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Kompetenzfacetten literarästhetischer Sprachreflexion

Theoretische Verortung – empirische Analysen – Ansatzpunkte didaktischer Förderung

von Christel Meier (Autor:in)
©2022 Habilitationsschrift 502 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Welche Fähigkeiten benötigt man für einen kompetenten Umgang mit Sprache in Literatur? Im Zentrum dieser Publikation steht ein Kompetenzmodell „literarästhetischer Sprachreflexion" mit den Teilfähigkeiten „Sprachwahrnehmung", „Erfassen der Textstrategie" und „formspezifisches Fachwissen". Im ersten Teil widmet sich die Autorin der theoretischen Verortung des Modells in Kognitionspsychologie, Literaturtheorie, Sprach- und Literaturdidaktik. Im zweiten Teil erfolgt die empirische Überprüfung des Modells an Daten von Schüler*innen der zehnten Jahrgangsstufe aus dem DFG-Projekt „Literarästhetische Urteilskompetenz" (Frederking/Meier/Stanat/Roick). Das methodische Vorgehen versteht sich dabei als exemplarisch für eine empirisch fundierte fachdidaktische Forschung. Diese Arbeit wurde mit dem Habilitationspreis der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ausgezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Literarästhetische Sprachreflexion als vernachlässigte Kompetenz an der Grenze von Sprach- und Literaturdidaktik
  • 1.1 Problemaufriss
  • 1.2 Zum Kompetenzbegriff der Arbeit
  • 1.3 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
  • 2 Theoretische Bezüge eines Kompetenzmodells literarästhetischer Sprachreflexion
  • 2.1 Sprachdidaktische Perspektiven auf geeignete Kompetenzbegriffe und Kompetenzmodelle aus dem Bereich Sprache und Sprachgebrauch untersuchen
  • 2.1.1 Sprachbewusstheit, Language Awareness, Sprachaufmerksamkeit
  • 2.1.1.1 Sprachbewusstheit
  • 2.1.1.2  Language Awareness
  • 2.1.1.3 Sprachaufmerksamkeit
  • 2.1.1.4 Entwicklungs- und Kompetenzmodelle von Sprachwissen und Sprachbewusstheit
  • 2.1.1.5 Diskussion der Termini im Hinblick auf ihre Eignung als Kompetenzbegriff
  • 2.1.2 Sprachthematisierung und Sprachbetrachtung
  • 2.1.2.1 Sprachthematisierung
  • 2.1.2.2 Sprachbetrachtung
  • 2.1.2.3 Diskussion der Termini im Hinblick auf ihre Eignung als Kompetenzbegriff
  • 2.1.3 Sprachreflexion
  • 2.1.3.1 Herkunft und Implikationen des Begriffs Sprachreflexion
  • 2.1.3.2 Ingendahls Konzeption „ästhetischer Sprachreflexion“
  • 2.1.3.3 „Sprachreflexionskompetenz“ nach Klotz
  • 2.1.3.4 Diskussion der Termini im Hinblick auf ihre Eignung als Kompetenzbegriff
  • 2.1.4 Resümee zu Potenzialen sprachdidaktischer Ansätze für die Modellierung einer Kompetenz literarästhetischer Sprachreflexion
  • 2.2 Mögliche Beiträge kognitionspsychologischer Textverstehens- und Lesekompetenzmodelle zur theoretischen Modellierung einer Kompetenz literarästhetischer Sprachreflexion
  • 2.2.1 Zum Potenzial kognitionspsychologischer Textverstehensmodelle für die Modellierung einer literarästhetischen Sprachreflexionskompetenz
  • 2.2.1.1 Die Modellierung des kognitiven Leseprozesses in der Traditionslinie von van Dijk und Kintsch
  • 2.2.1.2 Literarästhetische Sprachreflexion als Kennzeichen eines spezifisch literarischen Lesemodus
  • 2.2.2 Diskussion der Potenziale und Grenzen von kognitionspsychologisch fundierten Kompetenzmodellen für literarästhetische Sprachreflexion
  • 2.2.2.1 PISA
  • 2.2.2.2 DESI
  • 2.2.2.3 Das Niveaustufenmodell der Bildungsstandards
  • 2.2.2.4 Das didaktische Lesekompetenzmodell nach Rosebrock/Nix
  • 2.2.3 Resümee zu möglichen Beiträgen kognitionspsychologischer Textverstehenstheorien zu einem Kompetenzmodell literarästhetischer Sprachreflexion
  • 2.3 Literaturtheoretische und -didaktische Standortsuche für die Fundierung eines Kompetenzmodells literarästhetischer Sprachreflexion
  • 2.3.1 Diskussion der Potenziale literaturtheoretischer Richtungen für die Modellierung einer literarästhetischen Sprachreflexionskompetenz
  • 2.3.1.1 Konzentration auf das „sprachliche Kunstwerk“ in Literaturtheorie und Literaturdidaktik
  • 2.3.1.2 Systematische Analyse von Sprache und Form in Literaturtheorie und Literaturdidaktik: Russischer Formalismus, Prager Strukturalismus, ‚Foregrounding‘
  • 2.3.1.3 Zur Wirkung literarischer Sprache auf den Leser: Rezeptionsästhetik und ihre literaturdidaktische Rezeption
  • 2.3.1.4 Die umstrittene Stellung des „Textfaktors“ in literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Konzeptionen des Konstruktivismus und Konventionalismus
  • 2.3.1.5 Detailgenaue Lektüre: Poststrukturalistische Ansätze und ihre Folgen für literarästhetische Sprachreflexion
  • 2.3.1.6 Text, Leser und kulturelle Konvention: Umberto Ecos semiotische Literaturtheorie und ihre deutschdidaktische Rezeption
  • 2.3.1.7 Resümee zu Potenzialen literaturtheoretischer Positionen für die Herleitung eines Modells literarästhetischer Sprachreflexionskompetenz
  • 2.3.2 Diskussion des Stellenwerts sprachreflexiver Aspekte in verschiedenen didaktischen Kompetenzmodellen literarischen Textverstehens
  • 2.3.2.1 Literaturspezifische Ergänzungen von Leseprozessmodellen
  • 2.3.2.2 Sprachreflexive Aspekte in jüngeren Modellen literarischer Rezeptionskompetenz
  • 2.3.2.3 Das empirisch fundierte Kompetenzmodell des DFG-Projekts Literarästhetische Urteilskompetenz
  • 2.3.2.4 Resümee zum Stellenwert sprachreflexiver Aspekte in literaturdidaktischen Kompetenzmodellen
  • 2.4 Literarästhetische Sprachreflexion in Studien der empirischen Literaturwissenschaft
  • 2.4.1 Studien der empirischen Literaturwissenschaft zum Einfluss von „Textfaktor“ und/oder Konvention
  • 2.4.2 Literarästhetische Sprachreflexion in Prozessmodellen der Literaturempirie
  • 2.4.3 Detailstudien zum Einfluss bestimmter Textmerkmale auf die Textrezeption
  • 2.4.3.1 Wahrnehmungsschwerpunkte
  • 2.4.3.2 Detailstudien zum Klang
  • 2.4.3.3 Detailstudien zur Syntax
  • 2.4.3.4 Detailstudien zu semantischen Abweichungen
  • 2.4.3.5 Befunde zu Superstrukturen und Erzählperspektiven
  • 2.4.4 Experten und Novizen beim Lesen von Literatur
  • 2.4.4.1 Entdecken von stilistischen Auffälligkeiten
  • 2.4.4.2 Unterschiede bezüglich der Bedeutungskonstitution im Hinblick auf Lesehäufigkeit, Wortschatz und literaturspezifische Expertise169
  • 2.4.4.3 Umgang mit fachspezifischem Wissen
  • 2.4.4.4 Emotionale Involviertheit und ‚Artefakt-Emotionen‘ bei Novizen und Experten
  • 2.4.5 Schlussfolgerungen aus Ergebnissen der empirischen Literaturwissenschaft für ein Kompetenzmodell literarästhetischer Sprachreflexion
  • 3 Ein dreidimensionales Kompetenzmodell literarästhetischer Sprachreflexion
  • 3.1 Zur theoretischen Verortung des Modells
  • 3.1.1 Verortung aus sprachdidaktischer Perspektive
  • 3.1.2 Literarästhetische Sprachreflexion aus der Perspektive kognitionspsychologischer Textverstehenstheorien
  • 3.1.3 Literaturtheoretische und -didaktische Perspektive auf literarästhetische Sprachreflexion
  • 3.2 Beschreibung der drei Teilfacetten literarästhetischer Sprachreflexionskompetenz182
  • 3.2.1 Literarästhetische Sprachwahrnehmung
  • 3.2.2 Erfassen der Textstrategie
  • 3.2.3 Formspezifisches Fachwissen
  • 3.3 Zusammenhang des Kompetenzmodells literarästhetischer Sprachreflexion mit dem Projekt Literarästhetische Urteilskompetenz
  • 4 Empirische Überprüfung des dreidimensionalen Kompetenzmodells literarästhetischer Sprachreflexion
  • 4.1 Überblick über das methodische Vorgehen bei der empirischen Überprüfung des Kompetenzmodells
  • 4.2 Testaufgaben für die empirische Überprüfung des Kompetenzmodells und Datengrundlage
  • 4.2.1 Grundlegendes zur Konstruktion der Testaufgaben
  • 4.2.2 Testaufgaben zum Konstrukt Literarästhetische Sprachwahrnehmung – ausführlicher Bericht
  • 4.2.3 Testaufgaben zum Erfassen der Textstrategie im Überblick
  • 4.2.4 Testaufgaben zum formspezifischen Fachwissen im Überblick
  • 4.2.5 Datengrundlage – Angaben zur Stichprobe, Anlage und Durchführung der Studie sowie zur Skalierung der Daten
  • 4.3 Strukturvalidierung: Empirische Überprüfung der Kompetenzstruktur
  • 4.3.1 Fragestellungen für die empirische Überprüfung der Modellstruktur
  • 4.3.2 Statistische Grundlagen der Auswertung
  • 4.3.3 Ergebnisse
  • 4.3.3.1 Lösungshäufigkeiten, Kompetenzanforderungen und Reliabilitäten
  • 4.3.3.2 Modellvergleiche
  • 4.3.3.3 Zusammenhang des dreidimensionalen Modells literarästhetischer Sprachreflexion mit dem Kompetenzmodell des Projekts Literarästhetische Urteilskompetenz
  • 4.3.4 Diskussion
  • 4.3.4.1 Diskussion der Modellanalysen im Hinblick auf ihre didaktischen Implikationen
  • 4.3.4.2 Mögliche Einschränkungen
  • 4.3.4.3 Notwendigkeit vielfältiger Anschlussstudien
  • 4.4 Konstruktvalidierung: Erweiterte Analyse des dreidimensionalen Modells
  • 4.4.1 Fragestellungen für die erweiterte Analyse des dreidimensionalen Modells
  • 4.4.1.1 Hypothesen zu Zusammenhängen der Teilfacetten literarästhetischer Sprachreflexion mit personenbezogenen Variablen (Geschlecht, Schulform, Sprachhintergrund)
  • 4.4.1.2 Hypothesen zu Zusammenhängen der Teilfacetten mit motivationalen Aspekten
  • 4.4.1.3 Hypothesen zum Zusammenhang der Teilfacetten mit allgemeinsprachlichen Fähigkeiten (allgemeine Sprachbewusstheit, Wortschatz)
  • 4.4.2 Operationalisierung der Vergleichskonstrukte
  • 4.4.2.1 Erhebung personenbezogener Variablen
  • 4.4.2.2 Erhebung motivationaler Aspekte (Kognitions- und Emotionsbedürfnis, Lesehäufigkeit, Interesse)
  • 4.4.2.3 Erhebung von Leistungen zu Wortschatz, prozeduraler Sprachbewusstheit und Sachtextverstehen
  • 4.4.3 Methodische Grundlagen der Auswertung
  • 4.4.4 Ergebnisse
  • 4.4.4.1 Deskriptive Statistik
  • 4.4.4.2 Zusammenhänge mit den Variablen Geschlecht, Schulform und Sprachhintergrund
  • 4.4.4.3 Zusammenhänge mit motivationalen Aspekten
  • 4.4.4.4 Zusammenhänge mit allgemeinsprachlichen Kompetenzen
  • 4.4.4.5 Ein integriertes Erklärungsmodell der dreidimensionalen Kompetenz literarästhetischer Sprachreflexion
  • 4.4.4.6 Übersicht über die geprüften Hypothesen
  • 4.4.5 Diskussion
  • 4.4.5.1 Geschlechteraspekte
  • 4.4.5.2 Schulformeffekte
  • 4.4.5.3 Bedeutung des Sprachhintergrunds
  • 4.4.5.4 Zusammenhänge mit dem Kognitions- und Emotionsbedürfnis
  • 4.4.5.5 Inhalts- versus Forminteresse
  • 4.4.5.6 Literarische Lesehäufigkeit versus Sachtextlektüre
  • 4.4.5.7 Zusammenhänge mit allgemeinsprachlichen Fähigkeiten im Bereich Wortschatz und Sprachbewusstheit
  • 4.4.5.8 Diskussion des integrierten Modells
  • 4.4.5.9 Diskussion möglicher Einschränkungen und Ansatzpunkte für weitere Forschungsbemühungen
  • 5 Zusammenschau und Ausblick
  • 5.1 Resümee zum Kompetenzmodell Literarästhetische Sprachreflexion
  • 5.1.1 Theoretische Modellierungsentscheidungen und ihre Konsequenzen
  • 5.1.2 Empirische Befunde
  • 5.1.3 Ansatzpunkte für einen sprachreflexiven Literaturunterricht
  • 5.2 Implikationen der Arbeit über literarästhetische Sprachreflexion hinaus
  • 5.2.1 Impulse für eine umfassende Modellierung des Kompetenzbereichs Sprachreflexion
  • 5.2.2 Exemplarischer Charakter für das methodische Vorgehen in transdisziplinärer fachdidaktischer Forschung
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

←14 | 15→

1 Literarästhetische Sprachreflexion als vernachlässigte Kompetenz an der Grenze von Sprach- und Literaturdidaktik

Abstract: This chapter introduces the topic of the study, clarifies the concept of ‘competence’ applied and explains the objectives and structure of the research paper.

Although the educational standards for secondary schools place high demands on the reflection of linguistic means in literary texts, pupils show low competences in this area. Appeals for a closer collaboration of language and literary didactics have remained without consequences for decades, and models of reading literacy pay just as little attention to this area of competence as models of linguistic literacy.

For this reason, this postdoctoral thesis develops a competence model of literary-aesthetic language reflection and tests it empirically using data from the DFG-Project Literary Literacy (Frederking/Meier/Stanat/Roick). Competences are understood as learnable, subject-specific cognitive dispositions (cf. Klieme/Leutner 2006, p. 789; Weinert 2001, p. 45) in this study. They belong to the functional area of education and complement personal educational goals which cannot be grasped as competences (cf. Frederking/Bayrhuber 2017, p. 247).

Keywords: competence model, language reflection, literary literacy, didactics

1.1 Problemaufriss1

Die sprachliche Form von Texten wird von vielen Schülerinnen und Schülern auch im Hinblick auf Literatur meist als „transparent“ behandelt (vgl. Andresen/Funke 2003, S. 439), das heißt, Texte werden primär inhaltlich erfasst, wobei ihre sprachliche Gestalt weder im Hinblick auf die Steuerung von Lesenden noch bezüglich ihrer ästhetischen Qualitäten reflektiert wird (vgl. Harker 1994, S. 206, 212 f.). Die Bemerkung einer 16-jährigen Schülerin aus einer zehnten Klasse Gymnasium im Rahmen einer Laut-Denk-Studie kann hierfür exemplarisch stehen: „<<lachend> ←15 | 16→Ja, ich weiß gerade gar nicht, was die eigentlich mit ‚sprachlich am auffälligsten‘ meinen>, weil es ist doch einfach Deutsch“.2

Dabei formulieren Bildungsstandards für den Umgang mit Sprachlichkeit bei literarischen Texten weitreichende Zielsetzungen. Die Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss fordern bereits, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler „grundlegende Gestaltungsmittel erkennen und ihre Wirkungen einschätzen“ können: „z. B. Wortwahl, Wiederholung, sprachliche Bilder“ (KMK 2005a, S. 14). Die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss erwarten entsprechend anspruchsvoller, dass Schülerinnen und Schüler in zehnten Klassen „sprachliche Gestaltungsmittel in ihren Wirkungszusammenhängen“ und sogar „in ihrer historischen Bedingtheit erkennen: z. B. Wort-, Satz- und Gedankenfiguren, Bildsprache (Metaphern)“ (KMK 2004, S. 14). Zusätzliche Bedeutung gewinnen sprachliche Aspekte des Umgangs mit Literatur in den Bildungsstandards durch die herausgehobene Position des Lernbereichs „Sprache untersuchen“, der sowohl als eigener Lernbereich angelegt ist als auch als umfassendes Prinzip, das sich auf alle anderen Lernbereiche bezieht (KMK 2004, S. 8). „Sprache zur Verständigung gebrauchen, fachliche Kenntnisse erwerben, über Verwendung von Sprache nachdenken und sie als System verstehen“ bezieht sich nicht nur auf traditionell sprachdidaktische Felder wie den Grammatikunterricht oder die Untersuchung von Sprachvarietäten, sondern unter anderem auch auf den Umgang mit literarischen Texten: Schülerinnen und Schüler „untersuchen und formulieren Texte nach funktionalen, normativen und ggf. ästhetischen Gesichtspunkten“ (KMK 2004, S. 9) und sollen in der Lage sein, grundlegende Textfunktionen zu erfassen, darunter auch die „ästhetische Funktion (z. B. Gedicht)“ (KMK 2004, S. 16). Unter dem Unterpunkt „Textbeschaffenheit analysieren und reflektieren“ wird zudem die Kenntnis und Anwendung „ausgewählte[r]‌ rhetorischer Mittel“ festgeschrieben (KMK 2004, S. 16). Die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife setzen schließlich auf „grundlegendem Niveau“ an, dass Schülerinnen und Schüler bei der Erschließung literarischer Texte „das Ästhetische als eine spezifische Weise der Wahrnehmung, der Gestaltung und der Erkenntnis“ verstehen sollen. Abiturientinnen und Abiturienten sollen „Inhalt, Aufbau und sprachliche Gestaltung literarischer Texte analysieren, Sinnzusammenhänge zwischen einzelnen Einheiten dieser Texte herstellen und sie als Geflechte innerer Bezüge und Abhängigkeiten erfassen“ sowie „literarische Texte aller Gattungen als Produkte künstlerischer Gestaltung erschließen“ können; „die besondere ästhetische Qualität eines literarischen Produktes“ sollen sie „aufgrund eines breit angelegten literarischen Vorwissens erfassen und ihre Befunde in das Textverständnis einbeziehen“ können (KMK 2012, S. 20).

Gleichwohl erfüllen einer empirischen Untersuchung von Steinmetz zufolge auch Abiturientinnen und Abiturienten derart hochgesteckte Ziele kaum. Die ←16 | 17→meisten beschränken sich auf das reine Benennen oft irrelevanter stilistischer Mittel; wo Funktionen von Sprache thematisiert werden, geschieht dies häufig auf höchst allgemeinem Niveau mit Floskeln wie „ausdrucksstark“ oder „verdeutlichen“ und nur selten spezifisch mit einem Erkenntnisgewinn für das Textverständnis (vgl. Steinmetz 2012, S. 124). In seiner Monografie konstatiert er eine „auffällige[…] Diskrepanz zwischen Verbindlichkeitsanspruch und Erreichbarkeitswirklichkeit sowohl der BSMSA als auch der EPA“. Dies gelte insbesondere für den Bereich „Erkennen und ggf. Beurteilen des Zusammenhangs von Struktur, Intention und Wirkung“ (Steinmetz 2013, S. 302). Dabei gelinge u. a. die „Deskription von Form und Inhalt“ besser als die „Explikation von Funktions- und Wirkungszusammenhängen von Form und Inhalt“ und die „Kontextualisierung der Gestaltungsmittel“ weniger als die des Inhalts (Steinmetz 2013, S. 278).3

Dieses Phänomen ist nicht neu. Schon 1995 gab Nutz zu bedenken, dass die „Beschreibung und Deutung ‚sprachlich-stilistischer Mittel‘“ zu den Aufgabenfeldern gehöre, „in denen Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Zielsetzungen und Ergebnissen“ besonders eindrücklich hervorträten (Nutz 1995, S. 70). Neben den von Steinmetz konstatierten Problemen führt Nutz zudem „gravierende Defizite im Bereich des grammatischen Wissens“ an (Nutz 1995, S. 71). Dies sei aber nicht den Schülerinnen und Schülern anzulasten, sondern dem Aufgabentypus inhärenten Problemen geschuldet. An „der Nahtstelle zwischen Literatur- und Sprachbetrachtung“ gelinge es einerseits bei der Sprachbetrachtung zu wenig, „sprachliche Phänomene in ihren strukturellen Zusammenhängen und bedeutungskonstituierenden Funktionen genügend bewußtzumachen“, andererseits werde „im Literaturunterricht die interpretatorische Relevanz von Sprachbeschreibung zuwenig einsichtig“ (Nutz 1995, S. 71). Nutz stellt „grundlegende Probleme der Verbindung von Literaturbetrachtung und Sprachuntersuchung“ fest, „die mit der unzureichenden fachwissenschaftlichen Begründung und didaktischen Reflexion der Vermittlung von Sprachbewußtsein zusammenhängen“ (Nutz 1995, S. 72). Dass dieses Desiderat bis heute nicht gelöst ist, zeigt auch ein Blick auf die „Bamberger Empfehlungen“ des Germanistenverbandes für das Lehramtsstudium, die u. a. eine stärkere „Vernetzung“ der germanistischen Teildisziplinen im Hinblick auf „Textanalyse- und Interpretationskompetenz“ fordern (Abraham et al. 2012, S. 9; ähnlich Lischeid 2014, S. 283). „Grammatisches Wissen“ solle über die gegenwärtig gängige „Vernetzung“ mit dem Erwerb der Orthographie und Prozessen der Überarbeitung von Texten in der Schreibdidaktik hinaus „ebenso mit dem Literaturunterricht“ verknüpft werden,4 „wenn Sprachlichkeit und Ästhetik ←17 | 18→der Literatur denn ein konkret fassbarer Gegenstand literarischer Bildung sein sollen“ (Abraham et al. 2012, S. 21).

Diese Formulierung des Positionspapiers lässt erahnen, dass die Frage, welche Rolle die Sprachlichkeit von Literatur im Deutschunterricht spielen soll, in der Didaktik nicht unumstritten ist. Das dezidierte Plädoyer für sprachliche Ästhetik als genuiner Teil literarischer Bildung grenzt sich gegen einen Literaturunterricht ab, der Sprache, wie viele Schülerinnen und Schüler, als „transparent“ behandelt und in erster Linie die inhaltliche Erschließung im Rahmen einer allgemeinen Lesedidaktik, im Zusammenhang mit Kontextwissen oder auch subjektiven Zugängen ins Zentrum des Textumgangs stellt. Bereits Ende der 90er Jahre war der Ruf nach einer Didaktik, die literarische Texte „wieder mehr beim Wort“ und „in ihrer Sprachlichkeit ernst“ nimmt, verschiedentlich laut geworden (vgl. Klotz 1997, S. 228). Ähnlich wie die literaturdidaktische Richtung des „textnahen Lesens“ (vgl. Paefgen 1998) plädierten auch Sprachdidaktiker wie Klotz für einen Blick auf die sprachliche Machart von Texten „jenseits der Handlungsorientierung“ (Klotz 1997) oder – wie Ingendahl – für „ästhetische Sprachreflexion“ im Rahmen einer umfassenden Konzeption der „Sprachreflexion“ jenseits des traditionellen Grammatikunterrichts (Ingendahl 1999).

Dass die Einlösung dieser Forderung auch zwei Jahrzehnte später noch immer ein Desiderat darstellt und der Blick auf die Sprache literarischer Texte im Unterrichtskontext sogar eher noch ab- als zugenommen hat, dürfte eine indirekte Folge des PISA-Schocks sein, denn die 2000 entdeckten Defizite deutscher Schülerinnen und Schüler im Textverstehen führten zu einer enormen Aufwertung der allgemeinen Lesedidaktik. An kognitionspsychologischen Modellen des Textverstehens orientierte Kompetenzmodelle bildeten die Grundlage für Förderkonzepte, die vor allem bei Leseflüssigkeit, Lesestrategien und Lesemotivation ansetzen (vgl. Rosebrock/Nix 2008 oder Müller/Richter 2014). Sprachliche Aspekte literarischer Texte spielen in solchen Kompetenz- und Fördermodellen allenfalls eine untergeordnete Rolle und geraten über der Konstruktion lokaler und globaler Kohärenzen leicht aus dem Blick (vgl. 2.2.2). Lese- und Literaturdidaktik treten in der Unterrichtsrealität heute gewissermaßen in Konkurrenz. Mit „literarischer Bildung“ und „Leseförderung“ stehen sich Wieser zufolge zwei „Dachkonzepte“ gegenüber (Wieser 2008, S. 229 f.), die zunehmend scharf abgegrenzt werden. Vor allem bei jüngeren Schülerinnen und Schülern im Grundschulbereich siegt in der Regel der auch von den Lehrkräften als relevanter betrachtete Leseunterricht. Ästhetische Aspekte literarischer Texte werden sowohl in den Bildungsstandards der Grundschule (vgl. KMK 2005b) als auch in der Unterrichtsrealität trotz durchaus beachtlicher Fähigkeiten von Grundschulkindern auf diesem Feld (vgl. Stiller 2017) kaum thematisiert (vgl. ←18 | 19→Kleinbub 2010, S. 278; Waldt 2010, S. 67) und im Zuge aktueller Lehrplanreformen sogar aus länderspezifischen Bildungsplänen getilgt (vgl. LehrplanPLUS Grundschule Bayern).5 Die jüngsten IGLU-Ergebnisse zeigen, dass sich dieser Verzicht auf sprachbezogene Verstehensleistungen im internationalen Vergleich rächt. Angesichts der ungünstigen Entwicklung der Leseleistungen deutscher Viertklässlerinnen und Viertklässler in der Erhebung von 2016 wurde die Realität des Leseunterrichts stärker in den Blick genommen. Die Daten zeigen unter anderem, dass Deutschland v. a. im Hinblick auf „Aufgaben, die sich auf Stil und Struktur von Texten beziehen, sowie bei Aufgaben, in denen nach Perspektive oder Absicht des Textes beziehungsweise des Autors gefragt wird“, deutlich unter dem internationalen Mittelwert liegt (vgl. Bos et al. 2017, S. 25). Dass deutsche Grundschülerinnen und Grundschüler besondere Probleme mit anspruchsvollen Leseleistungen haben, zu denen u. a. „Sprachgebrauch prüfen und bewerten“ zählt, passt in dieses Bild (vgl. Bos et al. 2017, S. 17). In der Mittelschule sind diese Bereiche in den Bildungsstandards zwar enthalten, spielen im Unterrichtsalltag aber kaum eine Rolle (vgl. Pieper et al. 2004; Gölitzer 2008).6 Für den gymnasialen Unterricht wird oft ein Bruch zwischen der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II beklagt. Während in der Unter- und Mittelstufe primär kontextfrei, inhaltsbezogen, subjektiv und mit einem Schwerpunkt auf Leseanimation via Kinder- und Jugendliteratur gearbeitet werde, setze etwa ab der zehnten Jahrgangsstufe für viele Schülerinnen und Schüler gleichsam unvermittelt und überfordernd ein auf Fachwissen bezogener, primär analytischer Unterricht ein (vgl. Fingerhut 2010, S. 268 f.; ähnlich Kämper-van den Boogaart/Pieper 2008, S. 62).

Dass es sich bei der Zurückdrängung von literarästhetischen Aspekten aus dem Muttersprachenunterricht nicht nur um ein deutsches Phänomen handelt, zeigt Pierre Judet de la Combes viel beachteter Vortrag „Warum sich mit Sprache beschäftigen?“. Der französische Altphilologe konstatiert überrascht, „dass die seit kurzem auf der Schule gepflegte Wertschätzung für die Muttersprache einhergeht mit einer ernsthaften Verringerung der Rolle von Literatur im Unterricht.“ Nicht mehr „eigenständige Formen des Sprachgebrauchs“, „historische Vielfältigkeit“ und „Ausdrucksfülle“ stünden im Fokus, sondern „die Fähigkeit zur Übermittlung einer klaren und unterscheidbaren Information über sich und die Welt“ (de la Combe ←19 | 20→2007, S. 23 f.). Sprache werde im Schulunterricht primär als „Funktionssprache und als Servicesprache“ gelehrt (de la Combe 2007, S. 34). Dem setzt de la Combe ein Bildungsziel gegenüber, das sich von einer ausschließlich am beruflichen Erfolg und an der Anpassung an die Gegenwart orientierten Bildung abgrenzt. Eine souveräne Beherrschung der Muttersprache, die sich ganz wesentlich an literarischen Texten und ihrer „innovativen Performanz“ (de la Combe 2007, S. 36) herausbilde, ist für ihn eine Bedingung für Emanzipation, Handlungs- und Gestaltungsfreiheit (vgl. de la Combe 2007, S. 8 f.). Die Trennung von Linguistik und Philologie sollte im Interesse dieses Bildungsziels aufgegeben werden (de la Combe 2007, S. 25 f.). Trotz dieses immer wieder auch von Didaktikerinnen und Didaktikern wie Klotz vorgetragenen Plädoyers bleiben die Disziplinen gerade im Hinblick auf literarische Texte weiterhin separiert.

Dabei stellt sich die Marginalisierung sprachlicher Aspekte von Literatur im Bereich der Sprachdidaktik noch dramatischer dar als in der Literaturdidaktik, denn in Kompetenzmodellen der Sprachbewusstheit, von denen es bislang ohnehin nur sehr wenige gibt (vgl. Budde et al. 2011, S. 139 f.), scheint das Nachdenken über Sprache im Zusammenhang mit literarischen Texten überhaupt keinen Ort zu haben (vgl. 2.1.1 und 2.1.2). Kompetenzforschung in diesem Bereich beschränkt sich bislang primär auf die Kernbereiche Schriftspracherwerb und Grammatik. Zudem konzentriert sich die Sprachbewusstheitsforschung noch immer stark auf jüngere Lernerinnen und Lerner, sodass Andresen/Funke zufolge „eine weitere Erforschung der Entwicklung metasprachlicher Fähigkeiten im Jugend- und Erwachsenenalter […] als wichtiges Desiderat“ erscheint (Andresen/Funke 2003, S. 448). Metasprachliche Fähigkeiten bei der Auseinandersetzung mit literarischen Texten stellen in diesem Kontext ein spannendes Untersuchungsfeld dar. Dies ist zudem wichtig, weil „[m]‌etasprachliche Leistungen als kognitive Prozesse […] in gesonderten, über den Spracherwerb im engeren Sinn hinausgehenden Lernprozessen eigens ausgebildet werden“ müssen (Andresen/Funke 2003, S. 448). Da für den Bereich der metasprachlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten bislang kaum einschlägige Studien vorliegen, fällt auch eine fundierte Modellierung entsprechender Lernprozesse schwer, wie schon Nutz monierte (vgl. Nutz 1995). Andresen/Funke zufolge sei zudem generell unklar, auf welchen Kompetenzen metasprachliche Leistungen basieren:

Sprachbewusstheit und sprachliches Wissen […] müssen als wesentliche Komponenten metasprachlicher Leistungen betrachtet werden. Metasprachliche Leistungen als Ganze erschöpfen sich jedoch nicht darin, und sie beruhen möglicherweise auch gar nicht auf einer oder zwei homogenen Fähigkeitsdimensionen (Andresen/Funke 2003, S. 448).

Gornik gibt zudem zu bedenken, dass für die Kompetenzmodellierung in diesem Feld eine zentrale Frage bislang völlig ungeklärt sei: „Ist das Reflektieren über Sprache neben dem Sprechen und Zuhören, dem Schreiben, dem Lesen eine Kompetenz eigener Art? Oder ist die Sprachreflexion mit diesen Kompetenzen so verbunden, dass sie von ihnen nicht ablösbar ist?“ (Gornik 2010, S. 232). Die Einschätzungen von ←20 | 21→Andresen/Funke sowie Gornik zeigen, dass von Seiten der Sprachbewusstheitsforschung zu dem in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Bereich der literarästhetischen Sprachreflexion mehr Fragen als Antworten zu erwarten sind, dass andererseits aber eine fundierte Untersuchung sprachreflexiver Fähigkeiten im Zusammenhang mit literarischen Texten für die Sprachbewusstheitsforschung wichtige Impulse geben könnte (vgl. hierzu ausführlicher Meier 2020a, S. 235–237 und 5.2.1).

Diese Impulse müssen der aktuellen Forschungslage entsprechend allerdings von der Literaturdidaktik kommen, in deren Kompetenzvorstellungen das aufmerksame Wahrnehmen von Sprache in literarischen Texten (vgl. Spinner 2006, S. 9) im Vergleich zur Lese- und Sprachbewusstheitsforschung noch den bedeutendsten Stellenwert einnimmt (vgl. 2.3). Gerade im Bereich des Literaturunterrichts fehlten allerdings lange Zeit empirisch abgesicherte und fehlen noch immer von einer breiteren didaktischen Öffentlichkeit akzeptierte Kompetenzmodelle. Zu groß ist die Sorge, dass bedeutsame Bereiche des literarischen Verstehens wie die Identitätsentwicklung Jugendlicher, Imaginationsfähigkeit, ästhetische Erfahrungen oder die emotionale Beteiligung beim Lesen, welche wohl kaum als abprüfbare Kompetenzen zu fassen wären, durch solch ein Kompetenzmodell in den Hintergrund gedrängt würden. Abraham fasste die Skepsis vieler Fachdidaktiker gegenüber empirischer Kompetenzmodellierung im Fach Deutsch 2007 folgendermaßen zusammen:

Die meisten Deutschdidaktiker/-innen teilen […] die Überzeugung, dass es der Komplexität sprachlich-literarischen Lernens nicht gerecht wird, testbare Einzelkomponenten, weil (vielleicht) (nur) sie wirklich testbar sind, unabhängig voneinander zu beschreiben (Abraham 2007, S. 12; vgl. ähnlich Graf 2014).

Noch drastischer äußerte Wintersteiner sein Unbehagen an der Kompetenzorientierung, indem er „den Versuch, die gesamte Literaturdidaktik in die Sprache des Kompetenzparadigmas zu übersetzen, als ein generell fragwürdiges Unterfangen“ anprangerte. Die Disziplin riskiere, „vor lauter Einzelkompetenzen das eigentlich Literarische der literarischen Bildung aus dem Blick zu verlieren.“ (Wintersteiner 2011, S. 10). Diese Debatte wurde auch im Folgeheft der Zeitschrift Didaktik Deutsch mit harten Bandagen geführt, wo z. B. Kammler einer „psychometriefixierten Literaturdidaktik“ eine Absage erteilte (vgl. Kammler 2011, S. 8). Damit begibt man sich allerdings auch der Möglichkeit, kognitive Teilkompetenzen des literarischen Textverstehens, die über derartige Modelle und Methoden erfassbar wären und in der allgemeinen Lesedidaktik (zu) wenig Berücksichtigung finden, intensiver zu erforschen. Bislang weiß man nämlich recht wenig darüber, welche auch empirisch nachweisbaren Teilkompetenzen am Verstehen literarischer Texte beteiligt sind und in welchem Verhältnis sie zueinander und zu verschiedenen Personenmerkmalen stehen. Schneider betont zu Recht, dass „die Ernsthaftigkeit, mit der Kompetenzen in verschiedenen Domänen […] zu modellieren versucht werden“, nicht zuletzt „zur Professionalisierung der Deutschdidaktik“ beitrage und dass „kompetenzorientierter Unterricht nicht ←21 | 22→zu höherer Qualität“ führe, „wenn die Kompetenzmodelle nicht tragfähig sind“ (Schneider 2014, S. 127).

Gegenwärtig liegt in der Deutschdidaktik nur ein Versuch vor, die kognitiven Aspekte literarischen Verstehens als Facetten literarischer Textverstehenskompetenz zu modellieren. Im Rahmen des DFG-Projekts Literarästhetische Urteilskompetenz (LUK), das von 2007–2013 als Teil des Schwerpunktprogramms „Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen“ in Kooperation von empirischer Bildungsforschung (Petra Stanat, Thorsten Roick, Humboldt-Universität zu Berlin; Oliver Dickhäuser, Universität Mannheim) und Deutschdidaktik (Volker Frederking, Christel Meier, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) durchgeführt wurde, wurden sprachliche Aspekte literarischen Verstehens erstmals im Rahmen eines Kompetenzmodells als eigene Kompetenzfacetten modelliert (vgl. Frederking et al. 2012; Roick et al. 2013; Meier et al. 2017; 2.3.2.3). Die vorliegende Arbeit wird auf der Grundlage von Daten dieses Forschungsprojekts den Bereich des Nachdenkens über sprachliche Aspekte literarischer Texte grundlegend in den Blick nehmen.

Vor dem Hintergrund der kontroversen Beurteilung des Kompetenzbegriffs sowie empirischer Studien in der Deutschdidaktik wird zunächst der in dieser Arbeit verwendete Kompetenzbegriff konkretisiert, bevor auf Zielsetzung und Aufbau der Arbeit näher eingegangen wird.

1.2 Zum Kompetenzbegriff der Arbeit

Die zunehmende Standardisierung (vgl. Spinner 2005) und die Sorge, dass im Kontext der Kompetenzorientierung nur noch zähle, was messbar sei (vgl. Kliewer 2011, Graf 2014), ruft nicht nur Forschende der Deutschdidaktik, sondern auch der Bildungswissenschaften auf den Plan wie z. B. Liessmann, der eine „Praxis der Unbildung“ anprangert (Liessmann 2014). Angesichts des heute recht inflationär benutzten Kompetenzbegriffs (vgl. Grabowski 2014, S. 10 f.) ist es umso wichtiger, den dieser Arbeit zugrunde liegenden Begriff von Kompetenz zu explizieren und die Stoßrichtung der Untersuchung eingangs zu skizzieren, denn unter Kompetenzen wird gerade im Hinblick auf sprachliche oder literarische Kompetenzen zum Teil völlig Unterschiedliches verstanden. Noam Chomsky z. B. versteht unter Sprachkompetenz in Abgrenzung zur „Performanz“ das unbewusst vorhandene Wissen über Sprache („the speaker-hearer’s knowledge of his language“) (Chomsky 1965, S. 4).7 Auch Umberto Ecos Verwendung des „Kompetenz“-Begriffs als „der vom Leser geteilten Kenntnis der Welt“8 entspricht weder dem heute in ←22 | 23→der Bildungsforschung verbreiteten Kompetenz- noch Wissensbegriff. Wird Wissen in Pädagogik, Psychologie und Didaktik im Zusammenhang mit Kompetenzen thematisiert, so handelt es sich meist um die kognitionspsychologischen Wissensarten, die weit über den Bereich des Faktenwissens hinausgehen (vgl. Mandl et al. 1986). Dabei ist es wichtig, zwischen einem „umgangssprachlichen“ Begriff von „Wissen“ im Sinne von „reproduzierbare[m]‌ Faktenwissen“ und dem psychologischen Wissensbegriff der kognitionspsychologischen Kompetenzforschung zu unterscheiden. Baumert et al. weisen darauf hin, dass „Kenntnisse, Fertigkeiten und Strategien […] in der kognitiven Psychologie und Wissenserwerbsforschung als unterschiedliche Formen des Wissens aufgefasst“ werden und daher „mitteil- und vermittelbar“ sind (vgl. Baumert et al. 2001, S. 22). Bedeutsam ist im Rahmen der Bildungsforschung der aktuelle Trend kognitionspsychologischer Kompetenzdefinitionen, Wissen und Performanz nicht mehr so stark voneinander zu trennen, sondern Kompetenzen als Bindeglieder zwischen Wissen und Können zu konzipieren: „Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können […] her und ist als Befähigung zur Bewältigung von Situationen bzw. von Aufgaben zu sehen.“ (Klieme et al. 2007, S. 73).9 Bredel/Pieper zufolge ist „die Frage, wie das Wissen über Sprache bzw. Literatur und der handelnde Umgang mit Sprache bzw. Literatur aufeinander bezogen sind, eines der größten Desiderate sowohl der Sprach- als auch der Literaturdidaktik“ (Bredel/Pieper 2015, S. 261), wobei sie sich auf den Unterschied von „knowing that“ im Sinne deklarativen Wissens und „knowing how“ im Sinne von Können beschränken (vgl. Bredel/Pieper 2015, S. 262 f.).

Unter Kompetenzen werden in der vorliegenden Arbeit – wie von Grabowski treffend zusammengefasst – „theoretische Konstrukte“ verstanden, „die nicht direkt beobachtbar sind“ und nur durch „Indikatoren“ (z. B. die Bearbeitung bestimmter Aufgaben) erschlossen werden können (Grabowski 2014, S. 19). Im Gegensatz z. B. zur Intelligenz geht man bei Kompetenzen von bereichsspezifischer Kontextualisierung und prinzipieller Lernbarkeit aus (vgl. Hartig/Klieme 2006, S. 129 f.). Kompetenzen können sich also über die Zeit entwickeln und sind durch Fördermaßnahmen beeinflussbar (vgl. Grabowski 2014, S. 19–21).

Der in der Bildungsforschung heute am stärksten verbreitete Kompetenzbegriff orientiert sich an Weinert (Weinert 2001, S. 45). Kompetenzen gelten „als kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf bestimmte Klassen von Situationen und Anforderungen beziehen. Diese spezifischen ←23 | 24→Leistungsdispositionen lassen sich auch als Kenntnisse, Fertigkeiten oder Routinen charakterisieren“ (Hartig/Klieme 2006, S. 128).

Dieser Definition folgt auch der dem Schwerpunktprogramm „Kompetenzmodelle“ zugrunde liegende Kompetenzbegriff Kliemes, der Kompetenzen als „kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen“, fasst (vgl. Klieme/Leutner 2006, S. 879). Klieme und Hartig stehen dabei für die empirische Richtung der Kompetenzmodell-Forschung, deren stark psychometrische Ausrichtung bisweilen kritisiert wird (vgl. Grabowski 2014, S. 10). Vor allem die Beschränkung auf die kognitiven Aspekte von Kompetenzen (vgl. Hartig/Klieme 2006, S. 129) ist häufig kritisch hinterfragt worden. Um diese Einseitigkeit zu vermeiden, bezieht man sich in der Deutschdidaktik heute meist auf eine andere Definition Weinerts, die auch motivationale und volitionale Aspekte einschließt und u. a. der sogenannten „Klieme-Expertise“ zugrunde liegt (vgl. Klieme et al. 2007, S. 72): Weinert zufolge sind Kompetenzen

die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (Weinert 2014, S. 27f., im englischen Original: Weinert 2001).10

Vor allem didaktische Lesekompetenzmodelle wie die von Hurrelmann (vgl. Hurrelmann 2002) oder Rosebrock (vgl. Rosebrock/Nix 2008) sehen Motivation als genuinen Bestandteil. In empirischen Kompetenzmodellen wie z. B. PISA kommt den motivationalen Aspekten eher die Rolle eines Moderators oder Prädiktors zu (vgl. Müller/Richter 2014, S. 44 und dazu positiv Schneider 2014, S. 124), da motivationale Aspekte nicht als Leistung operationalisierbar sind. Auch Seifert rät davon ab, „a priori davon auszugehen, dass hohe kognitive Fähigkeiten mit hoher Motivation gleichzusetzen sind“, weil diese Annahme weder durch Theorien aus der Psychologie noch Pädagogik zu stützen sei, sondern Motivation und Fähigkeit getrennt zu erfassen, „um ihre wechselseitigen Beziehungen ermitteln zu können“ (Seifert 2015, S. 136).

Wichtig ist vor allem, dass der „funktional bestimmte“ Kompetenzbegriff (vgl. Hartig/Klieme 2006, S. 129) nicht mit „Bildung“ verwechselt wird. Frederking und Bayrhuber weisen zu Recht darauf hin, dass die funktionale Bildung, zu der der Kompetenzdiskurs gehöre, nicht die personalen Aspekte von Bildung verdrängen dürfe, sondern beide Aspekte zur Bildung gehörten (vgl. Frederking/Bayrhuber 2017, S. 247). Bezogen auf den hier interessierenden Bereich der sprachlichen Bildung muss z. B. das personale Bildungsziel einer an der Auseinandersetzung mit literarischen Texten gewonnenen souveränen Beherrschung der Sprache als Bedingung für Emanzipation, Handlungs- und Gestaltungsfreiheit (vgl. de la ←24 | 25→Combe 2007, S. 8 f.) der funktionalen Bildung des souveränen Umgangs mit gestalteter Sprache in Situationen literarischen Textverstehens übergeordnet bleiben. Zudem darf durch den Fokus auf den funktionalen Kompetenzbereich literarästhetischer Sprachreflexion der personale Bildungsaspekt, der z. B. dem ästhetischen Sprachgenuss zukommt, nicht ausgeblendet werden. Wenn beispielsweise Graf fragt, wo „die affektive Dimension der Kompetenz“ im Hinblick auf Empathieförderung (Graf 2014, S. 2) und „Persönlichkeits-Entwicklung“ (Graf 2014, S. 5) bleibe, spricht er vielen aus der Seele. Die Frage ist jedoch, ob der Kompetenzbegriff mit diesen wichtigen, aber letztlich nicht überprüfbaren und wohl auch nur bedingt lehr- und lernbaren Bildungszielen nicht überfrachtet ist. Meines Erachtens kann die Antwort auf das Zurückdrängen affektiver Aspekte des Literaturunterrichts nicht darin bestehen, den Kompetenzbegriff mit affektiven Bildungszielen aufzuweichen. Vielmehr ist es angezeigt, den Kompetenzbegriff auf den Platz zu verweisen, der ihm zusteht: den des Funktional-Lernbaren. Frederkings und Bayrhubers Fokus auf den Bildungsbegriff rückt hier auch eine Fehlentwicklung wieder zurecht. Weder Bildungsstandards noch Lehrpläne dürfen über der Welle der Kompetenzorientierung wichtige Zielsetzungen der Persönlichkeitsbildung aus den Augen verlieren. Kompetenzen haben in ihrer funktionalen Ausrichtung dienende Funktion und sind nicht mit Bildung gleichzusetzen. Wenn die vorliegende Arbeit den in der Literaturdidaktik oft negativ besetzten bildungswissenschaftlich-funktionalen Kompetenzbegriff verwendet, geschieht dies in diesem Sinne. Ähnlich lösen auch Boelmann und Klossek das Problem, wenn sie „literarische Kompetenz“ als die „quantifizierbaren empirisch messbaren und operationalisierbaren Aspekte literarischen Verstehens“ in ein größeres Gefüge aus „literarische[m]‌ Verstehen“, „literarische[m] Lernen“, „literarische[r] Bildung“ und „literarische[r] Performanz“ einbetten und in ihr Bochumer Modell literarischen Verstehens integrieren (vgl. Boelmann/Klossek 2013, S. 45).11

Müller und Richter spezifizieren im Zusammenhang mit Lesekompetenz drei verschiedene Perspektiven der Kompetenzforschung: die empirische, „differenziell-psychologische“ Perspektive, deren Gegenstand v. a. die Testung sei (z. B. PISA), eine auf die kognitiven Prozesse bezogene „kognitionspsychologische Perspektive“ und eine „pädagogisch-psychologische“ Förderperspektive. Müller und Richter empfehlen, die „differenziell-psychologische“ Perspektive um die „kognitionspsychologische“ zu ergänzen. Die „pädagogisch-psychologische“ Perspektive fokussiert schließlich auf die „Lern- und Trainierbarkeit“ der Kompetenz, auf deren Entwicklung sowie „schulische und außerschulische Determinanten“ (Müller/Richter 2014, S. 30; Hervorh. im Orig.). Ein weit verbreitetes allgemeines Modell für die pädagogisch-psychologische Perspektive auf Kompetenzen ist das „Angebots-Nutzungs-Modell“ nach Helmke. Kompetenzen stehen hier als „Ertrag“ in einem ←25 | 26→komplexen Zusammenspiel verschiedenster Faktoren. Neben lernerseitigen Faktoren wie dem familiären Hintergrund, Sprachhintergrund, Vorwissen, Motivation, Anstrengungsbereitschaft etc. spielen Kontexte wie die Schulform und Klassenzugehörigkeit ebenso eine Rolle wie Lehrperson und Unterrichtsangebot (vgl. Helmke 2009, S. 73).

Diese Kontexte muss auch Kompetenzforschung im Blick haben, will sie z. B. Aussagen über günstige Voraussetzungen für den Kompetenzerwerb machen. In der Leseforschung stehen dafür vor allem Bettina Hurrelmanns Forschungen (vgl. z. B. Hurrelmann 2006b) und in ihrer Nachfolge Cornelia Rosebrocks Mehrebenenmodell (Rosebrock/Nix 2008).

Grabowski unterscheidet im Hinblick auf Kompetenzmodelle zudem „didaktisch motivierte“ Modelle mit „Annahmen über die Progression von Fähigkeiten vom Einfachen zum Komplexen“, „theoretische Modellierungen“, die „von Analysen und Beschreibungen des jeweiligen Phänomenbereichs“ ausgehen, sowie „empirische Kompetenzmodelle“ zur Überprüfung solcher Kompetenzannahmen oder auch unmittelbar empirisch motivierte wie bei PISA (Grabowski 2014, S. 23 f.).

Details

Seiten
502
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783631859247
ISBN (ePUB)
9783631859254
ISBN (Hardcover)
9783631852699
DOI
10.3726/b19114
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 502 S., 37 s/w Abb., 19 Tab.

Biographische Angaben

Christel Meier (Autor:in)

Christel Meier ist Akademische Oberrätin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin wurde dort im Fach Deutschdidaktik habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind empirische Grundlagen- und Unterrichtsforschung sowie Literatur- und Lesedidaktik.

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Titel: Kompetenzfacetten literarästhetischer Sprachreflexion