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Das Lesen differenzieren? Reziprokes Lesen im Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8

von Elena Obermeier (Autor:in)
©2022 Dissertation 396 Seiten

Zusammenfassung

Die Wirksamkeit des reziproken Lesens gilt mittlerweile für das L1-Lesen als umfassend erforscht. Auch wenn diverse Beiträge die kooperative Unterrichtsmethode für den Englischunterricht bereits empfehlen, fehlten hierzu bislang allerdings solide Forschungsarbeiten. Der vorliegende Band liefert empirische Erkenntnisse bezüglich der verschiedenen Dimensionen der Wirksamkeit der Methode im Kontext von L2-Lesen. Die Grundlage bildet eine Mixed-Methods-Studie mit drei Schulklassen der Jahrgangsstufe 8. In dieser wird reziprokes Lesen zur Förderung des fremdsprachlichen Lesens und als differenzierendes Lernsetting untersucht. Zusätzlich bietet der Band Anregungen für einen angemessenen Einsatz der Methode sowie für einen kommunikativen, strategischen und differenzierenden Umgang mit Texten im Englischunterricht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Heterogenität, Individualität und Differenzierung im Englischunterricht
  • 1.2 Lesen und Leseförderung im Englischunterricht
  • 1.3 Reziprokes Lesen zur Leseförderung im Englischunterricht?
  • 1.4 Zielsetzung, Forschungsfragen und methodische Herangehensweise
  • 1.5 Aufbau der Arbeit
  • Teil I: Reziprokes Lesen im differenzierenden Englischunterricht: theoretische und konzeptionelle Grundlagen
  • 2. Differenzierung im Englischunterricht
  • 2.1 Definitionen, Arten und Formen differenzierenden Englischunterrichts
  • 2.2 Differenzierung im Englischunterricht – eine Notwendigkeit?
  • 2.3 Besonderheiten von Differenzierung im Englischunterricht
  • 2.4 Empirische Befunde zur Wirksamkeit von Differenzierung
  • 2.5 Zusammenfassung und Implikationen für die empirische Studie
  • 3. Lesen und Leseförderung im Englischunterricht
  • 3.1 Theoretische Grundlagen des Lesens
  • 3.2 Besonderheiten des Lesens in der Fremdsprache Englisch
  • 3.3 Lesekompetenzförderung im Englischunterricht
  • 3.3.1 Lesestrategietraining im Englischunterricht
  • 3.3.2 Förderung von Lesemotivation im Englischunterricht
  • 3.3.3 Förderung von Metakognition im Englischunterricht
  • 3.4 Lesekompetenzmessung in der Fremdsprache Englisch
  • 3.5 Zusammenfassung und Implikationen für die empirische Studie
  • 4. Leseförderung durch Reziprokes Lesen
  • 4.1 Allgemeine Vorstellung der Unterrichtsmethode Reziprokes Lesen
  • 4.2 Die Lesestrategien des Reziproken Lesens
  • 4.3 Wirksamkeit und Forschungslage
  • 4.3.1 Studienüberblick
  • 4.3.2 Wirksamkeitsfaktoren des Reziproken Lesens als Lehr-/Lernmethode
  • 4.3.3 Empfehlungen des Einsatzes von Reziprokem Lesen im Englischunterricht
  • 4.4 Vorüberlegungen zum Einsatz von Reziprokem Lesen im differenzierenden Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8
  • 4.4.1 Mögliche Unterschiede des Reziproken Lesens in L1 und in L2 sowie Besonderheiten des Einsatzes der Methode im Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8
  • 4.4.2 Eignung des Reziproken Lesens zur Differenzierung von Englischunterricht
  • 4.5 Zusammenfassung und Implikationen für die empirische Studie
  • Teil II: Reziprokes Lesen im Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8: Empirische Untersuchung zur differenzierenden Wirkung zweier Lesekompetenzfördervarianten
  • 5. Erkenntnisinteresse und Anlage der empirischen Studie
  • 5.1 Forschungsfragen und fokussierte Wirksamkeitsdimensionen
  • 5.2 Forschungsmethodisches Vorgehen
  • 5.3 Datenbasis
  • 5.4 Forschungsinstrumente
  • 5.4.1 Lesekompetenztest
  • 5.4.2 Fragebogen
  • 5.4.3 Interview
  • 5.4.4 Beobachtungsinstrumente
  • 5.5 Zusammenfassung des Forschungsinteresses und des Studiendesigns
  • 6. Materialentwicklung und Durchführung der Leseförderung
  • 6.1 Auswahl und Aufbereitung der Texte
  • 6.1.1 Texterstellung
  • 6.1.2 Formale und inhaltliche Ausgestaltung der Texte
  • 6.2 Konzeption der Trainingsmaterialien
  • 6.3 Konzeption der Differenzierungsmaterialien für die Version RLDIFF
  • 6.4 Durchführung der Interventionsstudie
  • 6.4.1 Durchführung, Nutzen und Ertrag der Vorstudien
  • 6.4.2 Die Strategieeinführung in beiden Trainingsversionen der Hauptstudie
  • 6.4.3 Die Einübungsphase in Kleingruppen
  • 6.4.4 Generelle Lehren aus der Durchführung der Hauptstudie
  • 7. Datenerhebung und Datenauswertung
  • 7.1 Kontakt zum Forschungsfeld und Datenerhebung
  • 7.2 Datensicherung und Datenaufbereitung
  • 7.3 Datenauswertung
  • 7.3.1 Auswertung mittels qualitativer Inhaltsanalyse
  • 7.3.1.1 Auswertungsraster für die offenen Fragebogenitems
  • 7.3.1.2 Auswertungsraster für die Interviews mit den Lehrkräften
  • 7.3.1.3 Auswertungsraster für die Beobachtungsdaten
  • 7.3.2 Auswertung mittels statistischer Verfahren
  • 7.3.2.1 Auswertung der Lesekompetenztests
  • 7.3.2.2 Auswertung der geschlossenen Fragebogenitems
  • Teil III: Reziprokes Lesen im differenzierenden Englischunterricht der Jahrgangs- stufe 8: Ergebnisse und Fazit
  • 8. Darstellung der Ergebnisse der Datenanalysen
  • 8.1 Qualitative Ergebnisse der Inhaltsanalyse
  • 8.1.1 Stärken und zugeschriebene Vorteile der beiden Lesetrainingsvarianten
  • 8.1.2 Schwächen und Optimierungspotenzial der beiden Lesetrainingsvarianten
  • 8.1.3 Strategieanwendung der Schüler*innen
  • 8.1.4 Verwendung der Zielsprache durch die Schüler*innen
  • 8.1.5 Unterstützungsmaßnahmen der beiden Lesetrainingsvarianten
  • 8.1.6 Eignung des Reziproken Lesens für heterogene Gruppen und zu Differenzierungszwecken im regulären Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8
  • 8.1.7 Wahrgenommene Effekte der beiden Lesetrainingsvarianten
  • 8.1.8 Gesamtbetrachtung der qualitativen Daten
  • 8.2 Quantitative Ergebnisse
  • 8.2.1 Ergebnisse der geschlossenen Items der Fragebögen für die Schüler*innen
  • 8.2.2 Ergebnisse der Lesekompetenztests
  • 8.2.3 Gesamtbetrachtung der quantitativen Daten
  • 9. Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
  • 9.1 Wirksamkeit von Reziprokem Lesen im regulären Englischunterricht
  • 9.1.1 Wahrnehmung der Wirksamkeit von Reziprokem Lesen im regulären Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8 durch die Beteiligten
  • 9.1.2 Veränderungen der L2-Lesekompetenz durch Reziprokes Lesen
  • 9.1.3 Wirksamkeitsvergleich des Reziproken Lesens in der L1 und in der L2
  • 9.1.4 Zusammenfassung der Wirksamkeit von Reziprokem Lesen im regulären Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8 (Forschungsfrage 1)
  • 9.2 Unterschiede der beiden Trainingsvarianten RL und RLDIFF
  • 9.2.1 Unterschiede der beiden Trainingsvarianten in den quantitativen Daten
  • 9.2.2 Unterschiede der beiden Trainingsvarianten in den qualitativen Daten
  • 9.2.3 Zusammenfassung der Unterschiede zwischen der Trainingsvariante RL und der differenzierenden Variante RLDIFF (Forschungsfrage 2)
  • 10. Schluss
  • 10.1 Fazit
  • 10.2 Relevanz und Reichweite der Ergebnisse
  • 10.3 Forschungsdesiderate
  • 10.4 Hinweise für die Implementation von Reziprokem Lesen im regulären Englischunterricht der Jahrgangsstufe 8
  • 10.5 Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

Tabellenverzeichnis

Tab. 1:Überblick empirischer Forschungsarbeiten zum RL.

Tab. 2:Übersicht über die Fördermaterialien samt eingesetzter Phase sowie didaktischer Begründung.

Tab. 3:Schemahafte Darstellung der Inhalte der Interventionsstunden.

Tab. 4:ITEM 2.1 POST: „Ganz allgemein: Hat dir das Lesetraining (der EU bei KG) gefallen?“

Tab. 5:ITEM 1.5 PRÄ & POST: „Beim Lesen englischer Texte hilft es mir, mich danach mit anderen über den Text zu unterhalten.“

Tab. 6:ITEM 2.4 PRÄ & POST: „Das Lesen englischer Texte fällt mir…“

Tab. 7:ITEM 2.10 POST: „Habt Ihr in den Gruppen immer Englisch geredet?“

Tab. 8:ITEM 1.15 PRÄ & POST: „Beim Lesen englischer Texte überlege ich mir, ob eine bestimmte Lesetechnik/-strategie sinnvoll sein könnte.“

Tab. 9:ITEM 1.21 PRÄ & POST: „Beim Lesen englischer Texte bin/war ich gespannt, ob ich etwas Neues lerne.“

Tab. 10:ITEM 2.2 PRÄ & POST: „Habt ihr Euch in den Gruppen gegenseitig geholfen?“

Tab. 11:ITEM 1.14 PRÄ & POST: „Wenn beim Lesen englischer Texte ein Problem auftritt/auftrat, arbeite/arbeitete ich gern mit anderen zusammen, um dieses zu lösen.“

Tab. 12:Prä- und Postergebnisse der Lesekompetenztests der untersuchten Treatment-Gruppen RL, RLDIFF und KG.

Tab. 13:Modellierung der Personenfähigkeit in Abhängigkeit der drei Treatment-Gruppen RL, RLDIFF und KG sowie der beiden Messzeitpunkte im Prä- und Posttest in Form eines GLMM.

Tab. 14:Modellierung der Personenfähigkeit in Abhängigkeit der Treatment-Gruppen sowie der beiden Messzeitpunkte ausschließlich mit den Daten des Ankerteils (n = 17) in Form eines GLMM.

Tab. 15:Deskriptive Statistik der Prä- und Posttestergebnisse der drei Treatment-Gruppen RL, RLDIFF und KG im Ankerteil (n = 17) der Lesekompetenztests in Form von Lösungshäufigkeiten der Items.

←17 | 18→

Tab. 16:Modellierung der Personenfähigkeit in Abhängigkeit der drei Treatment-Gruppen, der beiden Messzeitpunkte im Prä- und Posttest und der im Prätest erreichten WLE-Werte in Form eines GLMM.

Tab. 17:Überblick über die Schüler*innen der drei Treatment-Gruppen mit individuellen Verbesserungen ihrer Personenfähigkeitswerte (WLE) und der erreichten Bildungsstandardstufe vom Prä- zum Posttest.

Abkürzungsverzeichnis

AB(s)

Arbeitsblatt/Arbeitsblätter

ADEQUA

Forschungsprojekt Adequacy of Learning Strategy Use

DESI

Leistungsstudie Deutsch Englisch Schülerleistungen International

DIPF

Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung

EU

Englischunterricht

FSU

Fremdsprachenunterricht

GeR

Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen

GLMM

Generalized Linear Mixed Model

IQB

Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

IRT

Item-Response

-Theorie

KMK

Kultusministerkonferenz

KLP

Kernlehrplan

KTT

Klassische Testtheorie

L1

Mutter-/Erst-/Herkunftssprache

L2

Zweit-/Fremdsprache

LF

Leseflüssigkeit

MSW

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen

NRW

Nordrhein-Westfalen

OECD

Organization for Economic Co-operation and Development

PALS

Lesetrainingsprogramm Peer Assissted Learning Strategies

PISA

Internationale Leistungsstudie Programme for International Student Assessment

QIA

Qualitative Inhaltsanalyse

RL

Reziprokes Lesen (& die nicht differenzierte Variante der Leseförderung damit)

RLDIFF

Differenzierende Variante der Leseförderung mit reziprokem Lesen

VERA-8

Vergleichsarbeiten in der Jahrgangsstufe 8 (auch: Lernstandserhebungen)

WLE

Weighted Likelihod Estimate(s)

←20 | 21→

1. Einleitung

Durch die bildungspolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland sind Heterogenität, Individualisierung und Differenzierung von Unterricht wieder zu zentralen Themen der öffentlichen wie auch der didaktischen Debatte avanciert.1 Dabei wird der Ruf nach innovativen, aber auch umsetzbaren Maßnahmen für die zunehmend leistungsdifferenteren Schulklassen laut. Sowohl die produktiven (Sprechen und Schreiben) als auch die rezeptiven Fähigkeiten (Hören und Lesen) sind oftmals unter Lernenden sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die ohnehin hohe Individualität des Lesens betrifft insbesondere das fremdsprachliche Lesen durch die jeweils individuell ausgebildeten sprachlichen Kompetenzen, Wortschatzkenntnisse, Vorerfahrungen mit Sprache(n), Sprachgemeinschaft(en) und Sprachenlernen sowie die persönlichen kulturellen Wissensbestände der Fremdsprachenlernenden. Differenzierung zielt zwar dementsprechend auf das Lernen nach den eigenen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Voraussetzungen ab, jedoch sollte sie im Fremdsprachenunterricht nicht dazu führen, dass dort stets leise, schriftlich und einzeln gelernt wird. Da zu den Kernanliegen des kommunikativen Englischunterrichts (EU)2 interkulturelle Handlungsfähigkeit und kommunikative Kompetenz zählen, werden hierzu vielmehr kooperative Unterrichtsformen verstärkt gefordert.

Die Wirksamkeit einer solchen kooperativen Lehr-/Lernmethode, nämlich des sogenannten reziproken Lesens (RL)3 nach Palincsar und Brown (1984), wurde in Bezug auf das Lesen in der Erstsprache (L1) bereits umfassend belegt (vgl. z. B. Rosenshine/Meister 1994; vgl. Kap. 4.3.1). Die Methode des RL zeichnet sich durch die eingeübte Abfolge des Lesens und der Anwendung sowohl ←21 | 22→lesefördernder als auch leseüberwachender Strategien in Kleingruppenarbeit aus. Für das Lesen in der Fremdsprache (L2) Englisch und für die Anwendung im EU wird die Methode in verschiedenen Praxisbüchern und Einführungen bereits empfohlen (vgl. z. B. Grieser-Kindel et al. 2016; vgl. Kap. 4.3.3). Da bislang aber keine empirischen Befunde zu ihrem tatsächlichen Nutzen im Kontext des (deutschen) EU vorliegen, fokussiert die vorliegende Arbeit daher diesen Kontext. Im Rahmen einer explorativen Interventionsstudie wurde hierzu überprüft, ob RL neben seiner erprobten Tauglichkeit im L1-Unterricht auch im Hinblick auf das Lesen in der L2 dazu beiträgt, der zunehmenden Heterogenität der Lerngruppen im EU besser gerecht zu werden und dabei das Lesen in der L2 differenziert fördern zu können.

1.1 Heterogenität, Individualität und Differenzierung im Englischunterricht

Schon seit einigen Jahren ist individuelle Förderung in allen deutschen Bundesländern als zentrale Leitidee der schulischen Bildung gesetzlich verankert. Laut Ministerium für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen (hier: NRW; MSW NRW 2020: § 1 Abs. 1) gilt etwa:

„Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung.“

Grundsätzlich müssen also auch im EU die individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler*innen zum Ausgangspunkt aller Unterrichtsprozesse angenommen werden. Differenzierung im EU bedeutet im Verständnis vieler Lehrkräfte eine Bereitstellungsform von Lernaktivitäten auf unterschiedlichen Fähigkeits- und Interessenniveaus (vgl. hierzu Strohn 2015). Die Verwendung differenzierender Maßnahmen im EU erlaubt nach Ansicht vieler Didaktiker*innen nicht nur eine größere Konzentration auf die Lernenden, sondern sie kann auch dabei helfen, der fachspezifischen Individualität und Komplexität des Fremdsprachenlernens gerecht zu werden.

1.2 Lesen und Leseförderung im Englischunterricht

Der wachsende Ruf nach differenzierendem und individuellem Fördern betrifft logischer Weise auch die Förderung der sogenannten „rezeptiven Kompetenz“ (Goodman 1988: 12) des Lesens im EU. Seit der Veröffentlichung der ←22 | 23→Ergebnisse der DESI-Studie4 ist bekannt, dass die Hälfte der Schüler*innen in 9. Hauptschulklassen, also kurz vor dem Ende ihrer Pflichtschulzeit, nur über eine unzureichend ausgebildete L2-Lesekompetenz verfügt. Aber auch viele Lernende anderer Schulformen zeigen gravierende Schwierigkeiten beim Lesen englischer Texte und können nicht flüssig lesen und/oder Inhalte nicht angemessen verstehen (vgl. DESI-Konsortium 2008: 415 f.). Zugleich wird die hohe Relevanz der Lesekompetenz für die gesellschaftliche Teilhabe bereits in der im Rahmen der PISA-Studien5 verwendeten Definition deutlich, welche ebenso für die DESI- oder VERA-Testungen6 genutzt wurde: Artelt et al. (2001: 80), definieren Lesekompetenz als Schlüsselkompetenz und als jene Fähigkeit, „Texte zu verstehen, nutzen und über sie reflektieren zu können, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“.

Grundsätzlich muss Lesekompetenz auch im EU immer wieder thematisiert, fokussiert und gezielt trainiert werden. Das Lesen vieler Schüler*innen weist in der L2 zahlreiche Besonderheiten auf, die häufig durch Defizite in sprachlichen Aspekten oder Wissensbeständen bedingt sind und die in einem nicht immer zielführenden Einsatz von Lern- und Lesestrategien resultieren können. Nicht nur in den unteren Jahrgangsstufen demonstrieren Schüler*innen beim Lesen in der L2 im Vergleich zum Lesen in der L1 eine geminderte Leseflüssigkeit. Auch die vielfach eingeschränkten allgemeinen Sprach- und Wortschatzkenntnisse der Fremdsprachenlernenden sowie ein geringeres Hintergrund-, Strategie- oder kulturelles Wissen können das Leseverstehen in der L2 erschweren und führen zu Unterschieden im Lesekompetenzniveau in L1 und L2.←23 | 24→

In einem kompetenzorientierten EU, der zu autonomem Lernen befähigt, müssen Schüler*innen frühzeitig lernen, fremdsprachliche Texte selbstständig zu erschließen. Darüber hinaus ist das Lesen eine der Fertigkeiten, die zum Erlernen einer Fremdsprache notwendig sind. Zur Begründung der unzureichenden Lesekompetenz vieler Schüler*innen werden häufig mangelnde Lesemotivation, das Fehlen geeigneter Lesestrategien sowie fehlende Lesepraxis genannt. Es existieren indes zwar mittlerweile zahlreiche Lesestrategieprogramme für das Lesen in der L1, jedoch nach wie vor nur wenige für das Lesen in der L2. Zur Erreichung der spezifischen Ziele des EU, wie etwa der kommunikativen Kompetenz, gelten für die Leseförderung in der L2 kooperative und differenzierende Lernarrangements für den EU häufig als vielversprechend. Das RL als kooperative und kommunikative Unterrichtsmethode könnte dabei möglicherweise als Bindeglied zwischen L2-Leseförderung und Differenzierung im EU fungieren.

1.3 Reziprokes Lesen zur Leseförderung im Englischunterricht?

Die Lehr-/Lernmethode RL zeichnet sich durch eine eingeübte Abfolge des Lesens in Kleingruppen und durch die Anwendung sowohl lesefördernder als auch leseüberwachender Strategien aus. Es handelt sich dabei um die Strategien Vorhersagen, Klären, Fragenstellen und Zusammenfassen (vgl. Kap. 4.1). Fünf Lernende lesen einen Text abschnittsweise und wenden abwechselnd die genannten Strategien auf den Text an, um dessen Sinn gemeinsam zu erschließen. Zur Wirksamkeit der Leseförderung mit RL im regulären (L1-) Leseunterricht liegen bereits zahlreiche empirische Ergebnisse vor (vgl. Kap. 4.1). Der Fokus lag dabei bisher auf dem RL in der L1 der Lernenden und kaum auf dem Lesen anhand der Methode in der L2, im Kontext des EU der Sekundarstufe im deutschen Schulsystem oder im differenzierenden Unterricht.

Eine Untersuchung des RL im Kontext des Lesens in der L2 und im EU ist nicht zuletzt deshalb von Relevanz, da begründet angenommen werden kann bzw. muss (vgl. hierzu Kap. 4.4), dass der Einsatz von RL aufgrund diverser Unterschiede zum Lesetraining in der L1 beim L2-Lesen zu anderen Ergebnissen führen könnte als sie bislang für die L1 ermittelt wurden. Zwar handelt es sich beim Lesen in der L2 nicht um eine grundsätzlich neu zu erlernende Fähigkeit, da die Schüler*innen bereits in ihrer L1 lesen können. Einige Ansätze der L2-Leseforschung (vgl. Kap. 3) lassen aber vermuten, dass Lernende je nach Sprachniveau ihre Lesefähigkeit aus der L1 nicht ohne weiteres auf die L2 übertragen können. Es zeigt sich folglich die Notwendigkeit, und damit das ←24 | 25→Anliegen dieser Arbeit, das Potenzial des RL für den EU und das L2-Lesen auszuloten und den Bedarf von Differenzierung für L2-Lernende zu untersuchen.

1.4 Zielsetzung, Forschungsfragen und methodische Herangehensweise

Die Zielsetzung der vorliegenden Forschungsarbeit besteht erstens darin, eine theoriebasierte und eigens konzipierte englischsprachige Leseförderung mit RL im regulären EU einer deutschen (Gesamt-)Schule zu erproben. Zweitens gilt es, eine zusätzliche differenzierende Variante des RL zu konzipieren und ebenfalls unter denselben Bedingungen zu erproben. Es wird dabei geprüft, ob oder inwiefern sich die differenzierende Variante im Vergleich zur herkömmlichen Variante des RL als wirkungsvoller für das Lesen in der englischen Sprache erweist. Der Fokus liegt dabei im Rahmen einer Intervention mit RL im EU der Klasse 8 auf zwei Dimensionen: (a) der wahrgenommenen Wirksamkeit des RL im regulären EU durch die Beteiligten und (b) der messbaren Veränderungen der Lesekompetenz der Fremdsprachenlernenden.

Der Arbeit lagen die folgenden zwei Forschungsfragen zugrunde (vgl. Kap. 5.1), wobei die erste der Forschungsfragen zudem durch drei Teilfragen (1.1, 1.2 & 1.3) gegliedert wurde:

1.Wie wirksam ist das Lesefördertraining mit RL im regulären EU der Jahrgangsstufe 8?

Details

Seiten
396
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631870518
ISBN (ePUB)
9783631870525
ISBN (Hardcover)
9783631861660
DOI
10.3726/b19314
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Schlagworte
Empirische Forschung Unterrichtsforschung Mixed Methods Methodenforschung Lesestrategien Lesestrategietraining L2-Leseforschung Fremdsprachliches Lesen Sekundarstufe I Kooperative Unterrichtsmethoden
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 396 S., 1 farb. Abb., 14 s/w Abb., 17 Tab.

Biographische Angaben

Elena Obermeier (Autor:in)

Elena Obermeier hat die Fächer Englisch, Deutsch und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien an der Goethe-Universität Frankfurt studiert. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Didaktik der englischen Sprache an der Universität Siegen tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind L2-Lesen, Differenzierung im Englischunterricht und empirische Fremdsprachenforschung.

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