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Die Rhetorik der Moserede in Deuteronomium 1 – 4

von Georg Braulik (Autor:in) Norbert Lohfink (Autor:in)
©2022 Monographie 212 Seiten

Zusammenfassung

Die erste Moserede im Deuteronomium ist ein rhetorisches Meisterwerk – das will dieses Buch zeigen. In Kap. 1-3 blickt Mose auf die Wüstenwanderung zurück. Er will Israel davon überzeugen, dass er nun sterben und Josua als seinen Nachfolger einsetzen muss. Das zeigt die narrative Analyse. Folgerichtig eröffnet Mose in Kap. 4 eine Versammlung, in der Israel bei der Führungsübergabe auf die Tora als Bundesurkunde vereidigt werden soll, ehe es ins verheißene Land zieht. Dieser Vorblick auf die eigentliche Versammlung ist ein Glanzstück deuteronomischer Stilkunst. Mose legt das Kultbilderverbot aus und entwickelt das rechte Gottesverständnis des Monotheismus. Er zeigt sogar, dass Israel selbst dann, wenn es wieder zum Kult von Götterbildern abfällt, von Gott noch auf Erbarmen hoffen kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Teil I: 1,6 – 3,29 Mose überzeugt Israel, dass sein Tod bevorsteht und Josua ihn ablösen soll
  • Zur Einführung
  • 1 Moses Erzählung in 1,6 – 3,29: Narrative Analyse
  • 1.1 Eine Ich-Erzählung
  • 1.2 Syntaktische Charakteristika der Moseerzählung
  • 1.3 Die Fabel und ihre Verarbeitung
  • 1.4 Die Dramaturgie der Erzählung
  • 1.5 Sprachlich markierte Handlungsbögen
  • 1.6 Redegruppen als Kompositionen
  • 1.7 Moses Erzählung als Architektur
  • 1.8 Moses Erzählung in ihrer Dynamik
  • 1.9 Der Treibsatz der narrativen Dynamik: Moses Schuld
  • 1.10 Moses Selbstcharakterisierungen
  • 2 Die Einblendungen des Bucherzählers
  • 2.1 Abgrenzung der Einblendungen
  • 2.2 „Unterbrechung“ oder „Überdeckung“ der Moserede?
  • 2.3 Narrative Analyse der Bucherzählereinblendungen
  • 2.4 Die Verzahnung der beiden Stimmen
  • 3 Weitere Formen sprachlicher Verbindung
  • 3.1 Rahmende Elemente der Gesamterzählung
  • 3.2 Eine lockere Dispositionsandeutung in 1,6-8
  • 3.3 Die Gottesbezeichnungen beim erzählenden und beim zitierenden Mose
  • 3.4 Die 10 Gottesworte
  • 3.5 Der „dativus ethicus“ in Gottesworten
  • 3.6 Die göttlichen Befehle und ihre Ausführungsnotizen
  • 3.7 Die konkrete Gestaltung der Durchzugs- und Umgehungspassagen
  • 3.8 Der stilistische Wandel gegen Ende von Moses Erzählung
  • Teil II: Mose konstituiert zur Übergabe der Führung Israels eine Versammlung von ganz Israel und führt in sie ein
  • 4 Der Zusammenhang von 4,1-40 mit 1,6 – 3,29
  • 5 Die Struktur von 4,1-40
  • 5.1 Die Vielzahl und die textsyntaktische Hierarchie der Sprechakte
  • 5.1.1 Appelle für jetzt und Appelle für später, Appelle und Geschichtsaussagen
  • 5.1.2 Der maßgebende Sprechakt ist performativ
  • 5.2 Die zweiteilige Struktur von 4,1-40
  • 5.2.1 Die Hauptgebotsparänese in 4,9-31 und ihre Begründung in 4,32-40
  • 5.2.2 4,1-8 als eigene erste Einheit
  • 5.2.3 Der dynamische Charakter der Zweiteilung
  • 5.3 Die dreiteilige Struktur von Dtn 4,1-40
  • 5.3.1 Rahmende Elemente
  • 5.3.2 Dreigliedrigkeit des Gesamttextes
  • 5.3.3 Das Zusammenspiel von Zwei- und Dreigliedrigkeit
  • 5.4 Zu anderen Strukturvorschlägen
  • 5.4.1 Analogie zum Normalschema hethitischer Vasallenverträge
  • 5.4.2 Palindromische Aufbaustruktur
  • 5.4.3 Zweiteiliger Aufbau
  • 5.4.4 Der Numeruswechsel in 4,29 als oberstes Gliederungssignal
  • 6 Weitere verbindende Sprachelemente
  • 6.1 Strukturierte Abfolge leitmotivisch gebrauchter verbzentrierter Formeln
  • 6.2 Strukturierte Abfolge leitmotivisch gebrauchter Nomina
  • 6.3 Die Gottesbezeichnungen
  • 6.4 Kontinuierliche Horizontverschiebungen
  • Die rhetorischen Ziele
  • Zitierte Literatur
  • Autorenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Teil I: 1,6 - 3,29 Mose überzeugt Israel, dass sein Tod bevorsteht und Josua ihn ablösen soll

Zur Einführung

Das Deuteronomium enthält 22 Mosereden, entsprechend der Zahl des hebräischen Alphabets. Sie vor allem füllen das Buch. Sie sind verschieden lang. Unsere Untersuchung beschäftigt sich nur mit der ersten dieser Reden. Diese erstreckt sich allerdings über mehrere Kapitel und bildet fast den einzigen Inhalt des ersten der 4 Hauptteile des Buches. Die Handlung des Buches spielt praktisch an einem einzigen Tag. Es ist der Todestag Moses. Mit dieser ersten Rede eröffnet Mose in Gegenwart von ganz Israel den Tag.

Innerhalb der breiten Buchteilüberschrift 1,1-5 führt der Bucherzähler den Leser in den Versen 4-5 zu dieser ersten Rede Moses hin. Dann spricht Mose in erster Person. Die Rede ist, grob gesagt, zunächst eine Retrospektive auf die Vorgeschichte des Deuteronomiumstages (1,6 - 3,29) und dann eine Hinführung zu den kommenden Ereignissen (4,1-40). Sie endet in 4,40, denn in 4,41 spricht wieder der Bucherzähler von Mose in dritter Person. Auf einen kurzen Bericht des Bucherzählers über die Haupttätigkeit Moses in den letzten Tagen (4,41-43) folgen dann schon in 4,44 - 5,1 aus seinem Mund Überschrift und Redeeinleitung des zweiten Buchteils.1

Die Rede selbst besteht, wie soeben angedeutet, aus zwei Teilen: zunächst einem Rückblick auf die Vorgeschichte, mit deutlicher Auswahl der Ereignisse, die maßgebend sind für den jetzt anbrechenden Deuteronomiumstag (1,6 - 3,29). Das kann der Leser später rückblickend feststellen. Dann folgt eine vorausschauende Hinführung zu dem, was an diesem Tag noch geschehen muss, und worauf es bei allem hauptsächlich ankommt (4,1-40). Der Übergang zwischen beiden Teilen geschieht durch die rhetorische Überleitungspartikel „und nun“ in 4,1.2 Wir teilen unsere nun folgenden Ausführungen entsprechend diesen beiden Hauptteilen der Rede in zwei Hälften. Doch sei sofort ←9 | 10→noch auf eine besondere literarische Eigenheit des ersten Redeteils aufmerksam gemacht.

Im zweiten und dritten Kapitel innerhalb dieser ersten Rede Moses schaltet sich der Bucherzähler mehrfach mit Zwischenbemerkungen ein (2,10-12.2023; 3,5[?].9.11.13-14). Doch tut er das, ohne die Rede Moses formell zu unterbrechen. Nach Abzug dieser „Einschübe“ des Bucherzählers hat die erste Moserede nur noch folgenden Textbestand:

Dtn  1,6-46

   2.1- 9.13-19.24-37

   3,1- 4.6-8.10.12.15-29

   4,1- 40

Die Zwischenbemerkungen werden oft als spätere Randbemerkungen von Lesern verstanden, um die man sich bei der eigentlichen Textanalyse nicht weiter zu kümmern brauche. Da sich aber zeigen wird, dass zumindest die wichtigeren Einschübe des Bucherzählers sorgfältig mit der Moserede, die sie unterbrechen, verzahnt sind und auf einer höheren Ebene mit ihr zusammen eine einzige Sinneinheit bilden, sind sie bei Formuntersuchungen, denen es um das Buch als Buch geht, natürlich voll einzubeziehen. Wir werden sie also mituntersuchen müssen. Das verkompliziert ein wenig den ersten Teil unseres Buches. Arbeitslogisch wäre an sich gefordert, dass man zunächst einmal die Zwischenbemerkungen des Bucherzählers nachweist, dann die reine Moseerzählung analysiert und schließlich in einem dritten Schritt wieder zurückkehrt und die gegenseitigen Beziehungen untersucht. Für die Lektüre unserer Ausführungen ist es aber sicher bekömmlicher, wenn man zunächst einmal die Unterscheidung der beiden Größen voraussetzt und erst nach der Analyse der Erzählung das Faktum der Zwischenbemerkungen und die Beziehung beider Größen ins Auge fasst. So wollen wir deshalb konkret vorangehen.

Auch wie die Geschichtserzählung des ersten Teils und die aus ihr gezogenen Folgerungen des zweiten Teils der Rede innerlich miteinander zusammenhängen, liegt nicht sofort auf der Hand. Doch diese Schwierigkeit soll erst im Zusammenhang mit 4,1-40 erörtert werden. In diesem Zusammenhang wird in den Kommentaren oft nachzuweisen versucht, dass Kapitel 4,1-40 von einem späteren Autor als dem der vorangehenden Vorgeschichtsdarstellung stammen müsse. Dieser Frage, die durchaus ihr Recht hat, gehen wir nicht nach, da unsere Analyse als eine rein synchrone Analyse des uns fassbaren endgültigen Textzustandes geplant ist. Wir untersuchen also einen Text, der möglichst demjenigen Text entspricht, den auch die geplanten Erstleser des jetzigen Textes in der Hand hatten. Die Frage, wie dieser Text vielleicht stufenweise entstanden sei und was er dann in den einzelnen Stufen ausgesagt hätte, die ebenso wichtig wie schwierig ist, stellen wir in diesem Buche nicht.


1 Zu den Zitationseinleitungen im Deuteronomium vgl. G. W. Savran, Telling and Retelling, 113-116; G. Braulik - N. Lohfink, Sprache und literarische Gestalt, 301307; 361-372; 399-410.

2 An diesem „und nun“ kommt man bei unserem Untersuchungsprogramm nicht vorbei. Im jetzigen Text geht die Moserede notwendig bis 4,40. Das zeigt z.B. auch der breite Vermittlungsversuch bei R. Heckl, Moses Vermächtnis, 332-334. Ihn leitet aber letztlich nur die Frage nach der Textvorgeschichte, und so kann er ein in Einzelheiten sehr gründliches Buch allein über Deuteronomium 1 - 3 schreiben, als komme dann ein anderer Text. Das war aber nicht die Sicht, welche die ursprünglichen Leser notwendigerweise haben mussten.

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1 Moses Erzählung in 1,6 – 3,29:3 Narrative Analyse

1.1 Eine Ich-Erzählung4

Vor allen anderen Analysen des Erzählgeschehens in Deuteronomium 1 – 3 soll die grundsätzliche Erzählkonstellation durchdacht werden, die diese Kapitel prägt. Es handelt sich um eine Ich-Erzählung.5 Im Pentateuch und in den historischen Büchern kommen Ich-Erzählungen nur auf der zweiten Kommunikationsebene vor.6 Es sind dann stets vom Bucherzähler referierte Erzählungen einer im Raum der Bucherzählung handelnden Person. Der Fall kann auftreten, wenn der Bericht („telling“) des Bucherzählers in szenische Darstellung („showing“) übergeht.7 So ist es auch in Deuteronomium 1,6 – 3,29. Genauer: Der Erzähler des Deuteronomiums springt sofort am Anfang des Buches in szenische Darstellung hinein. Nach einer kurzen Einführung in die Situation lässt er Mose reden. Der größere erste Teil von Moses Rede, drei Kapitel, ist Erzählung. Der Bucherzähler selbst ist Er-Erzähler, der von ihm eingeführte Mose ist dann Ich-Erzähler. An keiner anderen Stelle des Pentateuchs haben eingebettete Ich-Erzählungen einen solchen Umfang wie in Dtn 1,6 – 3,29.

Es handelt sich sogar um einen Sonderfall von Ich-Erzählung: Innerhalb eines Werks erzählt hier nämlich eine Person der Erzählung etwas, das vorher bereits vom Bucherzähler wesentlich breiter und teilweise auch anders erzählt worden war. Das ist hier zumindest dann so, wenn man den Pentateuch als Einheit liest und aus ihm die Stimme eines einzigen Erzählers vernimmt. Die Geschichte, die Mose in Deuteronomium 1 – 3 resümiert, hat der Pentateucherzähler in den Büchern Exodus bis Numeri selbst schon breit dargestellt. So etwas ist auch an anderen Stellen schon vorgekommen, zum Beispiel in Genesis 24, wo Abrahams Knecht in V 34-48 vor Laban und Betuël die dem Leser ←11 | 12→schon bekannten Ereignisse seiner ganzen Reise darstellte, um für Abrahams Sohn Isaak um Rebekka als Braut zu werben. Abrahams Knecht hat in seiner Ich-Erzählung also eine klare rhetorische Zielsetzung: Eine Ehe soll zustande kommen. Im Blick darauf ist seine Erzählung nun formuliert. Das bestimmt die Auswahl und die Perspektive.8 Im Deuteronomium selbst wird sich die Konstellation in Kapitel 5 und in Kapitel 9 – 10 wiederholen. In Deuteronomium 1 – 3 müssen wir ebenfalls damit rechnen, dass die Auswahl des Erzählten, seine Anordnung und seine Wertung aus der Perspektive des Mose von einst und aus der Perspektive des jetzt erzählenden Mose im Blick auf eine rhetorische Zielsetzung formuliert sind, die den Erzählgang schon prägt,9 wenn sie auch erst hinter dem , „und nun, Israel“, von 4,1 voll zutage treten wird.

Doch schon vorgängig zur Einbettung oder Nichteinbettung oder zur rhetorischen Zielsetzung unterscheiden sich Ich-Erzählung und Er-Erzählung rein vom Ansatz her. Der Seinsbereich des Er-Erzählers ist nicht identisch mit dem der Personen seiner Erzählung, der des Ich-Erzählers dagegen ist es. Auch ein auktorialer Er-Erzähler kann „Ich“ sagen, etwa wenn er eigene Bewertungen äußert oder eigene Vermutungen darüber anstellt, was der Leser jetzt wohl empfinden mag. In der „Er-Erzählung“ kommt der Erzähler jedoch nicht als handelnde Person vor, in der „Ich-Erzählung“ ist er mit einer der handelnden Personen, oft der wichtigsten, identisch – mag er auch aus zeitlicher Distanz erzählen und dadurch vielleicht mehr Überblick haben als damals, als er in die erzählten Ereignisse verwickelt war.10 Er erzählt also zumindest auch von sich selbst. Ein Ich-Erzähler ist deshalb kaum als „allwissender Erzähler“ vorstellbar. Seine Ich-Situation bedingt automatisch eine Eingrenzung des Wahrnehmungs- und Wissenshorizonts. Der Er-Erzähler der biblischen Bücher ist nor-malerweise ein „allwissender Erzähler“.11 Bei einem Ich-Erzähler kann man das nicht erwarten.

In Deuteronomium 1 – 3 wird dieser Unterschied sogar besonders greifbar an den eingeschobenen Zwischenbemerkungen des Bucherzählers. Der zeitliche und räumliche Horizont des erzählenden Mose umfasst nur die in seiner Erzählgegenwart noch nicht einmal vollendete Hineinführung Israels in sein Land und die damit verbundene Ablösung der bisherigen Bewohner. Der kom-mentierende Bucherzähler weitet diesen Horizont durch seine Einschübe im ←12 | 13→2. Kapitel jedoch auf die anderen Völker im Ost- und Westjordanland aus: Auch sie haben mithilfe JHWHs ihr Land einmal in Besitz genommen und eine Vorbevölkerung abgelöst. Zeitlich kann er auch schon auf die vollendete Landnahme Israels zurückblicken (Dtn 2,12), auf die der erzählende Mose von seiner Zeitstelle aus nur hoffend vorausblickt. Der Bucherzähler hat ein umfassenderes Geschichtshandeln Gottes vor Augen, und er lässt den Leser des Buches auch an diesem Wissen partizipieren, während Mose von seinem Ich-Punkt aus viel weniger von Gottes Handeln überschaut als Bucherzähler und Buchleser.

Innerhalb seiner begrenzten Ich-Perspektive kann ein Ich-Erzähler allerdings existentiell ganz anders in die erzählten Begebenheiten verwickelt sein als der jenseits von allem stehende auktoriale Er-Erzähler, selbst wenn dieser mit den von ihm erzählten Schicksalen mitfühlen oder sie verabscheuen kann. Eine Ich-Erzählung kann so weit gehen, dass der Akt des Erzählens selbst erst den Abschluss oder eine neue Verknotung aller vorher erzählten Ereignisstränge darstellt. So ist es in der Tat in Deuteronomium 1 – 3. Die ganze Erzählung läuft am Ende von Kapitel 3 genau auf die Aktionen hin, die Mose aufgrund des Erzählten dann im Buch Deuteronomium vollziehen muss und die der Bucherzähler im restlichen Buch darstellen wird. Vor allem der direkte Fabel-Anschluss von Kapitel 31 an das Ende von Kapitel 3 (Gottes Einsetzung Josuas) erklärt sich so.

Dies verbindet sich mit einer weiteren Besonderheit der Ich-Erzählung am Anfang des Deuteronomiums. Nicht nur Mose, der Erzähler, ist Handelnder in der von ihm erzählten Geschichte gewesen, auch seine Zuhörer im Lande Moab waren es. Da Moses Erzählung sich über zwei Generationen erstreckt, stimmt das zwar nicht ganz. Recht weit vorn im zweiten Kapitel ist die Generation von Kadesch-Barnea ausgestorben. Das Ostjordanland wird von einer neuen Generation teils durchzogen, teils erobert. Erst recht wird die alte Generation nicht mehr den Jordan überschreiten. Diese Generationenablösung macht Mose später geradezu zum Thema (vgl. vor allem 1,34-39 und 2,14-16). Aber zugleich überspielt er den Generationenwechsel nach Möglichkeit und behandelt die, welche ihm jetzt zuhören, als solche, die bei allem, was er in seiner Erzählung aufgreift, dabei waren.12 Er tut das, indem er vom ersten Vers der Erzählung an überall, wo er nicht dem Volk auf diese oder jene Weise entgegentritt, sich mit seinen jetzigen Zuhörern im „wir“ zusammenschließt. Wo er nicht an einer Handlung beteiligt ist, sagt er „ihr“, auch wenn es sich um die vorangehende, inzwischen in der Wüste verscharrte Generation handelt. Nie gebraucht er für die Israeliten der Kadeschgeneration in ihrer Gesamtheit die dritte Person. Aufgrund welcher Vorstellungen Mose diese Generationenidentifikation vornimmt, müssen wir an dieser Stelle nicht erörtern. Es genügt, dass er sie vornehmen kann und dass sie offenbar von seinen Zuhörern ←13 | 14→akzeptiert wird. Damit macht er seine Zuhörer zu Mitverantwortlichen der ganzen erzählten Geschichte, reaktualisiert die alten Konflikte und zieht seine Zuhörerschaft in die neuen, jetzt zu fällenden Entscheidungen so hinein, dass sie die ganze geschichtsgeladene Verantwortung mittragen. Auf der Ebene der Bucherzählung ist der „geschichtliche Rückblick“ Moses also Handlung. Der Bucherzähler treibt seine Erzählung, wie schon angedeutet, hier nicht durch „telling“ (Bericht), sondern durch „showing“ (szenische Darstellung) voran. Indem Mose zurückblickt, beginnt schon die Handlung des Buches und geht weiter.

In der neuzeitlichen Deuteronomiumskommentierung wurde gelegentlich der Gedanke geäußert, die ersten drei Kapitel seien ursprünglich Er-Erzählung gewesen und erst später in Ich-Erzählung umgesetzt worden, um formale Doppelungen mit dem Buch Numeri zu vermeiden und aus dessen Erzählungen eine Art Zusammenfassung zu machen.13 Bei dieser Annahme dürfte wohl kaum ein Bewusstsein dafür bestanden haben, welch semantischen Umbau die Verwandlung einer Er-Erzählung in eine Ich-Erzählung fordert und in welchem Ausmaß Dtn 1,6 – 3,29 gerade als Ich-Erzählung im narrativen Gesamt-vorgang des Deuteronomiums unentbehrlich ist.

Auf der anderen Seite ist allerdings festzuhalten, dass Mose in seiner Erzählung die literarischen Möglichkeiten einer Ich-Erzählung bei weitem nicht so ausschöpft, wie das in moderner Erzählliteratur geschieht. Gerade die Ich-Erzählung reizt ja zur Entfaltung der Erzähler-Innenperspektive. Mose könnte von seinen eigenen Empfindungen und seelischen Reaktionen erzählen. Aber er tut das nicht. Allerhöchstens zitiert er eigene Reden, in denen seine psychische Situation durchscheint. So gleich am Anfang, wo er zum Volk von seiner zu hohen Arbeitsbelastung spricht (1,9-13), oder ganz am Ende, wo er Josua zwar aufmuntert, ihn aber nicht, wie man erwarten würde, zu seinem Nachfolger macht (3,21f), und wo er dann Gott bittet, ihn doch selber noch das verheißene Land betreten zu lassen (3,24f). Aber auch in diesen Fällen scheint das Psychische nur gerade durch, es wird nicht mit Worten benannt. Mose erzählt hier – wie im Übrigen überall in diesen Kapiteln – in reiner Außendarstellung. Doch gerade so werden Leerstellen geschaffen, die Tiefe und Hintergrund zu erahnen zwingen.14 Die Darstellung ist sehr nah bei dem, was Erich Auerbach einst an Genesis 22 in Abhebung von Homer so meisterhaft beschrieben hat.15 Sie ist, wie die kommende Analyse zeigen wird, sogar sehr daran interessiert, dass in Moses Zuhörern Empathie mit seinem Schicksal entsteht. Der erst in 4,1-40 voll hervortretende rhetorische Mechanismus braucht diese Empathie, um zu funktionieren, und sie wird nicht geweckt ohne Einfühlung ←14 | 15→in Moses Seelenleben. Doch solche Einfühlung bewirkt Mose durch diese verhaltene Technik, nicht durch ins Wort tretenden Ausbau einer eigenen Innenperspektive. Das mag der Grund dafür sein, dass der Sinn dieser Erzählung bei Kommentatoren aus einer Epoche, die Psychisches handgreiflicher darzustellen pflegte, oft nur in der Information über historische Vorgänge gesehen wird, oder in der Eröffnung eines Geschichtswerks, allerhöchstens in Beispielerzählungen über Ungehorsam und Gehorsam und deren Folgen. So werden die Kapitel heute fast durchgehend interpretiert.16

Auf eine andere Weise gerät Mose an die Grenze der Möglichkeiten einer Ich-Erzählung, wenn es um die erzählerische „Allwissenheit“ geht. Wenn er von Gott und seinem Handeln spricht, nähert er sich doch sehr dem üblichen „allwissenden Erzähler“ der Bibel. Er weiß, dass Gott gehört hat, was das Volk in den Zelten sagte, dass Gott auf menschliches Rufen nicht hörte, dass er zornig wurde oder segnete, dass er seine Hand gegen Menschen ausstreckte, dass er Menschen verhärtete oder sie ihren Gegnern auslieferte (1,34.37.45; 2,7.15. 30.33.36; 3,26).17 Kann ein echter Ich-Erzähler solche Dinge über Gott wissen? Vielleicht doch noch. In allen diesen Fällen gab es erfahrbare Auswirkungen in der menschlichen Welt, die Mose stets auch nennt oder andeutet. Schließt er hier also nicht, aus seiner Erzählgegenwart zurückblickend, einfach aus den Wirkungen auf die Ursache – falls er (und meistens auch die Israeliten zusam-men mit ihm) das nicht schon während der Ereignisse selbst getan hatte? Das wäre dann noch nicht Erzähler-Allwissenheit im eigentlichen Sinn. Der krasseste Fall von erhobenem Allwissenheitsanspruch in den drei Kapiteln betrifft nicht Mose, sondern die sündigenden Israeliten. Wo sie den Zug ins verheißene Land verweigern, verleumden sie ihren Gott, indem sie behaupten, er hasse sie und habe sie nur deshalb aus Ägypten geführt, um sie durch die Amoriter beseitigen zu lassen (1,27). Ein Wissen dieser Art über Gottes verborgene Absichten beansprucht Mose in seinen Erzähleraussagen an keiner Stelle. Er gerät also, wenn es um Gott geht, zwar hart an die Grenze zu einem allwissenden Autor – doch er überschreitet die Grenze nicht.

Ja, im Hinblick auf Gottes geheime Ratschlüsse schafft er sich sogar einen Ersatz für die ihm als Ich-Erzähler nicht zukommende Erzähler-Allwissenheit. Er hat ja auf jeden Fall von Gottes Worten zu berichten, die er auf verschiedenen Stationen des Weges empfangen hat. Diese Worte funktionieren als göttliche Weisungen für das menschliche Handeln. Doch Mose weitet sie aus. Im ←15 | 16→Zusammenhang mit Gottes Weisungen lässt er Gott auch seine Pläne und Absichten andeuten, so dass die göttlichen Intentionen erkennbar werden. Schon das einleitende Gotteswort in 1,6-8 ist mehr als ein reiner Aufbruchsbefehl. Es entwirft eine Zukunftsvision. In der göttlichen Neuanweisung nach der Sünde von Kadesch-Barnea in 1,35-40 finden sich die eigentlichen Neuverordnungen für Israels Handeln nur im Rahmen: in V 35 und 40, vielleicht noch in V 39. Alles dazwischen ist schon wieder Einblick, den Gott in Einzelheiten seiner Zukunftssicht gewährt. Der Befehl Gottes, den Arnon zu überschreiten in 2,24a, direkt vor dem Beginn der Eroberungen der transjordanischen Nordhälfte, weitet sich aus in die Deutung dessen, was jetzt beginnt: der gelingenden Landnahme Israels angesichts aller Völker unter dem Himmel (V 24b.25). An dieser Stelle ist das, was der erzählende Mose aus dem göttlichen Befehl zu machen scheint, besonders augenfällig. Denn in 2,26 erzählt er, wie er auf den Befehl reagiert hat. Er hat reagiert, als wisse er gar nicht, dass jetzt Krieg beginne, und hat eine Gesandtschaft mit einer Petition um friedlichen Durchzug an König Sihon geschickt. Das ist bei jeder Kommentierung dieses Textes natürlich genauer zu erörtern. Uns scheint der Sachverhalt am einfachsten dadurch erklärt zu sein, dass es sich um einen erzählerischen Rückgriff handelt. Im Deutschen sollte man wohl plusquamperfektisch sprechen. Eine reine Vergangenheitsübersetzung würde die Missachtung des vorher schon erzählten Gotteswortes implizieren. Doch wird wohl gerade hier deutlich, wie Mose das, was ihm als nicht-allwissendem Erzähler in eigenem Namen zu sagen nicht zusteht, dennoch sagt, indem er es sich von Gott sagen lässt, und zwar ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt. Man wird an dieser Stelle wohl schließen müssen, dass es angesichts der damals vorherrschenden Technik, eine allwissende auktoriale Erzählergestalt erzählen zu lassen, äußerst schwierig gewesen sein muss, Mose als einen nicht-allwissenden Ich-Erzähler zu stilisieren. Da wurden wohl die Grenzen des damals kulturell Möglichen berührt. Dennoch ist eine echte perspektivische Ich-Erzählung entstanden, und man muss sie als solche lesen und interpretieren.

Die nun nach der Bestimmung der narrativen Grundsituation fällige, ins Einzelne gehende narrative Analyse beginnen wir ganz von außen. Wir starten mit Beobachtungen an der syntaktischen Textgestalt und versuchen dann, von da aus die narrative Form genauer in den Griff zu bekommen. Dabei werden viele unter dem Gesichtspunkt der „Ich-Erzählung“ gemachte Beobachtungen unter anderen Gesichtspunkten und in genaueren Zusammenhängen wiederkehren.

1.2 Syntaktische Charakteristika der Moseerzählung

(1) Dtn 1,6 – 3,29 ist textsyntaktisch in geradezu ungewöhnlicher Hartnäckigkeit von einer fast ununterbrochen durchlaufenden Kette von ←16 | 17→wayyiqtol-Sätzen getragen.18 Wenn man die Zwischenbemerkungen des Bucherzählers und alle von Mose zitierten Reden auslässt, findet man nach einem Eröffnungssatz, der dem Muster x– qatal folgt, bis zum Ende in 3,29 eine Kette von 77 Verbalsätzen nach dem Muster wayyiqtol – x. Ihnen sind 9 Fälle zuzuordnen, wo die Negation des Verbs eine Inversion erzwingt (1,26.43.45.45; 2,7.30.34; 3,4.26). Das ergibt zusammen eine Kette von 86 den Gang der Rede konstant durchtragenden Erzählsätzen. Dazwischen finden sich noch 9 Verbalsätze mit Vorfeldbesetzung (1,37; 2,7.15; 3,12.12.13.15.16f.21) und 4 Nominalsätze (in 1,32f; 2,7; 2,14; 2,21). Sie dienen der Abschnittsmarkierung, Gegensatzbetonung, Hintergrundschilderung oder Fokussierung. Jedoch stehen sechs der Verbalsätze mit Vorfeldbesetzung in 3,12-17* in einem einzigen Abschnitt beisammen, der speziell gestaltet ist. Und überhaupt gilt: Die genannten Ausnahmen von der Regel finden sich mehrheitlich in der zweiten Hälfte der Erzählung Moses, und da dürften sie mit einem Stimmungswechsel Moses zusammenfallen, der aber nicht ganz bis zum Ende der Erzählung durchhält. Beim Endstück der Erzählung kehrt dann allerdings der vorher dominante Stil mit wayyiqtol – x zurück (3,23-29).

Zieht man die Zwischenbemerkungen des Bucherzählers und die zitierten Reden ab, dann baut sich der eigentliche Erzähltext Moses in 1,6 – 3,29 aus genau 100 Sätzen auf. Moses Erzähltext mitsamt den zitierten Reden umfasst 1400 Wörter – so zumindest im Codex Leningradensis. Das spricht für sehr sorgfältige Arbeit.

Details

Seiten
212
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631870037
ISBN (ePUB)
9783631873496
ISBN (Hardcover)
9783631873489
DOI
10.3726/b19441
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Januar)
Schlagworte
Gebotsparänese Deuteronomische Sprachelemente Rhetorische Stilmittel Gliederungstechniken Wüstenwanderung Israels
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 212 S., 54 Tab.

Biographische Angaben

Georg Braulik (Autor:in) Norbert Lohfink (Autor:in)

Georg Braulik, geboren 1941, Benediktiner, war Alttestamentler an der Universität Wien. Er ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschung gilt vor allem den Büchern Deuteronomium und Psalmen, außerdem bearbeitet er bibeltheologische und biblisch-liturgische Themen. Norbert Lohfink, geboren 1928, Jesuit, war Alttestamentler in Rom (Pontificio Istituto Biblico) und Frankfurt am Main (Hochschule Sankt Georgen). Sein Spezialgebiet war der Pentateuch, sonst noch Psalmen, Hosea und Kohelet. Er war Mitglied des »Hebrew Old Testament Text Project«.

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