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Erosion der sozialen Ordnung

Zeitdiagnostik in neuesten dystopischen Entwürfen

von Torsten Erdbrügger (Band-Herausgeber:in) Joanna Jabłkowska (Band-Herausgeber:in) Inga Probst (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 300 Seiten

Zusammenfassung

Dystopien haben Konjunktur. Sie stellen der Gegenwart eine Diagnose, hypertrophieren sie und üben Kritik an den Zeitverhältnissen. Dystopien fokussieren u.a. den Rückbau demokratischer Systeme und globaler Sozialgefüge, das Aufkeimen von Rassismus, Antisemitismus und religiösem Fanatismus, den Verlust bürgerlicher Rechte, die Ausweitung von Überwachungspraktiken oder die Rückkehr zu einer segregierten Klassengesellschaft. Die Beiträge des Bandes reflektieren aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive diese Erosion der sozialen Ordnung im Spiegel dystopischer Literatur und fragen, welche politischen, sozialen und kulturellen Problemlagen der Gegenwart im literarischen Zukunftsentwurf kritisiert werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Erosionen sozialer Ordnungen. Dystopische Schreibweisen der Gegenwart zwischen Angstlust und Krisenbewusstsein (Inga Probst)
  • Die Gewalt hält sich in Grenzen. Die schöne neue Welt der Bundesrepublik in Juli Zehs Leere Herzen (Joanna Jabłkowska)
  • „A long low concrete monster“. Grenzerfahrungen in John Lanchesters The Wall (Dunja M. Mohr)
  • Sozialkritik im Futur II. Sibylle Bergs dystopische Hate Speech GRM. Brainfuck (Torsten Erdbrügger)
  • Worst Case Gender-Scenario. Margaret Atwoods Dystopien The Testaments / The Handmaid’s Tale und Michel Houellebecqs Dystopie ex negativo Soumission (Monika Albrecht)
  • Die Geburt des Abendlandes aus dem Geist des Verfalls. Zivilisationskritik bei Michel Houellebecq und Karsten Dahlmanns (Aneta Jachimowicz)
  • „Daten lügen nicht“. Überwachung und Selbstoptimierung in Julia von Lucadous Dystopie Die Hochhausspringerin (David Österle)
  • Anatomie postsozialer Depressivität oder: Erinnerungen an eine Zukunft, die ausbleibt. Eugen Ruges Roman Follower (Alexander Mionskowski)
  • Rückkunft des Willens und der Tat vom Mars. Reinhard Jirgls Roman Nichts von euch auf Erden (Heinz-Peter Preußer)
  • Katastrophischer Ästhetizismus. Topographien der Krise in Heinz Helles Eigentlich müssten wir tanzen (Stephanie Bremerich)
  • Sizilien ohne blühende Zitronenbäume und Jugend ohne Zukunft. Niccolò Ammanitis dystopische Coming-of-Age-Story im Roman Anna (Elżbieta Tomasi-Kapral)
  • „Das Dystopische ist aktuell eine Weltwahrnehmung“. Gespräch mit Julia von Lucadou und Heinz Helle
  • Autor_innenverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Inga Probst

Erosionen sozialer Ordnungen

Dystopische Schreibweisen der Gegenwart zwischen Angstlust und Krisenbewusstsein

Abstract: Was haben die gegenwärtigen klimatischen, gesellschaftlichen und demokratischen globalen Krisen mit der großen Anzahl literarischer Neuerscheinungen sowie Filmen und Serien zu tun, die sich dystopischer Erzählweisen bedienen? Sind es Neuansätze eines Schreibens, das sich am möglicherweise Kommenden orientiert oder reihen sie sich bloß in die lange Reihe tradierter und kanonisierter Dystopien ein? Der Beitrag skizziert Tendenzen dystopischer Narrationen aus den letzten acht Jahren, bettet sie in aktuelle gesellschaftsanalytische Ansätze ein und gibt einen thematischen sowie theoretischen Überblick über die in diesem Band versammelten Beiträge.

Keywords: Dystopie, Gegenwartsliteratur, Krise, Angst-Lust, Klimawandel, soziale Ungleichheit

Übertrifft die krisenbewegte Gegenwart des Jahres 2021 die fiktionalen Entwürfe und Imaginationen einer (un)wahrscheinlichen dystopischen Zukunft, die wir aus aktuellen Filmen und Texten kennen?1 Während die Einleitung zu diesem Band geschrieben wird, der aus einem selbst unter krisenhaften Bedingungen realisierten Workshop resultiert,2 spielen sich in der Welt apokalyptische ←7 | 8→Szenen ab. Zu diesen gehören eine Flutkatastrophe in Westdeutschland, Hitzewellen in Südeuropa und großflächige Waldbrände in Kanada, der Türkei und Griechenland, eine trotz Impfkampagne nicht abflauende Coronavirus-Pandemie sowie kriegerische Konflikte und soziale Ausschreitungen in Afghanistan, im Libanon und Südafrika, um nur einige der Hotspots zu nennen, die die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group 2020 als Conflicts to Watch für das Jahr 2021 prognostizierte.3

Zu diesen globalen Unsicherheitsfaktoren sind die Erosionserscheinungen westlicher Demokratien hinzuzuzählen sowie eine daraus resultierende Rückkehr zu autoritärem Denken, chauvinistischen geopolitischen Abgrenzungsphantasien und ein Wiederaufleben von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Homophobie. Zur weiteren Korrumpierung demokratischer Grundwerte zählt nicht nur die gezielte Bekämpfung zivilgesellschaftlicher Bewegungen wie in Hongkong oder Belarus, sondern auch die Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft oder gleich direkt vor der eigenen regionalen Haustür, wo rechtsextreme Netzwerke wie ‚Querdenker‘ und ‚Reichsbürger‘ weitestgehend unbemerkt die demokratische Grundordnung von innen aushöhlen.

Ist das eine reduktionistische Zuspitzung aktueller Ereignisse? Schließlich hat es politische Krisen, Kriege und Naturkatastrophen doch schon immer gegeben. Oder stellt dieses keinesfalls vollständige Tableau krisenhafter Tendenzen bloß die holzschnittartige – möglicherweise tendenziöse – Skizze eines überspitzt herbeigeschriebenen apokalyptischen Szenarios dar, das als Aufhänger für eine Aufsatzsammlung aus einer Disziplin herhalten muss, die gemeinhin als realitätsfern wahrgenommenen wird?

Weltuntergang? Dies fragen auch Claus Leggewie und Harald Welzer und geben ihrem gemeinsamen Buch den Titel eines REM-Songs, der in den nicht weniger krisenhaften 1980er-Jahren geschrieben wurde:4 Das Ende der Welt, ←8 | 9→wie wir sie kannten5It’s the end of the world as we know it.6 Der Politikwissenschaftler Leggewie und der Soziologe Welzer bedienen sich hier nicht nur aus dem üppigen Fundus popkultureller Dystopie-Referenzen. Sie nehmen den Befund, dass die große Erzählung des kapitalistisch geprägten Fortschrittsgedankens ihre Überzeugungskraft verloren hat, zum Ausgangspunkt einer Analyse, die insbesondere die Wirkungen des Klimawandels auf Mensch, Gesellschaft und die Zukunft der Demokratie untersucht. Dies ist keinesfalls ein fiktionales Krisenszenario, sondern eine empirisch flankierte Gesellschaftsanalyse. Das Motto hat dennoch einen spekulativen Gehalt. Allein durch das Präteritum richtet es sich perspektivisch auf das Vergangene:

Das war die Welt, wie wir sie kannten: Märkte expandierten über ihre periodischen Krisen hinweg in eine gefühlte Unendlichkeit, Staaten sicherten die soziale Ordnung und den Weltfrieden, der flexible Mensch verwandelte Naturgefahren per Technik und Organisation in beherrschbare Risiken. […] Globale Mobilität und Kommunikation machten die Welt klein und zugänglich, auch die Demokratie vollendete 1989 ihren Siegeszug.7

Aus der unbekannten Zukunft auf die bekannte Gegenwart zurückgeschaut, wird eine Retrospektive auf den vergangenen Zustand gerichtet, den man eben noch als (eigene) Gegenwart begriff. Die uns bekannte Welt, so soll verdeutlicht werden, ist vorbei, doch was stattdessen (wann?) neu begonnen hat, wird nicht ausgeführt.

Eine nicht weit vor uns liegende Zukunft steht auch im Fokus der in diesem Band analysierten Texte. Auch ihr Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass die Welt, wie wir sie (noch) kennen, in einer Phase ist, in der sie sich wandelt. Sie verbindet die Fragen: Wohin wird dieser Wandel führen? Wenn die Welt, wie wir sie kannten, zu Ende geht, wie wird sie demnächst aussehen? Die hier versammelten Beispiele entwerfen skeptische bzw. pessimistische Zukunftsentwürfe und zitieren jeweils verschiedene dystopische Traditionen. Dabei sind sie meist keine eindeutigen Beispiele für literarische Dystopien, negative-, Anti- oder ←9 | 10→Gegen-Utopien8 sowie Katastrophen- und Apokalypse-Erzählungen, sondern entziehen sich strikten Genre-Klassifizierungen. Eher zeugen sie davon, dass sich seit einiger Zeit dystopische Erzählweisen oder dystopische Anspielungen in Gegenwartstexten häufen9 und sie sich dabei mal mehr, mal weniger in die bereits kanonisierten dystopischen Traditionen einschreiben. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, zu fragen, inwieweit vor dem Hintergrund der neuen globalen Entwicklungen diese Traditionen ausgeweitet, umgeschrieben, (neu) akzentuiert werden. Dem zugrunde liegende Leitfragen lauten deshalb: Welches Bild der Gegenwartsgesellschaft spiegelt sich in den thematisierten dystopischen Entwürfen? Von welchen narrativen Strukturen und Verfahren sind die Zukunftsentwürfe geprägt?

Details

Seiten
300
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631867686
ISBN (ePUB)
9783631867693
ISBN (Hardcover)
9783631849651
DOI
10.3726/b19079
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (März)
Schlagworte
Dystopie Postapokalypse Gegenwartsliteratur Zukunftsszenarien Gegenwartsdiagnose politische Literatur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 300 S.

Biographische Angaben

Torsten Erdbrügger (Band-Herausgeber:in) Joanna Jabłkowska (Band-Herausgeber:in) Inga Probst (Band-Herausgeber:in)

Torsten Erdbrügger ist Literaturwissenschaftler und DAAD-Lektor an der Universität Łódź Joanna Jabłkowska ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Professorin am Institut für Germanistik der Universität Łódź. Inga Probst ist Literaturwissenschaftlerin und DAAD-Lektorin an der Universität Warschau.

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