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Prinzip Perspektivierung: Germanistische und polonistische Textlinguistik – Entwicklungen, Probleme, Desiderata

Teil II: Polonistische Textlinguistik

von Zofia Bilut-Homplewicz (Autor:in)
©2021 Monographie 172 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch versteht sich als ein Beitrag zur Textlinguistik, verfolgt jedoch eine andere Zielsetzung als die üblichen Publikationen zur Textforschung. Es stellt den zweiten Band eines zweibändigen Projekts dar. Das gesamte Vorhaben hat zum Ziel, zwei wissenschaftliche Schreibkulturen im Hinblick auf die Disziplin miteinander in Beziehung zu setzen. Der erste Band widmete sich der germanistischen Textlinguistik. Im zweiten Band werden Entwicklungen der polonistischen Textlinguistik und der Textsorten, ihre Traditionen und Schwerpunkte charakterisiert sowie die Disziplin in der aktuellen Sprachforschung situiert. Die Problematik ergibt sich aus dem Forschungsstand, sie wird aber auch durch die Relation zum germanistischen Pendant geprägt und aus dessen Perspektive gezeigt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Entwicklungen der polonistischen Textlinguistik
  • 1.1 Terminologische Fragen
  • 1.2 Entwicklungstendenzen
  • 1.3 Traditionslinien und Textkonzeptionen
  • 2. Ansätze und Positionen
  • 2.1 Bestandaufnahme
  • 2.2 Satzverflechtung, Text, Diskurs
  • 3. Textsortenforschung – zwischen Literaturwissenschaft und Linguistik
  • 3.1 Textgattungen, Textsorten
  • 3.2 Textsortenforschung
  • 3.2.1 Im Zeichen der Tradition
  • 3.2.2 Weiterentwicklungen
  • 4. Textsortenanalysen konkret
  • 4.1 Genologia lingwistyczna. Zarys problematyki (2005) von Bożena Witosz
  • 4.2 Die Reihe Gatunki mowy i ich ewolucja
  • 4.3 Blick in die Zukunft: Wprowadzenie do genologii (2019) von Maria Wojtak
  • 4.4 Nachtrag
  • 5. Textlinguistik als Disziplin in der aktuellen Sprachforschung
  • 6. Polonistik und Germanistik im Dialog – Publikationen, Projekte, Initiativen
  • Literaturverzeichnis
  • Internetquellen
  • Reihenübersicht

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1. Entwicklungen der polonistischen Textlinguistik

1.1 Terminologische Fragen

In der modernen geisteswissenschaftlichen Forschung wird oft für interdisziplinäre Herangehensweisen plädiert, in einzelnen Fällen werden sie auch in unterschiedlichem Maße praktiziert. Die hier im Mittelpunkt stehende Disziplin Textlinguistik und alle weiteren mit ihr zusammenhängenden Disziplinen bzw. Ansätze, vor allem die Diskurs- und Medienlinguistik, die Pragmatik, aber auch die moderne Semantik und die kognitive Linguistik sind dafür besonders stark prädestiniert.

Gleich am Anfang dieser Arbeit ist anzumerken, dass die polonistische Textforschung bereits seit ihren Anfängen durch eine gewisse Interdisziplinarität geprägt war, die jedoch in den 60er- und 70er-Jahren natürlich anders als heute in Erscheinung trat. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass in ihr die pragmatisch orientierte Perspektive von Anfang an präsent war, ja sogar als dominant bezeichnet werden kann. Bereits die ersten Textauffassungen, beispielsweise in den Pionierarbeiten von Maria Renata Mayenowa, betonten die Rolle einer einzelnen Senderinstanz, die als Bedingung der Äußerungskohärenz fungierte (vgl. Dobrzyńska16). Ob eine Einheit als Text zu verstehen ist, also durch Kohärenz als grundlegende Bedingung des Verstehens geprägt ist, hängt vom Sender und/oder Empfänger ab – so Labocha (2009) (in Anknüpfung an Mayenowa 1971, 1979 und Bogusławski 1983).17 So kann ein Kommunikat für den einen Empfänger als Text gelten, für den anderen jedoch nicht. (ebenda) In den Pionierarbeiten tritt auch die semiotische Auffassung vom Text in den Mittelpunkt, d. h. er wird als ein Makrozeichen – mit einem Textrahmen (Anfang und Ende), mit einer ganzheitlichen Information aus der Perspektive des Senders (vgl. Wojtak 2013, in Anknüpfung an Mayenowa 1979) sowie mit ←15 | 16→textsorten-/gattungsspezifischen und stilistischen Eigenschaften – begriffen, das einer ganzheitlichen semantischen und kommunikativen Interpretation unterliegt und eine strukturelle Integration aufweist.18

Wie in PP I bereits angemerkt wurde, ist in der Entwicklung der germanistischen Textlinguistik eine gewisse, im Vergleich mit ihrem polonistischen Pendant ziemlich starke Systematik zu erkennen. Einzelne Entwicklungsphasen gelten als Erweiterung der voranstehenden, auch wenn zwischen ihnen nicht immer scharfe Grenzen gezogen werden können. Eine solche Fokussierung auf einzelne Aspekte der Textuntersuchung, d. h. auf strukturelle, semantische, pragmatische und schließlich kognitive Aspekte, ist jedoch zugleich als ein Weg zur Erweiterung der Forschungsfragen zu verstehen, auf dem allmählich die Notwendigkeit des interdisziplinären Herangehens erkannt wird.

Die Hauptcharakteristika der polonistischen Textlinguistik lassen sich aus diversen Arbeiten ihrer Vertreter erschließen. Es gibt darunter auch einige bilanzierende Aufsätze, die den Forschungsstand der Disziplin besonders prägnant charakterisieren und kritisch beleuchten und dementsprechend viel mehr als nur Überblicksarbeiten sind. In meinen Ausführungen stütze ich mich auf fünf solcher resümierenden Arbeiten von vier prominenten Forscherinnen19: Teresa Dobrzyńska (2009)20, Janina Labocha (2009): Lingwistyka tekstu w Polsce (Textlinguistik in Polen), Bożena Witosz (2007 ) Lingwistyka tekstu –stan aktualny i perspektywy (Textlinguistik – der aktuelle Stand und Perspektiven), Obecność tematyki teoriotekstowej w badaniach lingwistycznych początku XXI w. (2017) (Zur Präsenz der texttheoretischen Problematik in der linguistischen Forschung am Anfang des 21. Jhs.) sowie Maria Wojtak (2013) Tekst i jego gatunki w ostatnim siedemdziesięcioleciu (Text und seine Textsorten/Textgattungen in den letzten siebzig Jahren). Sie dienen als Grundlage des ←16 | 17→vorliegenden Kapitels, auch wenn noch einige weitere Publikationen berücksichtigt werden.21

Wie Wojtak (2013) deutlich macht, gilt die Verankerung der hier thematisierten polonistischen Forschung in mehreren Disziplinen als ihr Charakteristikum, wobei die Autorin schreibt, dass ziemlich oft behauptet wird, die Untersuchungen seien im Grenzgebiet zwischen der Disziplin X und Z angesiedelt und würden verschiedene Ansätze umfassen. Es ist somit der Forscherin zuzustimmen, wenn sie den Mangel einer (im Sinne einzigen) terminologischen Bezeichnung der Disziplin auf ihren Charakter zurückführt, wobei sie von einem reduktionistischen Vorschlag spricht, laut dem zwei terminologische Bezeichnungen austauschbar verwendet werden: tekstologia22 (Textwissenschaft) und lingwistyka tekstu (Textlinguistik). Wojtak benutzt an einer anderen Stelle ihres Aufsatzes die Bezeichnung polska nauka o tekście23 (polnische Textwissenschaft). Hier ist jedoch noch die andere Anmerkung der Autorin von Bedeutung, dass im Falle der beiden genannten Bezeichnungen sowohl der Inhalt als auch ihre Verwendungsbereiche mit der Zeit wechselten und die von ihnen bezeichneten Ansätze und Disziplinen eine andere Stellung in den Geisteswissenschaften bekamen. Dieser Zug der polonistischen Forschung wird von Wojtak als für sie kennzeichnend genannt. Die Autorin betont dabei die Individualisierung der polonistischen Forscher und spricht hier sogar bildhaft vom terminologischen Jonglieren in ihren Arbeiten.

Interessanterweise stellt Labocha (2009) fest, dass der Terminus lingwistyka tekstu in der polnischen Forschungstradition24 eher selten gebraucht wird, stattdessen solche Bezeichnungen wie tekstologia (Textwissenschaft), teoria tekstu (Texttheorie), teoria dyskursu (Diskurstheorie25). Dies führt Labocha auf ←17 | 18→die Forschungstradition zurück, indem sie die semiotische Betrachtungsperspektive betont – der Text wird als eine semiotische Ganzheit aufgefasst, was auf die Konzeption von Maria Renata Mayenowa und deren Mitarbeiterinnen, die ihren Gedanken fortsetzten, zurückgeht, vor allem auf Dobrzyńska (vgl. Labocha 2009). Um es auf einen Punkt zu bringen: Die polonistische Textforschung war in ihren Anfängen im Grenzgebiet zwischen der Stilistik, der Textsortenforschung, der Literaturtheorie und der Linguistik angesiedelt und bildete eine natürliche Brücke zwischen den Literaturforschern und den Linguisten. (ebenda) Es wird im Folgenden gezeigt, dass das in gewissem Maße immer noch der Fall ist, auch wenn es sich in verschiedenen Arbeiten unterschiedlich manifestiert.

Bei der Darstellung der auf die hier im Mittelpunkt stehende Forschung bezogenen Terminologie stellt Bożena Witosz (2007: 12) dagegen eine ganze Palette von Termini dar: tekstologia lingwistyczna (linguistische Textwissenschaft), lingwistyka tekstu (Textlinguistik), teoria tekstu (Texttheorie), analiza tekstu (Textanalyse), wobei das Textverständnis bei jedem von ihnen etwas anders ist. Die Autorin spricht vom sog. terminologischen Pluralismus, der von Anfang an als ein Charakteristikum der polonistischen Forschung anzusehen ist. Zuerst wurden zwei Termini verwendet: teoria tekstu (Texttheorie) und lingwistyka tekstu (Textlinguistik). Auch Witosz weist auf den diachronischen Aspekt hin. Mit der Entwicklung der Disziplin wurden der Bezeichnung lingwistyka tekstu – so die Autorin – negative Konnotationen zugeschrieben, u. a. ging es um die Entwicklung von interdisziplinären Herangehensweisen, deren Vertretern der Terminus als zu eng erschien. Dazu sei kritisch angemerkt, dass diese Denkweise der Forscher nicht ganz berechtigt ist, weil, wie bereits erwähnt, die pragmatische und semiotische Perspektive von Anfang an zum Wesenszug der Disziplin gehörte. Es tauchte jedoch eine Tendenz auf, eine ganze Vielzahl von Termini einzuführen und zu gebrauchen wie tekstologia (Textwissenschaft/Textheorie), analiza dyskursu (Diskursanalyse), badania nad dyskursem (Diskursforschung), nauka o tekście (Textwissenschaft), die eine gewisse Synonymie aufweisen. Witosz konstatiert diese Tatsache nur, ohne kritisch auf sie einzugehen.

Zu Recht bemerkt Witosz (2001), dass der Terminus tekstologia (Textwissenschaft) diverse Untersuchungen des Textes bezeichnet, und zwar literaturwissenschaftliche, kulturanthropologische, semiotische, soziologische sowie linguistische. In einem neueren synthetischen Aufsatz dieser Forscherin (vgl. Witosz 2017) findet man eine wichtige Anmerkung, die den von Dobrzyńska am Anfang des Entwicklungsweges der Disziplin vorgeschlagenen Terminus ←18 | 19→teoria tekstu (Texttheorie) betrifft. Wie Witosz erklärt, betonte Dobrzyńska „die Bedeutung von theoretischen Aspekten aber zugleich eine breit angelegte semiotische Textauffassung, die sich nicht auf ein linguistisches Paradigma beschränkt.“ (Witosz 2017: 214)

Eindeutig äußert sich Jerzy Bartmiński zu der hier behandelten terminologischen Frage, indem er, wie er formuliert, „das gesamte Feld der linguistischen Textforschung“ (Bartmiński 2004a: 19) in Betracht zieht und ihm in diesem Zusammenhang der Terminus tekstologia (Textwissenschaft) als am besten geeignet erscheint. Dem Autor nach sprechen dafür folgende Eigenschaften: Er weist den größten Allgemeinheitsgrad auf und zeigt eine Parallele zu den Bezeichnungen anderer linguistischer Disziplinen (Phonologie, Morphologie u. a.26). Dagegen schreibt Bartmiński der Bezeichnung lingwistyka tekstu (Textlinguistik), die er eine Konkurrenzbezeichnung nennt, in erster Linie eine differenzierende Funktion zu, d. h. sie grenzt ihm nach linguistische Textforschung von anderen Untersuchungen, die sich auf den Text beziehen, ab, d. h. von literaturwissenschaftlichen, kulturanthropologischen, semiotischen, soziologischen. (ebenda)

Interessanterweise äußert sich Witosz (2017) kritisch zu der Frage der sog. terminologischen Homonymie, die, wie sie schreibt, in der Metasprache der Disziplin fungiere und Erkenntnischaos verursache. Viele Schlüsselkategorien wurden nämlich mit gleichen Bezeichnungen versehen, jedoch anders definiert. Genannt seien nur einige von ihnen: tekstem (Textem), wzorzec tekstowy (Textmuster), wzorzec gatunkowy (Textsorten-/Textgattungsmuster), dyskurs (Diskurs).

Zusammenfassend soll festgehalten werden: Der Terminus lingwistyka tekstu (Textlinguistik) wird in der polonistischen Linguistik zwar verwendet, aber seine Frequenz ist nicht so stark wie die des Terminus Textlinguistik in der germanistischen Forschung, wo er sich durchgesetzt hat. Als Alternative zu Textlinguistik sind vor allem die Termini Textwissenschaft oder Textanalyse in der Germanistik im Gebrauch, sie zeigen aber eine geringere Frequenz.

Daraus ist zu schließen, dass die Frage der Äquivalenz der Termini ein wichtiges Diskussionsthema in dem hier umrissenen Kontext der Disziplin darstellen kann. Terminologischen Unterschieden liegen nämlich sowohl Tra←19 | 20→ditionen des jeweiligen Forschungsraumes als auch seine Entwicklungswege zugrunde.

Details

Seiten
172
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (PDF)
9783631865125
ISBN (ePUB)
9783631865132
ISBN (Hardcover)
9783631865118
DOI
10.3726/b18892
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Januar)
Schlagworte
kontrastive Linguistik interlinguistische Kontrastivität polonistische Forschungstradition Textauffassungen Textsortenforschung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 172 S.

Biographische Angaben

Zofia Bilut-Homplewicz (Autor:in)

Zofia Bilut-Homplewicz ist Professorin für Germanistik an der Universität Rzeszów, Polen. Ihre Forschungsbereiche umfassen Textlinguistik, Diskurslinguistik, Dialoganalyse, linguistische Analyse literarischer Dialoge, Pragmalinguistik, kontrastive Linguistik sowie Medienlinguistik.

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