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Tätigkeit und Sprache

Zur Didaktik inklusiver Sprachförderung in der Berufsvorbereitung

by Ariane Steuber (Author)
©2022 Thesis 302 Pages
Series: Beiträge zur Sonderpädagogik, Volume 32

Summary

Um Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen niedrigschwelligen Zugang zum Sprachlernen im Rahmen berufsvorbereitender Bildungsangebote und -maßnahmen zu ermöglichen, geht die Autorin der zentralen Fragestellung nach, wie sich Sprachkompetenzen ausgehend von praktischer Tätigkeit erweitern lassen. Hierfür werden die komplexen kommunikativen Bedingungen in einem authentischen Arbeitszusammenhang aus linguistischer Perspektive betrachtet, um deren didaktisches Potenzial für eine ressourcenorientierte Sprachförderung in
(vor-) beruflichen Kontexten aufzuzeigen.
Abschließend werden die Umsetzungsmöglichkeiten eines integrativen Ansatzes auf der Grundlage von Bedingungsanalysen in fünf schulischen und außerschulischen Untersuchungsfeldern des Übergangssektors kritisch diskutiert.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 2 Problemaufriss
  • 2.1 „Er konnte sich sprachlich uns nicht mitteilen.“
  • 2.2 Entwicklung der übergeordneten Forschungsfragestellung
  • 3 Forschungsfeld: Der Übergangssektor
  • 3.1 Soziale Benachteiligung am Übergang Schule-Beruf
  • 3.2 Sprachkompetenzen im Konzept der Ausbildungsreife
  • 3.3 Zwischenfazit
  • Bedingungsanalysen
  • 4 Jugendliche und junge Erwachsene mit Benachteiligungen am Übergang Schule-Beruf
  • 4.1 Schulische Vorbildung
  • 4.2 Geschlecht/Gender
  • 4.3 Migrationshintergrund
  • 4.4 Fluchthintergrund
  • 4.5 Lernschwierigkeiten/Lernbehinderung
  • 4.6 Teilleistungsstörungen (Lese- und Rechtschreib-Störung)
  • 4.7 Behinderung
  • 4.8 Verhalten
  • 4.9 Soziale Herkunft/Milieu
  • 4.10 Zwischenfazit
  • 5 Zielsetzung und methodische Anlage der Untersuchung
  • 5.1 Begründung für die Wahl eines qualitativen Forschungsansatzes
  • 5.2 Ausgestaltung der Forschungsstrategie
  • 5.2.1 Forschungsfragen
  • 5.2.2 Theoretische Vorannahmen
  • 5.2.3 Sampling
  • 5.2.4 Methoden
  • 5.2.4.1 Semi-strukturierte Interviews
  • 5.2.4.2 Nicht-teilnehmende und teilnehmende Beobachtung
  • 5.3 Untersuchungsfelder im schulischen und außerschulischen Bereich des Übergangssektors
  • 5.3.1 Schulischer Bereich
  • 5.3.1.1 BVJ (Regelform)
  • 5.3.1.2 BVJ-A (Sprachförderklasse)
  • 5.3.2 Außerschulischer Bereich
  • 5.3.2.1 Produktionsschule
  • 5.3.2.2 Mobilitätsprojekte
  • 5.4 Feldzugänge und Rolle der Forschenden den Untersuchungsfeldern
  • 5.5 Beschreibung des Datenmaterials
  • 5.6 Kodierverfahren
  • 6 Rahmenbedingungen für die Sprachförderung in den betrachteten Untersuchungsfeldern
  • 6.1 Fallbezogene Auswertung
  • 6.1.1 BVJ-A
  • 6.1.1.1 Institutionelle Rahmenbedingungen
  • 6.1.1.2 Didaktisches Setting
  • 6.1.1.3 Gruppenspezifische Lernvoraussetzungen
  • 6.1.1.4 Zwischenfazit
  • 6.1.2 Produktionsschule
  • 6.1.2.1 Institutionelle Rahmenbedingungen
  • 6.1.2.2 Didaktisches Setting
  • 6.1.2.3 Gruppenspezifische und individuelle Lernvoraussetzungen
  • Individuelle Lernausgangslage: Roberto
  • 6.1.2.4 Zwischenfazit
  • 6.1.3 BVJ-Regelform
  • 6.1.3.1 Institutionelle Rahmenbedingungen
  • 6.1.3.2 Didaktisches Setting
  • 6.1.3.3 Gruppenspezifische Lernvoraussetzungen
  • 6.1.3.4 Zwischenfazit
  • 6.1.4 Mobilitätsprojekt 1
  • 6.1.4.1 Institutionelle Rahmenbedingungen
  • 6.1.4.2 Didaktisches Setting
  • 6.1.4.3 Gruppenspezifische und individuelle Lernvoraussetzungen
  • 6.1.4.4 Zwischenfazit
  • 6.1.5 Mobilitätsprojekt 2
  • 6.1.5.1 Institutionelle Rahmenbedingungen
  • 6.1.5.2 Didaktisches Setting
  • 6.1.5.3 Gruppenspezifische Lernvoraussetzungen
  • 6.1.5.4 Zwischenfazit
  • 6.2 Zusammenfassung der fallbezogenen Auswertung
  • 6.3 Fallübergreifende Auswertung
  • 6.3.1 Zentrales Phänomen: Diskursive Verstärkung von Grenzziehungen
  • 6.3.2 Ursachen: Schriftferne der Lernenden
  • 6.3.3 Kontextbedingungen: Konzeptionelle Vagheit und Strukturlosigkeit
  • 6.3.3.1 Unzureichend konkretisierte curriculare Strukturen
  • 6.3.3.2 Laufender Einstieg in den außerschulischen Untersuchungsfeldern
  • 6.3.3.3 Hohe Fluktuation der Lernenden aufgrund einer Kumulation von Problemlagen
  • 6.3.4 Intervenierende Bedingungen: Kompensatorische Vorstellung von Sprachförderung
  • 6.3.4.1 Orientierung an schulischen Normalitätsvorstellungen
  • 6.3.4.2 Monolingualer Habitus
  • 6.3.5 Handlungs- und interaktionale Strategien: Etablierung von Sondermaßnahmen zur Sprachförderung
  • 6.3.6 Konsequenzen: Ausschluss von Lernenden aus regulären Bildungsmaßnahmen und -angeboten
  • 6.3.6.1 Trennung von Sprach- und Fachlernen
  • 6.3.6.2 Demotivation der Lernenden
  • 6.4 Zusammenfassung der fallübergreifenden Auswertung
  • Theoretische und Didaktische Zugänge
  • 7 Berufspädagogische und arbeitspsychologische Bezüge
  • 7.1 Zum Konzept der Handlungsorientierung
  • 7.2 Paradigmen der Handlungsorientierung
  • 7.2.1 Handlungsorientierter Zugang zum Lernen
  • 7.2.1.1 Zum Begriff der Handlung
  • 7.2.1.2 Theoretische Einordnung
  • 7.2.2 Gegenstands- und tätigkeitsorientierter Zugang zum Lernen
  • 7.2.2.1 Zum Begriff der Tätigkeit
  • 7.2.2.2 Theoretische Einordnung
  • 7.3 Funktionen der Sprache beim handlungs- und tätigkeitsorientierten Lernen
  • 8 Sprachwissenschaftliche und -didaktische Bezüge
  • 8.1 Bildungssprache – Begriffsannäherungen
  • 8.2 Nähe und Distanz als Entwicklungslinie für den Spracherwerb
  • 8.3 Registervariation
  • 8.3.1 Familiales (intimes) Register
  • 8.3.2 Informell-öffentliches Register
  • 8.3.3 Formelles Register
  • 8.4 Alltagssprache als Sprache der Nähe
  • 8.4.1 Funktionen der Alltagssprache
  • 8.4.2 Linguistische Merkmale
  • 8.4.3 Kompetenzdimensionen und Wissensmerkmale
  • 8.5 Kommunikativer Sprachausbau
  • 8.6 Bildungssprache und Fachsprachen als Sprachen der Distanz
  • 8.6.1 Funktionen der Bildungssprache
  • 8.6.2 Funktionen der Fachsprachen
  • 8.6.3 Linguistische Merkmale
  • 8.6.4 Kompetenzdimensionen und Wissensmerkmale
  • 8.7 Literater Sprachausbau
  • 8.8 Didaktische Schlussfolgerungen
  • 9 Konzeptualisierung integrativer Sprachförderung im (vor-) beruflichen Kontext
  • 9.1 Grundmodell
  • 9.2 Exemplarischer Arbeits- und Lernprozess
  • 9.3 Handlungsvollzüge und kommunikative Bedingungen in den einzelnen Handlungsphasen
  • 9.3.1 Auftragsannahme
  • 9.3.2 Planung
  • 9.3.3 Produktion der Holzbank und Führen des Berichtsheftes
  • 9.3.4 Abnahme des Handlungsproduktes durch den Pädagogen
  • 9.3.5 Lieferung und Verkauf
  • 9.3.6 Dokumentation
  • 9.3.7 Bewertung
  • 9.4 Zwischenfazit
  • 9.5 Sprech- und Schreibanlässe im betrachteten Arbeitsprozess
  • 9.5.1 Gesprächssituationen
  • 9.5.1.1 Projektbesprechungen im Arbeitsteam
  • 9.5.1.2 Kooperativer Arbeitsprozess und praktische Unterweisung
  • 9.5.1.3 Gespräch zur Fehlerauswertung (Fachgespräch)
  • 9.5.1.4 Verkaufs- und Beratungsgespräch
  • 9.5.1.5 Reklamationsgespräch
  • 9.5.1.6 Verhandlung
  • 9.5.2 Schriftliche Dokumentationen
  • 9.5.2.1 Ausführlicher Produktionsbericht
  • 9.5.2.2 Führen des Berichtsheftes und des Kassenbuchs
  • 9.6 Gestaltungsansätze für eine ressourcenorientierte Sprachförderung
  • Möglichkeiten und Grenzen integrativer Sprachförderung in den betrachteten Untersuchungsfeldern
  • 10 Schlussbetrachtung
  • 10.1 Fazit
  • 10.2 Ausblick
  • Anhang
  • Anhang A
  • Anhang B
  • Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Reihenübersicht

Abkürzungsverzeichnis

Allgemeine Abkürzungen

AAMRAmerican Association of Mental Retardation
ADHSAufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
ALG IIArbeitslosengeld II
BAMFBundesamt für Migration und Flüchtlinge
BBiGBerufsbildungsgesetz
BFSBerufsfachschule
BGJBerufsgrundbildungsjahr
BIBBBundesinstitut für Berufsbildung
BMASBundesministerium für Arbeit und Soziales
BMBFBundesministerium für Bildung und Forschung
DaFDeutsch als Fremdsprache
DaZDeutsch als Zweitsprache
ESFEuropäischer Sozialfonds für Deutschland
EUEuropäische Union
GERGemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen
GTMGrounded-Theory-Methodologie
HwOGesetz zur Ordnung des Handwerks
ICD-10Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision
IdAIntegration durch Ausbildung
IGLUInternationale Grundschul-Lese-Untersuchung
ISCEDInternationale Standardklassifikation des Bildungswesens
KJHGKinder- und Jugendhilfegesetz (Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts; SGB VIII)
KMKKultusministerkonferenz
NSchGNiedersächsisches Schulgesetz
PISAOECD Programme for International Student Assessment
SGB IISozialgesetzbuch, Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende
SGB IIISozialgesetzbuch, Drittes Buch – Arbeitsförderung
SGB VIIISozialgesetzbuch, Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe
SGB IXSozialgesetzbuch, Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
TIMMSTrends in International Mathematics and Science Study←15 | 16→
UN-BRKUN-Behindertenrechtskonvention (Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen)
UNHCRUnited Nations High Commissioner for Refugees
WfbMWerkstätten für behinderte Menschen (alte Bezeichnung WfB)

Siglen für Zeitschriften, Handbücher, Reihen und Lexika

←16 | 17→

1 Einleitung

Sprachkompetenzen sind in der heutigen Wissensgesellschaft eine Grundvoraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dies gilt in besonderem Maße für den Zugang zu Bildung, Ausbildung und Berufstätigkeit. Zahlreichen Absolventinnen und Absolventen1 der allgemeinbildenden Schulen gelingt aufgrund der erhöhten Kompetenzanforderungen, die mit dem Strukturwandel in der Arbeitswelt einhergehen, die Aufnahme einer Berufsausbildung oder eines Beschäftigungsverhältnisses nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt. Viele Jugendliche und junge Erwachsene treten deshalb zunächst in den Übergangssektor ein, um Bildungsrückstände aufzuholen und die sog. Ausbildungsreife zu erwerben. Im Jahr 2017 trat ca. ein Drittel aller Neuzugänge in die berufliche Bildung, d. h. 291.294 junge Menschen, zunächst in diesen Bildungssektor ein (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018: 128). Von Übergangsproblemen an der ersten Schwelle2 sind insbesondere Jugendliche mit niedrigen Schulabschlüssen und Migrationshintergrund betroffen (ebd.: 139 f.). Darunter dürften sich zahlreiche Lernende befinden, die im Bereich der empirischen Bildungsforschung, z. B. in den PISA-Studien, als Angehörige einer ‚Risikogruppe‘ identifiziert wurden, deren Chance auf gesellschaftliche und berufliche Teilhabe insbesondere aufgrund mangelnder Lesefähigkeiten als eingeschränkt bzw. gefährdet gilt (Deutsches PISA-Konsortium 2002: 61 f.; Efing 2010: 2).

Gleichzeitig ist in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten in allen Berufsfeldern beständig gestiegen (Efing 2010: 2; Efing/Janich 2007: 2; Brünner 2000: 15). Im Zuge des arbeitsweltlichen Strukturwandels haben sich viele Berufe zu „Kommunikationsberufe[n]‌“ (Pätzold 2010: 162) gewandelt. Kommunikation macht vor allem im vergleichsweise wissensintensiven Dienstleistungssektor einen erheblichen Teil der beruflichen Tätigkeiten aus. Dieser Sektor ist zudem durch die Informatisierung von Geschäfts- und Arbeitsprozessen gekennzeichnet. Sprache fungiert ←17 | 18→als gemeinsames Symbolsystem, mit dem der Produktionsfaktor Wissen u. a. generiert, verarbeitet, gespeichert und transferiert wird (Siemon/Kimmelmann/Ziegler 2016: 8). Die vermehrte Bedeutung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen ist dabei nicht auf Dienstleistungsberufe oder die betriebliche bzw. organisationale Leitungsebene beschränkt (Efing 2010: 2; Efing/Janich 2007: 2; Brünner 2000: 15). Auch für das Ausüben von sog. einfachen Tätigkeiten werden an Arbeitnehmerinnen und -nehmer Anforderungen im Bereich der kommunikativen und schriftsprachlichen Kompetenzen gestellt, die über Basiskenntnisse weit hinausgehen. Im Bereich der Pflegehilfe müssen die Beschäftigten z. B. in der Lage sein, Pflegehilfstätigkeiten schriftlich zu dokumentieren (Badel/Niederhaus 2009: 148 ff.).

Im Rahmen einer Berufsausbildung haben sich die Anforderungen an die sprachlichen Fähigkeiten der Auszubildenden ebenfalls erhöht. Die seit dem Beginn der 2000er Jahre vorgenommenen Neuordnungen von Ausbildungsberufen gehen meist mit einer zunehmend projektförmigen Gestaltung von Lehr- und Prüfungsformaten einher. Dies führt zu erhöhten kommunikativen Anforderungen, die sich sowohl auf den fachlichen als auch auf den institutionellen Bereich erstrecken. Durch die Umstellung auf vermehrt projektförmiges Arbeiten im Rahmen neu geordneter Berufsausbildungen erhält u. a. die Teamarbeit einen erhöhten Stellenwert. Dies ist mit koordinierender und organisatorischer Kommunikation verbunden (Efing 2010: 5 ff.; Pätzold 2010: 168). Zudem ist eine Abkehr von traditionellen betrieblichen Lehrmethoden zu verzeichnen. Fachlicher Input und Aufgabestellungen werden meist in schriftlicher Form vermittelt. Die Ausbildenden intervenieren vor allem bei Fragen und Problemen oder bei der Evaluation von Zwischenergebnissen. Dabei wird Sprache auch als Reflexionsinstrument eingesetzt (Efing 2010: 9 ff.).

Angesichts einer wahrgenommenen Diskrepanz zwischen den daraus resultierenden sprachlich-kommunikativen Anforderungen einerseits und den Voraussetzungen vieler Schulabsolventinnen und -absolventen andererseits werden in der beruflichen Bildung in jüngerer Zeit vermehrt Konzepte zur Kommunikations- und Leseförderung entwickelt und implementiert. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen im Allgemeinen die als ‚Risikogruppen‘ identifizierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, für die es ein methodisches Repertoire für eine zumeist berufsbezogene Kommunikations- oder Leseförderung zu entwickeln gilt (vgl. z. B. Gschwendtner/Ziegler 2006; Biermann/Biermann-Berlin/Seckler 2009; Rexing/Keimes/Ziegler 2016).

Aus diesen Gründen erhält Sprachförderung, die bisher vor allem als frühe Maßnahme zur Herstellung von Chancengleichheit betrachtet wurde (vgl. Lindmeier 2015: 317), in der Berufsvorbereitung einen besonderen Stellenwert. ←18 | 19→In diesem Bereich sollen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen innerhalb eines meist kurz bemessenen Zeitraums auf die oben geschilderten sprachlich-kommunikativen Anforderungen im Rahmen einer Berufsausbildung und/oder in der Arbeitswelt vorbereitet werden. Dies erfordert „eine relativ kurzfristige Förderung, die sich eng an den fachlichen Erfordernissen und den individuellen bzw. lerngruppenspezifischen Ausganglagen orientiert“ (Ohm/Kuhn/Funk 2007: 131). Die besondere Situation im Übergang Schule-Beruf legt eine integrierte Förderung nahe, die (vor-) berufliches und sprachliches Lernen eng miteinander verknüpft. Integrative Konzepte sind in der Berufspädagogik bislang erst in Ansätzen etabliert (z. B. Brummel/Kimmelmann 2017) und stellen ein wichtiges Forschungsdesiderat dar (vgl. Siemon et al. 2016: 25 f.).

An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Da additive und kompensatorische Sprachfördermaßnahmen für die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit zusätzlichen Stigmatisierungen und negativen Folgen wie z. B. Motivationsverlusten einhergehen können, wird auf theoretischer Grundlage ein Konzept erarbeitet, das von der Einbettung des Sprachlernens in einen authentischen Handlungs- bzw. Tätigkeitszusammenhang ausgeht.

In der beruflichen Bildung gilt das Konzept der Handlungsorientierung (vgl. z. B. Czycholl 2001; Czycholl/Ebner 2006) als grundlegendes didaktisches Prinzip für die Gestaltung von Lehr-Lernarrangements. Die damit verbundene Idealvorstellung – das Modell der vollständigen Handlung – ist auch für die Planung und Durchführung von berufsvorbereitendem Unterricht und berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen3 orientierungsstiftend (vgl. Niedersächsisches Kultusministerium 2011: 14; Bundesagentur für Arbeit 2012: 33). In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass im Konzept der Handlungsorientierung zwei Paradigmen enthalten sind, die sich als ein handlungsorientierter sowie ein gegenstands- und tätigkeitsorientierter Zugang zum Lernen voneinander abgrenzen lassen (Eckert 2008: 202 f.; vgl. Tramm/Rebmann 1997: 8 ff.). Eine unterschiedliche Gewichtung der beiden Zugänge eröffnet zahlreiche Möglichkeiten der didaktischen Variation von Lernsituationen. Dies geht mit jeweils situationsspezifischen Kommunikationsbedingungen einher, die für eine Unterstützung des Spracherwerbs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in (sprachlich) heterogenen Lerngruppen genutzt werden können. Da in der Berufsvorbereitung das praxisbezogene Lernen einen hohen Stellenwert hat, steht das gegenstands- und tätigkeitsbezogene Paradigma im Fokus der theoretischen Betrachtungen.←19 | 20→

In den für diese Arbeit relevanten Bezugsdisziplinen (Berufliche Bildung, Zweitsprachendidaktik) wird sowohl auf zahlreiche Forschungslücken im Bereich der Sprachstandsdiagnostik insbesondere für die Altersgruppe Jugendlicher und junger Erwachsener als auch für die Erhebung des fachsprachlichen Entwicklungsstands von Lernenden hingewiesen (z. B. Schründer-Lenzen 2009; Biermann et al. 2009). Die Neukonzeption eines adressatinnen- und adressatengerechten Sprachdiagnoseinstruments ist eine komplexe Aufgabe, die ein interdisziplinäres Vorgehen erfordert und den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde (vgl. Kap. 10). Der ‚nicht-diagnostizierende‘, sondern explorative Zugang in die verschiedenen Untersuchungsfelder (vgl. Kap. 5) liegt darin und in bestimmten Voraussetzungen der in dieser Arbeit betrachteten Zielgruppen (vgl. Kap. 4) begründet.

Die Analyse von Sprachförderkonzepten im Bereich der beruflichen Bildung, z. B. „Modulare Duale Qualifizierungsmaßahme“ [MDQM], „Integrierte Sprachförderung in Berufsvorbereitung und Berufsausbildung an berufsbildenden Schulen“ [SPAS] sowie eine Interventionsstudie zur Leseförderung in Schulklassen aus dem berufsbildenden Bereich (vgl. Niederhaus 2008; Andreas/Baake/Laufer/Wiazewicz 2009; Gschwendter/Ziegler 2009; Petsch 2009), zeigt unterschiedliche didaktische Schwerpunktsetzungen. Ferner lässt sich festhalten, dass diese sehr unterschiedlichen Konzepte zentral auf die Vermittlung von Sprachkompetenzen auf einem hohen formal-abstrakten Niveau, d. h. in den Bereichen der Schriftsprache und den beruflichen Fachsprachen, abzielen. Sie weisen meist keine didaktischen Vermittlungskonzepte sowohl zu alltagssprachlichen als auch zu latent vorhandenen kommunikativen Ressourcen auf.

Eine Ausnahme bildet das Konzept der Durchgängigen Sprachbildung (Lange/Gogolin 2010), dessen Kernanliegen der kumulative Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen auf Grundlage der Alltagssprache ist. Dieses Konzept stellt ein Referenzmodell für die Gestaltung von sprachsensiblem Unterricht dar, hat allerdings bislang noch keinen flächendeckenden Eingang in die Curricula der beruflichen Bildung und der Berufsvorbereitung gefunden. Das Konzept stellt auch für diese Arbeit das Referenzmodell dar, wird aber durch die Fokussierung auf den gegenstand- und tätigkeitsbezogenen Zugang zum Sprachlernen (vgl. Kap. 7 und 9) um einen funktionalen Aspekt erweitert.

Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit besteht darin, ein integratives und tätigkeitsorientiertes Sprachförderkonzept für den Bereich der schulischen und außerschulischen Berufsvorbereitung zu erarbeiten. Integrativ meint in diesem Zusammenhang die Einbettung des Sprachlernens in authentische berufliche und/oder lebenspraktische Handlungs- bzw. Tätigkeitszusammenhänge. ←20 | 21→Hierfür wird auf der Grundlage der Ergebnisse von Bedingungsanalysen (vgl. Kap. 4, 5 und 6) ein didaktisches Konzept entwickelt. Da in der Berufsvorbereitung das praxisbezogene Lernen einen besonderen Stellenwert hat, wird in der Arbeit der übergeordneten Fragestellung nachgegangen, wie sich die Sprachkompetenzen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgehend von praktischer Tätigkeit erweitern lassen. Mit dieser Fokussierung auf einen gegenstands- und tätigkeitsbezogenen Ansatz wird ein ressourcenorientierter Ansatz für die Sprachförderung verfolgt, der auch Lernenden mit geringen Sprachkompetenzen die gleichberechtigte Teilhabe an regulären berufsvorbereitenden Bildungsangeboten und -maßnahmen ermöglichen soll. Auf diese Weise leistet das erarbeitete Konzept einen Beitrag dazu, das didaktische Potenzial von authentischen Handlungs- bzw. Tätigkeitszusammenhängen für die Sprachförderung zu nutzen und darüber hinaus exkludierende Tendenzen in Bildungseinrichtungen zu minimieren, die mit additiven und kompensatorischen Sprachangeboten einhergehen können (vgl. Kap. 2).

Mit der oben genannten Zielsetzung soll die Arbeit einen Beitrag zum Schließen einer Forschungslücke leisten, die hinsichtlich der Konzeption und Etablierung von integrativen Sprachförderkonzepten im Bereich der beruflichen Bildung und auch der Berufsvorbereitung besteht. Die Relevanz für die Gestaltung einer integrativen und tätigkeitsorientierten Sprachförderung für den Bereich der Berufsvorbereitung lässt sich zum einen mit den gestiegenen sprachlich-kommunikativen Anforderungen in der Arbeitswelt begründen. Zum anderen stellt sich die Herausforderung, Sprachförderung als Querschnittsaufgabe zu betrachten sowie entsprechende Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, insbesondere im Bereich der pädagogischen Praxis.

Um die Notwendigkeit für einen niedrigschwelligen Zugang zum Sprachlernen im Rahmen berufsvorbereitender Bildungsangebote und -maßnahmen zu verdeutlichen, wird in Kapitel zwei eine Interviewpassage aus dem Datenkorpus dieser Arbeit exemplarisch als Fallbeispiel betrachtet. Die von einer Pädagogin geschilderte Kommunikationssituation zwischen einem Jugendlichen mit Fluchthintergrund und den pädagogischen Mitarbeitenden einer außerschulischen Bildungseinrichtung veranschaulicht zudem die Fortsetzung sozialer Schließungstendenzen, die mit den als unzureichend erachteten Sprachkompetenzen von Lernenden einhergehen können.

In Kapitel drei wird die bei der Betrachtung des Fallbeispiels eingenommene Perspektive auf den gesamten Übergangssektor erweitert. Als zentrales Problem wird die strukturelle Benachteiligung bestimmter Personengruppen am Übergang Schule-Beruf aufgezeigt. Dabei liegt der Fokus auf Schließungsprozessen, die sich an der sog. ersten Schwelle aufgrund von fehlenden formalen ←21 | 22→Qualifikationen und als defizitär erachteten Sprachkompetenzen der Ausbildungsplatzbewerberinnen und -bewerber ergeben können.

Um erste Anhaltspunkte für die didaktische Gestaltung einer integrativen Sprachförderung zu gewinnen, liegt der Fokus der Arbeit zunächst auf Bedingungsanalysen in der schulischen und außerschulischen Berufsvorbereitung (vgl. Kap. 4, 5 und 6). Die Analysen beinhalten einen theoretischen und einen empirischen Teil.

Details

Pages
302
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631865361
ISBN (ePUB)
9783631865378
ISBN (Hardcover)
9783631865323
DOI
10.3726/b18894
Language
German
Publication date
2022 (March)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 302 S., 5 s/w Abb., 10 Tab.

Biographical notes

Ariane Steuber (Author)

Ariane Steuber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der sprachlichen Bildung am Übergang Schule-Beruf.

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