, which can be formulated with Foucault as concern for the body and for the self, began to take hold already in the 18th century. The term ‘dementia” is difficult to grasp and appears to be extremely diverse. This introductory chapter additionally analyses general historical language reference works to find out: When was the term ‘Demenz’ transformed into everyday language? In a chronological overview, this chapter traces back when literary German-language narrations started to codify ‘Demenz’ and link this with Cixous’ thinking of two economies of libidinous production of writing. Our society usually lets the medical discourse decide on the thinking of the ‘Other-as-diseased’ in the sense of a normative conception, which notably produces a dehumanizing construction of uselessness. In order to construct a so-called ‘normality,’ the bodies of the others must first be discarded by demarcation and exclusion in the discourse. Dementia narratives provide insight into an in-between of madness and knowledge, which is excluded by the dominant society. This generates questions that are fundamental to communication about older people with dementing diseases. The discursive boundaries of categories as a kind of gendering of the subject can be related to the binary opposition of illness versus health. How is knowledge of dementia formed in the new subgenre ‘dementia novels’ and what does this have to do with genus?

1.1 Zur Frage des Wissens von der Demenz in literarischen Texten

Seit der letzten Jahrtausendwende wird in deutschsprachigen belletristischen Romanen, diversen literarischen Texten und erfolgreichen Filmen mehr und mehr von demenziellen Erkrankungen erzählt. Der kaum fassbare Begriff ‚Demenz‘ erscheint dabei höchst vielfältig, wobei das vormals ausgeschlossene Thema die Lesenden verstört und überraschender Weise zugleich auf besondere Art anspricht. Beispielsweise erzählt das autobiografische Buch „Heute hat die Welt Geburtstag“ des Keyboarders der international berühmten Musikgruppe „Rammstein“, ←11 | 12→Christian „Flake“ Lorenz, vordergründig trivial und naiv-närrisch aus dem Musikerleben. Doch selbst bei dieser einfachen Erzählerfigur eines ‚Simplizissimus der Gegenwart‘ mit ihrem trockenen Humor und monologischer Mündlichkeit macht sich eine Angst breit, wenn sie von Schlaflosigkeit berichtet:

Es geht bei dieser Verstörung nicht allein um eine Angst und Abwehr vor dem Tod, vielmehr spielt Flakes Erzähler mit dem Gedanken einer eigenen demenziellen Erkrankung. Er stellt dabei die Frage, auf welche Weise er sterben bzw. eben nicht sterben will. Die Vorstellung von Demenz wird hier bereits als ein Wissen vorausgesetzt und als „eine Zwischenwelt“ imaginiert, die optisch erfahren wird („vorflimmern“) und sich insbesondere als Verknüpfung zum nahen Sterben geriert. Das Wissen von der Möglichkeit einer demenziellen Erkrankung wird so zur Sorge um sich: Kann man seine eigene Demenz wahrnehmen? Wie sollte dies möglich sein? Aber will man überhaupt von seiner eigenen Demenz wissen? Oder will man sich lieber nicht damit beschäftigen und die im Text ausgesparte, unangenehme Vorstellung einer Langzeitpflege in Zeiten des dauerhaften Pflegenotstands2 verdrängen? Bemerkenswert ist hier ferner, dass Flake nicht allein ein bestimmtes Selbstverhältnis artikuliert, sondern sich die Frage nach den anderen stellt, „die […] mit mir ja auch nichts mehr anfangen“ können. Das Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren von sprachlicher Kommunikation erscheint für die Beurteilung von demenziellen Erkrankungen als wesentlich. Diese Formulierung rekurriert darauf, dass Demenz als etwas erscheint, das mit Sprache zu tun hat. Die (unmögliche) Frage der Demenz ist: Wie bringe ich den Irrsinn zur Sprache? Es fragt sich aber: Was ist überhaupt Demenz? Große Probleme der Sinneswahrnehmung bei älteren Personen, die schwerhörig sind oder an Augenerkrankungen leiden, werden von Außenstehenden oft für Demenz gehalten. Das verweist auf ←12 | 13→das Grundproblem, von anderen Menschen als dement wahrgenommen und exkludiert zu werden.

Neben dem Bezug zur Gesellschaft wird in Flakes Autobiografie auch ein Problem des Selbstbezugs von Erkrankten deutlich, wenn diese die Veränderung ihrer Identität nicht akzeptieren können. Die Selbstvergewisserung bei einem physischen und psychischen Gebrechen mit Gedächtnisverlust scheint nicht mehr möglich. Was sagt das über die Gesellschaft von heute aus? Die Sorge um sich zeigt sich nicht allein in einer singulären Angst3 vor dem Altern, vielmehr hat dieses Phantasma das kollektive Gedächtnis erreicht und wirkt symptomatisch für die Gegenwart. Demnach ist heute der Angst vor dem Altern zugleich eine Angst vor einer Demenzerkrankung inhärent, der sich nicht nur alternde Rockstars stellen müssen. Wenn der soziale Austausch nicht mehr möglich wird, stellt sich die Frage nach dem Subjekt („Bin ich dann noch ich?“) als vermeintlich feststehendes Konstrukt der eigenen Identität. Weiter gedacht, problematisiert dies dann auch spannende ethische Fragen des Humanen, wie z.B.: Was wird bei einer dementiellen Erkrankung zerstört und was bleibt erhalten? Überlebt dabei so etwas wie die Psyche?

Das prominent gewordene Thema führt dazu, sich um sein eigenes Alter in Demenz Sorgen zu machen. Denn wichtige Informationen zu finden und diese nach Prioritäten ordnen zu können, ist eine der Bedingungen für die Optimierung des Subjekts der Moderne, bei der das Gehirn als wichtigste der Zentralstellen der Nervenregulation die Hauptaufgabe übernehmen soll. Der Zwang zur Selbstoptimierung, der als Sorge um den Körper und Sorge um sich formuliert werden kann, setzte bereits um 1754 bei Johann Joachim Winckelmann in seiner Einführung von „Gedanken über die Verfertigung der griechischen Bilder“ ein.4 Der Liberalismus fordert vom Subjekt seit dem 18. Jahrhundert die Hervorbringung einer neuen Gattung von Menschen in der Moderne, die besser werden könne und müsse. Dies setzt auch die Menschen der Gegenwart unter enormen Druck. Durch diese Liberalismuserzählung wird dem Subjekt die Pflicht auferlegt, sich selbst zu optimieren und ökonomisch zu denken. In einer Bewegung gegen diese Herabsetzung ←13 | 14→und dessen nachfolgend überwältigende wirtschaftliche Macht schuf Jean-Jaques Rousseau als prototypische Gegenerzählung zum Liberalismus seine Erfindung des von der Kultur unbeeinflussten ‚glücklichen Naturzustands‘ des Menschen. Als einer der wichtigsten Philosophen des 18. Jahrhunderts,5 der sich strikt gegen den Glauben an eine positive Evolution durch die Wissenschaften positioniert, kritisiert Rousseau damit den zentralen Liberalismus der Aufklärung als Grunderzählung und verweist auf die negative Kehrseite des Fortschritts, die im menschlichen Denken bzw. seiner Vernunft angelegt seien. Gegenüber den Erzählungen einer Evolution weisen demenzielle Erkrankungen in ihrer Verbindung zu reduzierter kognitiver Kapazität und Wahrnehmungsverschiebungen auf eine Form von Rückschritt. Das moderne liberale Menschenbild fungiert über die Selbstoptimierung des Subjekts in der heutigen Gesellschaft. Wenn also demenzielle Erkrankungen auch als Zeichen einer Kultur des Vergessens betrachtet werden können, da letztere durch ihre Beschleunigung6 eine Unübersichtlichkeit hervorbringen, stößt dies auf, denn es steht gegen die Selbstoptimierung des Subjekts. Denn mit einer demenziellen Erkrankung wird das Bild von sich und der Welt instabil.

Unterhaltungsfilme mit dem Thema ‚Demenz‘ gelten als Erfolgsgeschichte. International wurde u.a. im Jahr 2006 die Kurzgeschichte „Der Bär kletterte über den Berg“7 der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro verfilmt, in der die Figur der an Demenz erkrankten Ehefrau im Pflegeheim wenig Interesse an ihrem Ehemann zeigt und sich einem anderen zuwendet. Die bisher erfolgreichste deutschsprachige mediale Verarbeitung des Themas ‚Demenz‘ ist die Komödie „Honig im Kopf“ von 2014. Sie erzählt aus der Sicht einer Familie vom Fortschreiten der demenziellen Erkrankung einer charmanten Großvaterfigur. Der Großvater „Amandus“, gespielt von Dieter Hallervorden, verfällt kontinuierlich geistig und motorisch, nachdem seine Frau verstorben ist.8 Das Tragische wird hier durch Komik erzählbar gemacht, jedoch wird das Leiden weitestgehend ausgespart. Ein weiterer Kinoerfolg im gleichen Jahr, der ebenso die ‚Alzheimer‘ genannte demenzielle Erkrankung thematisiert, war der US-amerikanische Film „Still Alice“ nach einer Romanvorlage der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova aus dem Jahr 2007/2009. Er erzählt mit zurückhaltendem Ernst aus der Perspektive der fiktiven, ←14 | 15→fünfzigjährigen Linguistin „Alice“, die nach der Diagnose einer erblichen Form früh einsetzender Alzheimerdemenz langsam das Gedächtnis verliert.9

Der Film- und nun insbesondere der Buchmarkt haben in den deutschsprachigen Ländern die Rede von der Demenz populär gemacht und dabei unterschiedliche Wissensbereiche zwischen Literatur und Wissenschaftsdiskursen der Medizin, Gerontologie, Demoskopie, Philosophie, Rechtsethik, und anderen verknüpft. So entstanden in Deutschland, Österreich und der Schweiz immer mehr deutschsprachige Romane, die als „Demenzromane“10 oder z.T. als „Pflegeheimromane“11 bezeichnet werden, da sie mehr oder weniger direkt die Problematik einer demenziellen Erkrankung im höheren Alter ansprechen. Dazu gehören neben weiteren, die im Folgenden genauer angesprochen werden (s.u.), u.a. auch Thomas Langs „Am Seil“ und Annette Pehnts „Haus der Schildkröten“ (beide von 2006), Rudi Assauers „Wie ausgewechselt. Verblassende Erinnerungen an mein Leben“ (2012), Hilda Röders „Henning flieht vor dem Vergessen. Ein Roman über Würde, Alzheimer-Erkrankung und Sterbehilfe“ (2013), Bettina Tietjens „Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich“ (2015), „Hier können Sie im Kreis gehen“ von Frédéric Zwicker und Inge Jens‘ „Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken“ (beide von 2016), „Was machen wir mit Mama? – Verloren im Nebel der Demenz“ von Helma Blank (2016), „Die Fliegengöttin“ (2018) des Schweizer Schriftstellers Hansjörg Schertenleid und Martina Bergmanns Roman „Mein Leben mit Martha“ (2020). Der Effekt der Popularisierung von Demenz-Erzählungen kann als entscheidender Hinweis gesehen werden, dass sich eine neuartige Literatur entwickelte. Die große Anzahl von deutschsprachigen Publikationen, welche das vormals eher tabuisierte Thema der demenziellen Erkrankungen zur Sprache bringen, ist ein Indiz dafür, dass die Erzählung von Demenz eine neue Untergattung von Literatur hervorgebracht hat. Als These kann zugespitzt formuliert werden, dass um die Jahrtausendwende ein neues Subgenre des Familienromans12 in den literarischen Diskursen entstanden ist. Dieses neue Subgenre ←15 | 16→‚Demenz-Roman‘13 spricht oft von Verlust und zukünftigem Tod und führt in seiner Vielfältigkeit eine Form von Alterität vor, welche das Andere der Vernunft inszeniert.

Wahn und Wissensdiskurs sind verflochten, was die Entscheidbarkeit von Wissen und Wahn und damit deren Grenze hinterfragt.14 Die Erzählung von Demenz gibt Einblick in ein Dazwischen von Wahnsinn und Wissen, das von der dominierenden Gesellschaft mit ihrem sogenannten ‚westlichen‘ Logos ausgeschlossen wird. Sie generiert Fragen, die für die Kommunikation über ältere Menschen im Falle ihrer Gedächtnisschwäche grundlegend sind. Unsere Gesellschaft lässt üblicherweise den (schul)medizinischen Diskurs über das Denken des/der ‚Anderen-als-Erkrankten‘ (als ‚Othering‘) im Sinne einer Normvorstellung entscheiden, was insbesondere eine entmenschlichende Konstruktion von Nutzlosigkeit produziert. Um das Konstrukt einer sogenannte ‚Normalität‘ und eine kulturelle Norm herzustellen, müssen erst die Körper der anderen durch Ab- und Ausgrenzung im Diskurs (z.B. als unproduktiv bzw. untauglich15) verworfen werden. Die diskursiven Grenzen von derlei Kategorien als eine Art Geschlechtung16 der Subjekte hat unter anderem Judith Butler in ihrem Buch „Körper von Gewicht“ bezüglich der Kategorie ‚Gender‘ neu gedacht und die Wichtigkeit der regulierenden Normen diskutiert. Das konstitutive Außen gehört demnach zum Bereich des Subjekts selbst.17 Butler formuliert es so:

„Das Verworfene [the abject] bezeichnet hier jene ‚nicht lebbaren‘ und ‚unbewohnbaren‘ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ‚Nicht-Lebbaren‘ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen.“18

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Dieser phantasmatische Ort des als nichtlebbar Verworfenen grenzt das Leben der normal(isiert)en Subjekte ein, und gegen diesen bedrohlichen, verwerflichen Ort beanspruchen die Subjekte ihre Autonomie. Obgleich sich Butler auf die Genderfrage konzentriert, kann man die Problematik der sozialen Zuschreibung auch auf die Opposition Krankheit/Gesundheit beziehen. Wie formiert sich das Wissen von der Krankheit ‚Demenz‘ in den neuen ‚Demenz-Romanen‘ und was hat dies mit genus als Geschlechtlichkeit zu tun?

Geschlechtung bezeichnet den sprachlichen Vorgang der Klassifizierung und Einordnung. In der deutschen Sprache besteht beispielsweise das Problem einer gendergerechten Kennzeichnung des selbstbestimmten soziologischen Geschlechts einer Person, welches mehr oder weniger fluid ist. Ein grammatisches Geschlecht ist weder ein anatomisch-biologisches noch ein soziologisches (sichtbar z.B. am deutschen Nomen „das Mädchen“). Nach jahrzehntelangem Verfolgen der Diskussionen (inklusive aktuell zu Unterstrich, Doppelpunkt und Sternchen, welche eine über die Nomen hinaus betreffende Grammatik verkomplizieren, z.B. bei Pronomina) und dem Bedenken, dass in der folgenden Analyse historischer Wörterbücher (s.u.) auch der Asterisk als bedeutungstragendes Zeichen verwendet wird, nutze ich im vorliegenden Band ein Binnen-I, um alle Geschlechtlichkeiten in ihren Spektren als plural und wechselhaft zu markieren bzw. zu inkludieren. Dabei berufe ich mich nicht auf ein traditionelles generisches Femininum, vielmehr auf das transbinäre dionysische Prinzip der weiblichen Fülle aus der antiken Tragödie, in dem sich „Männlichkeit und Weiblichkeit zu einer Doppelnatur verbinden, welche wechselhaft schwankender Ungewissheit und Offenheit [korrespondiert], die sich maskiert und ein gespaltenes Verhältnis von Geschlechtlichkeit aufweist“,19 denn das Dionysische oszilliert „in einer schwankenden Wechselhaftigkeit der Geschlechtlichkeit, ist aber vor allem dem Weiblichen inne“.20 Auch Barbara Vinken schreibt:

„Weiblichkeit ist […] das Moment, das Identität durchkreuzt; Frau der Ort, wo die Fixiertheit des Geschlechtes durch das Spiel von Differenz und Division ver-rückt wird, wo Geschlecht, Bedeutung und Identität gleichzeitig erschaffen und zersetzt werden“.21

Im Folgenden wird das Binnen-I in Nomen transponiert als eine Pluralität von dionysisch-weiblichen Formen gelesen, welche jedwede Geschlechtlichkeit (inklusive einer nichtbinären) inkorporieren.

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In der deutschen Sprache ist das Geschlecht nicht allein grammatisch von Bedeutung. Auch die Einordnung einer Person zu einer schweren Erkrankung – als Be- und Verurteilung durch den medizinischen Diskurs – bedeutet eine Form von Geschlechtung als Einordnung in eine Hierarchie, so z.B. wenn jemand für dement erklärt und nachfolgend in die Psychiatrie eingeliefert wird. Durch die einordnende Kategorie der Demenz als ein ‚Gendern‘ bzw. als Geschlechtung erscheint ein Subjekt nicht mehr als einzelne Person, sondern als ein Krankheitsbild, und wird bestimmter Rechte22 und/oder Verpflichtungen enthoben. Neben den Kategorien Geschlecht, Ethnizität und soziale Klasse (‚gender‘, ‚race‘ und ‚class‘23) wird in der literaturwissenschaftlichen Forschung auch das Alter (‚age‘24) als Differenzkategorie aktuell hinterfragt. Auch wenn grundsätzlich jede Literatur mit dem Wahn kommuniziert, so ist der Trend zu Demenz-Erzählungen doch bemerkenswert. Die große Demenz-Erzählung in ihrer Vielfältigkeit soll diesbezüglich im Folgenden exemplarisch untersucht werden.

1.2 Literarische Texte von Demenz-Erzählungen. Ein exemplarischer Überblick

Das Problem der neuen Krankheitsbilder von demenziellen Erkrankungen wird auch zunehmend von den Literatur- und Kulturwissenschaften wahrgenommen. Die neue belletristische Literatur zu Demenz fällt sehr unterschiedlich aus. Zu den wichtigsten Modellen „heterodiegetischer“25 Demenz-Erzählungen gehören nach Ulrike Vedder das Genre des Eheromans und das des Generationenromans.26 Die neuartigen Demenz-Erzählungen beschäftigen sich insbesondere mit dem Thema der Altersdemenz und den vielen Fragen, welche durch den starken Rückgang der geistigen und körperlichen Fähigkeiten aufgeworfen werden. In diesen deutschsprachigen Romanen der Gegenwart wird häufig in einer autofiktionalen Form zwischen narrativer Rekonstruktion und literarisch-fiktionaler Anverwandlung das Thema eines langsamen und problematischen Abschieds von einem Elternteil oder des Lebenspartners sowie die Auflösung der betroffenen Familie verarbeitet. Die Frage des Erinnerns und Vergessens wird dabei stets höchst prominent problematisiert. Daher kann man diese Form zudem in die Kategorie der ←18 | 19→„Erinnerungsromane“ einordnen, weil darin „im Unterschied zum Gedächtnisroman […] der Vorgang der Erinnerung ausdrücklich problematisiert [wird], die für den Gedächtnisroman typische Sicherheit, dass das, was erinnert wird, auch wirklich so geschehen ist, wird aufgebrochen“.27

Vor der Jahrtausendwende wurde die Thematik der ‚Demenz‘ von deutschsprachigen AutorInnen hingegen relativ selten literarisch verarbeitet, wie im Folgenden auch bei einem exemplarischen chronologischen Überblick deutlich wird. Wann wurde in der Belletristik prominent mit dem Begriff gearbeitet? Eine der ersten deutschsprachigen Erzählungen der Gegenwart, die sich mit den schweren Gedächtnisproblemen eines erkrankten Greises auseinandersetzt, ist beispielsweise der 1979 erschienene Roman „Der Mensch erscheint im Holozän“ des Schweizer Autors Max Frisch. Das Erinnern des isoliert in einem Bergdorf lebenden, verwitweten Protagonisten „Herr Geiser“ wird darin im monologischen Gedankenstrom demonstrativ durch eine logische Operation vorgeführt:

„Herr Geiser weiß sein Geburtsjahr und die Vornamen seiner Eltern, auch den Mädchennamen seiner Mutter und wie die Straße in Basel heißt, wo er geboren worden ist, die Hausnummer –

(was ein Lurch alles nicht weiß).

Herr Geiser ist kein Lurch.

[…] Es bleibt der Druck über der linken Schläfe.

Herr Geiser kann sich nicht erinnern, was er mit Corinne geredet hat, sie weiß alles aus der Zeitung; keine Ahnung, was er, Herr Geiser, berichtet hat.“ 28

Durch die logische Aussage („Geiser weiß sein Geburtsjahr“) wird ein Wissen ausgestellt, welches auf eine noch vorhandene Fähigkeit des Erinnerns verweisen soll. Doch durch die rhetorische Figur des simile werden der alternde Protagonist und ein Amphibium kontrastiv gegenübergestellt, was in ihrer Absurdität tragikomisch dessen Gedächtnisprobleme andeutet. Dass ein Vergessen beim Protagonisten eingesetzt hat, wird dann direkt angesprochen („kann sich nicht erinnern“). Hierbei werden interessanterweise die Erinnerungslücken im Schriftbild durch leere Zeilen zwischen singulären Sätzen bzw. kurzen Absätzen formal angedeutet. Aber in diesem Altersroman Frischs wird eben noch nicht vom Krankheitsbild ‚Demenz‘ gesprochen. Vielmehr verbleibt im Roman „Der Mensch erscheint im Holozän“, der auf die geschichtliche Bedingtheit des Menschen im Unterschied zum Tier verweist29 (welcher erdgeschichtlich im Pleistozän und eben nicht im ←19 | 20→Holozän erscheint), eine stetige Uneindeutigkeit, sodass man sich immer wieder fragt, um welche Krankheit (z.B. ein Schlaganfall) es sich bei seinem in einer Regression30 befindlichen Protagonisten eigentlich handelt. Seine Strategie, Ordnungsmechanismen wie z.B. das Zettelschreiben als rhizomatisches Aufschreibesystem eines externen Archivs gegen seinen Gedächtnisverlust „aufgrund von altersbedingter Amnesie“31 aufzubauen, zeitigt in ihrer Brüchigkeit nur mäßigen Erfolg: Trotz „Geschichtspathos einer kosmischen Allnatur“32 verzettelt sich dieser buchstäblich in seiner existentiellen Ausweglosigkeit. Julia Röthinger konstatiert, dass die „Ursache von Geisers Identitätsverlust weniger dessen Alterungsprozess zuzuschreiben ist, als vielmehr der Tatsache, dass es dem Leben Geisers an Leben fehlt – an demjenigen emphatischen Begriff von Leben, wie er von Frisch wiederholt artikuliert […] wird“.33

Der wichtige Roman „Hersenschimmen“ des niederländischen Schriftstellers J. Bernlef, welcher ebenfalls die Vergesslichkeit eines männlichen Protagonisten schildert, kam 1984 heraus. Er wurde unter dem Titel „Hirngespinste“ 1989 ins Deutsche übersetzt und war der erste Roman, der dafür bekannt wurde, dass er das Unmögliche versucht und die Welt eines demenziell Erkrankten aus einer inneren Perspektive beschreibt.34 Er versucht, die Frage zu beantworten: Was geht im demenziellen Prozess mit sprachlichem Vergessen einher? Im vorliegenden Band ←20 | 21→wird er im siebten Kapitel in eine Konstellation mit einem literarischen Text von Ulrike Draesner gesetzt (s.u.). In Bernlefs Roman beginnt der Protagonist, ein über 70-jähriger Rentner namens „Maarten Klein“ aus den Niederlanden, der in die USA emigrierte, Menschen zu verwechseln und sich bei seinen Spaziergängen zu verirren. Seine Ehefrau leidet darunter, dass er schließlich sogar seine Familienmitglieder nicht mehr erkennt und alles um ihn herum zu ‚Hirngespinsten‘ wird. Dabei wird jedoch im Roman die Krankheit nicht mit Namen benannt. Vielmehr überträgt Bernlef den medizinischen Begriff „Alzheimer-Krankheit“ einzig in seinen späteren Epilog „Die Geheimnisse des Gehirns“35 der deutschsprachigen Ausgabe, er findet sich aber nicht im nachfolgenden literarischen Text. Das deutet darauf, dass das Krankheitsbild als ‚Demenz‘ zu dieser Zeit allgemein in der Literatur noch nicht bzw. nur wenig angesprochen und bekannt war. Das änderte sich langsam zu Ende der 1990er Jahre.

Im Jahr 1997 wurde die Erzählung „Die Entsorgung der Großmutter“36 der besonders im Osten Deutschlands bekannten Autorin Helga Königsdorf publiziert. Sie thematisiert neben der moralischen Verwahrlosung der vom sozialen Abstieg bedrohten kleinbürgerlichen Familie „Schrader“ verdeckt auch das Thema ‚Demenz‘, indem an den körperlichen Verfall einer Greisin, der „Großmutter“, erinnert wird. Obwohl die „Großmutter“ nur sporadisch in der Handlung erscheint, verfolgt diese Figur die Familienmitglieder auf unheimliche Weise in deren Gedanken, bis die Familie auseinanderfällt. Die Figur wird – ganz im Unterschied zu den märchenhaften Großmutterfiguren der Brüder Grimm – als von äußerst unangenehmem Charakter beschrieben. Königsdorf stellt dabei die typische, katastrophale Situation in der Familie vor, dass erwachsene Kinder von den demenziell Erkrankten verdächtigt werden, sie würden angeblich Geld stehlen. Während sich die narrative Perspektive je nach Blickwinkel der verschiedenen Familienmitglieder ändert, wird von dem allmählichen Beginn einer Krankheit erzählt, die das Ereignis auslöst: Die Greisin wird schließlich von der Familie ausgesetzt, nachdem sie durch ihren krankheitsbedingten Sprachverlust nicht mehr in der Lage ist, über ihre familiale Herkunft Auskunft zu geben. Dieser Text wird im vierten Kapitel des vorliegenden Bands exemplarisch mit Kristeva gelesen. Königsdorfs Erzählung umschreibt die Erkrankung der „Großmutter“, eines Menschen, der scheinbar nicht mehr als solcher erkannt wird, benennt sie aber nicht wörtlich als ‚Demenz‘. Während Exkremente laut Kristeva ein Beispiel für das Abjekt (als Verworfenes) sind, wird bei Königsdorf die „Großmutter“ selbst zum Abjekt. Wenn Kristeva von räumlicher Exklusion und dem Ausschluss aus dem Blickfeld spricht, korrespondiert dies mit der gleichnamigen „Entsorgung der Großmutter“ durch die Familie, da diese Aktion deren Körpergrenzen des Selbst zu verstärken verspricht. Mit ←21 | 22→überspitzter Ironie gibt Königsdorf einen Wink, dass in unserer Gesellschaft Katzen liebevoller gepflegt werden als subalterne, demenziell Erkrankte.

Im gleichen Jahr, ebenfalls 1997, kam der deutschsprachige Roman „Small World“ des Schweizer Autors Martin Suter heraus, welcher im siebten Kapitel des vorliegenden Bands (s.u.) analysiert wird. „Small World“ thematisiert die Ambiguität von Gedächtnis und Erinnerung37 als Gedächtnisverlust bei Kindern sowie bei demenziell Erkrankten. Raffinierterweise dreht sich in Suters Erzählung der Erkrankungsprozess des Protagonisten um und dieser kann sich nach der Verabreichung von (vermeintlich verkehrten) Medikamenten teilweise erinnnern, d.h. es tritt gewissermaßen eine ‚Remenz‘38 ein. Suter nutzt ironisch erläuternd auch die Fachsprache des medizinischen Diskurses (z.B. „Recovered Memories“39). So gesteht in einer Szene der Hausarzt der reichen, älteren Protagonistin Elvira Senn, dass man nur wenig zur Verbindung von Vergessen und Wiedererinnerung40 weiß. Suter verwendet hierbei den Begriff „Altersdemenz“,41 d.h. sein literarischer Text ist einer der ersten in deutscher Sprache, in welchem (mit dem medizinischen Diskurs) eine Festschreibung des Wissens von Demenz erscheint. Das war noch vor der Veröffentlichung von John Bayleys später verfilmtem Roman „Elegy for Iris“, ←22 | 23→der in englischer Sprache über die letzten Jahren seiner Ehe mit der erkrankten Autorin Iris Murdoch erzählt, ihre Krankheit biografisch beschreibt, als „Alzheimer’s“42 (i.e. Alzheimerdemenz) bestimmt und dies dabei zugleich von anderen demenziellen Erkrankungen differenziert.

Der letzte Hinweis verdeutlicht, dass sich die Erzählung von Demenz-Romanen am Schnittpunkt von (auto)biografischem, fiktional-literarischem und wissenschaftlich-medizinischem Diskurs bildet: Der Begriff ‚Alzheimerdemenz‘ bezieht sich auf ein Krankheitsbild von neurologischer Degeneration. Es wurde erstmals vom Neuropathologen Alois Alzheimer im November 1906 in seinem Vortrag „Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“43 auf der „37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte“44 in Tübingen beschrieben. Nachdem seine 51-jährige Patientin „Frau Auguste D.“ aus der Frankfurter Heilanstalt verstorben war, hatte er auffällige Gewebsveränderungen bei der Untersuchung ihres Gehirns gefunden und als eine (nur)45 sogenannte präsenile Demenz beschrieben. Hintergrund war die Einführung einer „neuen Silberimprägnationsmethode durch Bielschowsky (1903)“,46 mit der man intraneurale Fibrillen von Zellüberresten bildlich darstellen konnte. Was als Alzheimerdemenz bezeichnet wird, kursiert besonders stark als in Bilder übersetztes Wissen, wenn es erklärt wird. Nicht erst in den Wissenschaftsjournalen der Gegenwart, z.B. als Grafik und in der Computeranimation, bereits historisch funktioniert Alzheimer als eine Wissensschnittstelle zwischen Sprache und Bild. Erst später wurde diese relativ schnell verlaufende, schwere Form von demenzieller Erkrankung auf Vorschlag von seinem Mentor Emil Kraepelin als „Alzheimersche Krankheit“ bezeichnet. Während die Alzheimer’sche Krankheit unter den demenziellen Erkrankungen als am bedrohlichsten beschrieben wird, da sie meist schneller fortschreitet, eine genetische Komponente beinhalten kann, ←23 | 24→und letztlich den Tod der Erkrankten bewirkt, gilt die „senile Demenz“47 als ein Überbegriff für viele verschiedene demenzielle Erkrankungen mit unterschiedlichem Schweregrad, die das Gedächtnis beeinträchtigen. Dazu kann jedoch auch die Alzheimer’sche Krankheit gerechnet werden, wenn diese Hand in Hand mit seniler Demenz auftritt, was tatsächlich eine genauere Begriffsaufschlüsselung erschwert.48 So wird im Folgenden in diesem Band meist der Oberbegriff ‚Demenz‘ bzw. ‚demenzielle Erkrankungen‘ verwendet.

Details

Seiten
342
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631867433
ISBN (ePUB)
9783631867440
ISBN (Hardcover)
9783631847794
DOI
10.3726/b19058
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Demenz-Begriffsgeschichte Neue Literarische Gattung Medizin-Ethik Weibliches Schreiben Vergessen, Vergesslichkeit Gerontologie Arno Geiger Ulrike Draesner Martin Suter Medical Humanities
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 342 S., 2 s/w Abb., 1 Tab.

Biographische Angaben

Monika Leipelt-Tsai (Autor:in)

Monika Leipelt-Tsai lebt zwischen den Kulturen. Sie arbeitet derzeit als Associate Professorin am Department of European Languages and Cultures, NCCU, in Taipeh. Ihr Forschungsansatz ist oft interdisziplinär. Sie untersucht aktuelle Themen u.a. der Identitätsbildung in Verbindung mit Age Studies, Gender Studies, Psychoanalyse, Postmodernen und Postkolonialen Theorien im Bereich der deutschsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaften, insbesondere in Prosa und Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts.

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Titel: Poetik der Demenz – Gedächtnis, Gender und Genre in Demenz-Erzählungen der Gegenwart
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