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Konstruierte Weiblichkeit

Frauenbilder in der Literatur und im Kino des 19. und 20. Jahrhunderts

von Christina Serafim (Autor:in)
©2022 Dissertation 350 Seiten
Reihe: Hellenogermanica, Band 7

Zusammenfassung

Die Publikation analysiert die Konstruktivität von verführerischer Weiblichkeit in Texten aus der Romantik, dem Fin de Siècle sowie der Literatur und dem Kino des 20. Jahrhunderts als Projektion eines Betrachters, der, ähnlich der ovidischen Sagengestalt Narziss, die Frau als Spiegel der eigenen Begierde benutzt. Angereichert mit Fallbeispielen aus Oper und Musik sowie aus Mode und Bildender Kunst wird die Konstellation Narziss – Verführerin als Chiffre einer selbstreflexiven Kunst aufgespürt, die dem frühromantischen Schöpfungsdiktum unterworfen ist. Die Frau, als Oberfläche oder Tableau Vivant, dient dazu, andere Künste intermedial zu zitieren, um die Grenzen des eigenen Mediums zu sprengen und ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das auf sich selbst verweist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Weiblichkeit als Projektionsfläche
  • 1.1 Die Geschichte einer Verführung ohne Verführerin: Ovids Narcissus als Symbolfigur des romantischen Autonomiegedankens
  • 1.2 Konstruierte Weiblichkeit im Fokus der Genderstudies
  • 1.3 Judith Butlers Performativitätstheorem
  • 1.4 Laura Mulveys Theorie der männlichen Schaulust
  • 1.5 Joan Rivieres Maskeradekonzept
  • 2 Verführerinnen junger Männer als Allegorie des romantischen Schreibprozesses
  • 2.1 Die „schöne Selbstbespiegelung“ der Literatur in der Frühromantik: August Wilhelm Schlegels Transzendentalpoesie
  • 2.1.1 Der verführte Adoleszente in den spätromantischen Märchennovellen
  • 2.1.2 Natur als weiblich codierte Psycholandschaft: Ludwig Tiecks Der Runenberg
  • 2.1.3 Cherchez la femme: E.T.A. Hoffmanns Das öde Haus und Der goldne Topf
  • 2.1.4 Zwei konträre Frauenbilder: Joseph von Eichendorffs Das Marmorbild
  • 2.1.5 Zwischenfazit: „Dichter sind doch immer Narcisse“ (August Wilhelm Schlegel)
  • 3 Die Geburtsstunde der femme fatale
  • 3.1 Dämonisierung und Ästhetisierung des Weiblichen im Fin de Siècle: Das Phänomen der Angstlust
  • 3.1.1 Der Blick als Handlung: Oscar Wildes Salome, Aubrey Beardsleys hermaphroditische Zwischenwesen und Gustave Moreaus Salome-Gemälde
  • 3.1.2 Die Frau als femme fatale, femme enfant, femme mutilé: Frank Wedekinds Lulu
  • 3.1.3 Infantilisierung von Weiblichkeit: Vladimir Nabokovs Lolita
  • 4 Die Frau als Personifikation der siebten Kunst
  • 4.1 Potenzierung, Selbstbespiegelung und Selbstthematisierung im Film: Von Pedro Calderóns Welttheatergedanken bis hin zu Julia Kristevas Intertextualitätsdefinition und Irina Rajewskys Intermedialitätsbegriff
  • 4.1.1 Von Kopf bis Fuß auf Weiblichkeit eingestellt: Josef von Sternbergs Der Blaue Engel und Félicien Rops Die Dame mit dem Schwein
  • 4.1.2 Ein Held zwischen zwei Frauen: Jean Cocteaus Orpheus
  • 4.1.3 Weiblichkeit als Gesamtkunstwerk: Carlos Sauras Carmen und Gustave Dorés Spanienzeichnungen
  • 5 Resümee
  • Bildnachweise
  • Bibliografie
  • Reihenübersicht

←16 | 17→

1 Weiblichkeit als Projektionsfläche

1.1 Die Geschichte einer Verführung ohne Verführerin: Ovids Narcissus als Symbolfigur des romantischen Autonomiegedankens

Sie kennen die Geschichte. Dennoch wollen wir sie erneut erzählen. Alle Dinge sind bereits gesagt; aber niemand hört zu, und so muss man immer wieder von neuem beginnen.

André Gide

„Spieglein Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ 1, fragt die Königin des grimmschen Volksmärchens Schneewittchen vor dem sprechenden Spiegel stehend. „Liebe zu mir selbst verbrennt mich, ich selbst entzünde die Liebesflammen, die ich erleide. Was tun?“ 2, verzweifelt der schöne Narziss in Ovids Metamorphosen, sich über sein eigenes Spiegelbild im Wasser beugend. Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud pathologisiert das Verhalten, das den eigenen Leib sexualisiert und in „ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung gelangt“ 3. Er gibt der alten Geschichte einen neuen Namen: Narzissmus.4 ←17 | 18→Somit wird der berühmte Jüngling aus der Sage Ovids zum Namensvetter einer schweren seelischen Störung, nämlich der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Und auch in der psychoanalytischen Theorie zur Selbstkonstitution von Jacques Lacan, der den Begriff des „Spiegelstadiums“ 5 einführt, wird der Narziss-Mythos eingearbeitet.

Die Thematik der Selbstliebe wird von Dichtern, Künstlern und Philosophen bereits seit zweitausend Jahren über den Mythos des selbstverliebten Jünglings Narziss behandelt. In den Texten von Ovid und Platon über Boccaccio, Bacon und Rousseau bis Rilke, Freud und Fromm erscheint Narziss als Symbol für Eitelkeit, Trugbild und Täuschung, aber auch als Beispiel für Torheit der Liebenden. Zweifelsohne hat der schicksalshafte Tod des jungen Narziss die Menschen seit der Antike immer wieder fasziniert. Als Neologismus der Psychoanalyse jedoch verkommt das Wort Narziss zu einer Pejoration6 und ist in den letzten Jahren zu einer beliebten Modediagnose geworden.7 Der aus dem Mythos abstrahierte psychoanalytische Terminus spart bedeutungsvolle Zusammenhänge aus, wird zu einem Klischeebegriff, zu einer bloßen Worthülse. Nach Ursula Orlowsky wurde sein offener Sinn mit der Definitionsbildung geradezu amputiert, um einen vermeintlich wissenschaftlich fundierten und folglich unanfechtbaren Begriff zu formen.8 Zwar bildet die psychologische Brisanz der Erzählung vom schönen Narziss Grund genug für eine gewisse Popularität innerhalb des Wissenschaftszweigs der Psychologie; doch der immense Motivreichtum und Deutungsspielraum des Mythos erfährt darin nur bedingt eine ←18 | 19→Gestaltung und ist kaum repräsentativ. Orlowsky kritisiert die Wissenschaft, die Freuds Interpretation des antiken Mythos und seinen psychoanalytischen Terminus bedenkenlos angenommen hat: „Es scheint, dass die Wissenschaft Freuds Ableitung ohne Bedenken akzeptiert hat, so als sei die naturhafte Kongruenz Narziss = Narzisst = Narzissmus per se legitimiert.“ 9

Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird von einer einseitigen psychoanalytischen Narzissmus-Debatte Distanz genommen und stattdessen ein intensiver Bezug auf die antike Motivik bevorzugt. In der Psychoanalyse wird nämlich die Vielseitigkeit des Mythos simplifiziert. Allein auf das tragische Ende des Jünglings wird fokussiert, wodurch Bedeutungszusammenhänge verloren gehen. Indem beispielsweise der Einfluss der Nymphe Echo – gemeint ist ihre Stimme, die der junge Schöne für die eines Jagdgefährten hält – ausgeklammert wird, erscheint die antike Gestalt rein negativ. Dabei ist Narziss nicht allein Ausdruck pathologischer Selbstbefangenheit, sondern figuriert durchaus auch als Künstlergestalt und versinnbildlicht ein schöpferisches In-sich-Gehen. Im Gegensatz zur reduktionistischen Lektüre der Psychoanalyse, die eine Seelenkrankheit aus dem Mythos des Narziss ableitet, dient Narziss bei den Romantikern als Exempel für einen Künstler.

Es soll im Folgenden gezeigt werden, wie Narziss Pendelbewegung zwischen Erkennen und Verkennen für die Romantiker das Bild des Künstlers repräsentiert, der über sich und seinen Weltblick zu reflektieren vermag. Die Romantik sieht in den Mythos die Thematisierung und Problematisierung der Gefahr des Sich-Verlierens in dem Versuch des Sich-selbst-Erkennens. In der vorliegenden Monografie wird die Bedeutungsvielfalt des Mythos nicht außer Acht gelassen, während Narziss in engem Zusammenhang mit Echo gezeigt wird. Durch eine Relektüre des Mythos wird an die besondere Beziehung der komplementären Figuren Narziss und Echo erinnert, die von Relevanz ist, wobei in der Werkanalyse Narziss für das Visuelle, das Bild, steht, Echo hingegen die Stimme, den Ton verkörpert. Hauptaugenmerk soll die ovidische Narziss-Darstellung aus dem dritten Buch seiner Metamorphosen sein, die auch die meistrezipierte Fassung des Mythos bildet, die aus dem Altertum auf uns gekommen ist.

In der Vorgeschichte von Ovids Mythos wird die Herkunft von Narcissus geschildert. Darin heißt es, dass der Seher Tiresias bereits prophezeit hat, dass Narcissus, Sohn der Nymphe Liriope und des Flussgottes Cephisus, nur unter der Bedingung lang leben wird, „wenn er sich nicht selbst kennenlernt.“ 10 (O45) ←19 | 20→Schon im Knabenalter von sechzehn Jahren fällt seine Überheblichkeit, aber auch seine außerordentliche Schönheit auf: „Viele Männer, viele Mädchen begehrten ihn. Aber solch hartherziger Hochmut wohnte in der zarten Gestalt! Kein Mann, kein Mädchen konnte ihn rühren.“ (O45) Auch die ehemals stimmbegabte Nymphe Echo begehrt den vielversprechenden Jüngling und verliebt sich in ihn: „Kaum hat sie also Narcissus erblickt, der abseits vom Wege durchs Gelände streifte, entbrannte ihr Herz in Liebe.“ (O47) Ihre Versuche den hübschen jungen Mann nun für sich zu gewinnen, indem sie allein Laute und Wortfetzen von sich gibt, scheitern hochgradig. Ihr Schicksal, nur die letzten Worte eines jeden wiederholen zu können, verdankt sie Junos Rache. Echo hat nämlich die heimlichen Liaisons Jupiters vor seiner Gattin durch Ablenkungsgespräche geschickt zu verheimlichen gewusst und soll deshalb als Strafe für ihre Geschwätzigkeit, ihre „Stimme nur noch ganz kurz gebrauchen dürfen.“ (O45) Narcissus hält fälschlicherweise die ihn aus der Ferne umwerbende Stimme für die eines Jagdgefährten. Mehrfach fordert er daraufhin Echos vernehmbaren Widerhall dazu auf, mit ihm zusammenzukommen, was die unglückselige Nymphe als erwidertes Begehren missdeutet.11 Die Überraschung ist groß, als sie sich ihm letztlich nähert und ihn zu umarmen versucht, da „er aber flieht; und während er flüchtet, ruft er: ‚Hände weg! Lass die Umarmungen! Eher will ich sterben als dir gehören.‘“ (O47) Tief gekränkt zieht sich Echo anschließend für immer zurück:

Die Verschmähte hält sich im Wald versteckt, verbirgt schamhaft das Gesicht im Laub und lebt von nun an in einsamen Höhlen. Doch die Liebe bleibt und wächst noch aus Schmerz über die Zurückweisung. Sorgen gönnen ihr keinen Schlaf und zehren den Leib jämmerlich aus; Magerkeit lässt ihre Haut schrumpfen, in die Luft entschwindet aller Saft des Körpers, nur Stimme und Gebein sind übrig. Die Stimme bleibt, das Gebein soll sich in Stein verwandelt haben. Seitdem ist sie in Wäldern verborgen und lässt sich auf keinem Berg blicken. Alle können sie hören. In ihr lebt nur der Klang. (O47)

Der gleichen trügerischen Hoffnung, der Echo verfallen war – nämlich das Objekt der Begierde besitzen zu können – soll nun auch Narziss zum Opfer fallen. Ein abgewiesener Verehrer verflucht den jungen Schönling, wird alsdann ←20 | 21→von der Rachegöttin erhört und „so soll es auch ihm in der Liebe ergehen, so soll auch er, was er liebt, nicht bekommen.“ (O47/49)

Der Hauptteil der Erzählung beginnt mit Narcissus Begegnung mit der Wasserquelle, an die der Jüngling kommt, um seinen Durst zu löschen. Ähnlich wie sich die verhängnisvolle Begegnung zwischen Echo und Narcissus durch das Erblicken ergeben hat, entzündet sich auch hier, durch die Wahrnehmung des Sehens, das hoffnungslose Liebesverlangen: „Während er trinkt, erblickt er das Spiegelbild seiner Schönheit, wird von ihr hingerissen, liebt eine körperlose Hoffnung, hält das für einen Körper, was nur Welle ist.“ (O49) Eine weitere Parallele zwischen der Nymphe und dem mythischen Jüngling tut sich auf: Auch er missdeutet die Spiegelungen, in der sich sein eigenes Werben reflektiert, als Beweis erwiderter Liebe, eben wie zuvor Echo die Wortreflexionen ihres Dialogs mit Narziss fehlinterpretiert hat:12 Narcissus

bestaunt sich selbst und verharrt unbeweglich mit unveränderter Miene wie ein Standbild aus parischem Marmor. Am Boden liegend, betrachtet er seine Augen – sie gleichen einem Sternenpaar –, das Haar, das eines Bacchus oder eines Apollos würdig wäre, die bartlosen Wangen, den Hals wie aus Elfenbein, die Anmut des Gesichts, die Mischung von Schneeweiß und Rot – und alles bewundert er, was ihn selbst bewundernswert macht. Nichts ahnend begehrt er sich selbst, empfindet und erregt Wohlgefallen, wirbt und wird umworben, entzündet Liebesglut und wird gleichzeitig von ihr verzehrt. Wie oft gab er dem trügerischen Quell vergebliche Küsse! (O49)

Erfolglos versucht er, seinem Spiegelbild näher zu kommen, leidet unerträglich im Wissen, das Begehrte nicht besitzen zu können und vergeht vor Liebeskummer:

Kein Gedanke an Nahrung, kein Gedanke an Schlaf kann ihn nun von dort losreißen. Doch im schattigen Grase gelagert, schaut er mit unersättlichem Blick die trügerische Schönheit an und geht an seinen eigenen Augen zugrunde. (O49)

Auch wenn es bereits augenscheinlich ist, dass er sein ersehntes Objekt nicht besitzen darf, versucht es der junge Schöne dennoch unaufhörlich und lässt verzweifelt sogar die ihn umgebende Natur von seinem Leid erfahren. Und obwohl es nicht gar zu lange her ist, als Echo vor ihrem Kummer zerging, weil ihre Liebe von Narziss nicht erwidert wurde, ist er sich dessen kaum bewusst und glaubt als Einziger in dem Maße zu trauern:

Details

Seiten
350
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631871119
ISBN (ePUB)
9783631871126
ISBN (Hardcover)
9783631802809
DOI
10.3726/b19320
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Narzissmus Selbstreferentialität Intermedialität Femme fatale Frühromantische Literaturtheorie
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 350 S., 19 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christina Serafim (Autor:in)

Christina Serafim hat Germanistik, Psychologie und Pädagogik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main studiert. Sie wurde an der Aristoteles-Universität Thessaloniki promoviert und ist dort als Lehrbeauftragte tätig.

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