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Dostojewskij und der Sozialismus

von Christoph Garstka (Band-Herausgeber:in)
©2022 Dissertation 174 Seiten

Zusammenfassung

Dostojewskijs Beteiligung an einem Gesprächskreis, in dem frühsozialistische Ideen diskutiert wurden, hätte ihn fast das Leben gekostet. Nach seinen Sträflingsjahren wandelte sich der russische Autor zu einem erbitterten Gegner des westeuropäischen Sozialismus, in dem er gar den Antichristen zu erkennen glaubte. Dagegen predigte er einen christlich bestimmten russischen Sozialismus. Das Jahrbuch behandelt das Titelthema unter zwei Blickwinkeln: Einmal geht es darum, was verstand Dostojewskij selbst unter Sozialismus, und wie spiegelt sich dieses Verständnis in seinen Romanen wider. Zum anderen wird danach gefragt, wie sich bekennende Sozialisten im 20. Jahrhundert zum Werk dieses »vertrackten« russischen Schriftstellers geäußert haben.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort (Christoph Garstka)
  • Frühsozialistische Utopien und ihre Diskussion in den russischen Gesprächskreisen der 1840er Jahre: Dostojewskij und die Petraschewzen (Manfred Alexander)
  • Der jakobinische Gedanke in Dostojewkijs Leben und Werk (Birgit Harreß)
  • Dostojewskij und der Sozialismus im Tagebuch eines Schriftstellers (Rolf Bielefeldt)
  • F. M. Dostojewskijs Bild von Martin Luther und dem Protestantismus (Jordi Morillas)
  • Dostojewskij und der Sozialismus. Eine russische Debatte ohne Ende (Karla Hielscher)
  • Fürst Myschkin – Dostojewskijs unerhörter Held (Daniel Schümann)
  • Nachruf auf Rudolf Neuhäuser (Horst-Jürgen Gerigk)
  • Laudatio Karla Hielscher (Wittenberg 21.09.2019) (Andreas Guski)
  • Karla Hielscher, Bibliographie
  • Deutsche Dostojewskij-Bibliographie 2020

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Christoph Garstka

Vorwort

„Was aber nun die Dämonen angeht, so halte ich es für reaktionären Mist, … für den ich nicht auch nur eine Minute meiner Zeit verschwenden möchte. Ich habe das Buch durchgeblättert und auf die Seite geworfen. So eine Literatur brauche ich nicht, was soll sie mir geben?“1 Diese vernichtenden Worte über Dostojewskijs Roman sollen von keinem geringeren als dem Führer der internationalen Arbeiterbewegung und Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, Wladimir Iljitsch Lenin, geäußert worden sein. Auch wenn sich der bolschewistische Parteiführer an anderer Stelle nicht ganz so gnadenlos über unseren Autor äußerte, so offenbaren diese Zeilen doch mehr als deutlich die Schwierigkeiten, die die selbsternannten, einzig wahren Erben von Karl Marx mit dem russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts hatten. Ihn zu verleugnen oder als unbedeutend hinstellen war den russischen Sozialisten kaum möglich, dafür hatte Dostojewskij bereits in der Zeit vor der Oktoberrevolution in der russischen Geistesgeschichte einen allzu bedeutenden Platz eingenommen. Aber ebenso konnte man ihn nicht einfach als Vorläufer der sozialistischen Bewegung und als Kämpfer für die Befreiung des Menschen von Zarenmacht und religiös-orthodoxer Knechtschaft in die Erbe-Theorie einfügen, das ging mit Tolstoj schon einfacher. Weil Verschweigen nicht möglich war, schwankten die Reaktionen linker Denker auf das Werk Dostojewskijs zwischen Vereinnahmung und kalter Verachtung, denn seine Ideen und seine Philosophie stellten eine der größten Herausforderungen für den Sozialismus dar.

In der Einleitung zu seiner Dramatisierung von Dostojewskijs Roman Die Dämonen (Besy) hat Albert Camus die bekannten und oft zitierten Worte von Dostojewskij als dem besseren Propheten für das 20. Jahrhundert als Karl Marx formuliert, denn der Russe habe die „Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit ←7 | 8→vorausgesehen.“2 Der französische Schriftsteller reiht sich damit ein in eine lange Tradition von Dostojewskij-Exegeten, die dem russischen Schriftsteller in raunendem Duktus nur allzu gerne eine prophetische Weitsicht unterstellen, mit der er Gulag und Terror, die Kolyma und die Lubjanka bereits aus dem Gebaren der jungen russischen Intelligencija der 1860er Jahre in visionärer Weise vorhersagen konnte. Unzweifelhaft ist ohne Frage, dass die sozialistischen Machthaber und Chefideologen der kommunistischen Parteien des 20. Jahrhunderts mit dem Autor des 19. Jahrhunderts ihre Schwierigkeiten hatten. Dass Dostojewskij aber etwa bereits 1873 in der von Fürst Stawrogin inspirierten und von Pjotr Werchowenskij initiierten revolutionären Fünfergruppe und in dem Mord an einem ihrer Mitglieder (vgl. seinen Roman Die Dämonen) auf den stalinistischen Terror des Jahres 1937 verweisen wollte, muss reine Spekulation bleiben.

Allerdings hat Camus in der gleichen Vorrede zur Dramatisierung der Dämonen auf einen zentralen Wesenszug der eigentümlichen Konzeption eines „russischen Sozialismus“ bei Dostojewskij aufmerksam gemacht, wenn er in chiliastischer Verschränkung schreibt: „Mit anderen Worten, er [= Dostojewskij] wollte keine Religion, die nicht sozialistisch war im weitesten Sinne dieses Wortes. Aber er wollte auch keinen Sozialismus, der nicht religiös war im weitesten Sinne dieses Wortes. So hat er die Zukunft der wahren Religion und des wahren Sozialismus gerettet, obwohl die Welt von heute ihm in beiderlei Hinsicht Unrecht zu geben scheint.“3 Eine der zentralen Fragen der Jahrestagung 2019 der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft in der Lutherstadt Wittenberg war daher die, erst einmal grundsätzlich klären zu wollen, was Dostojewskij unter dem Begriff „Sozialismus“ überhaupt verstand und in seiner Zeit verstehen konnte um danach zu diskutieren, ob „die Welt von heute“ 60 Jahre nach Camus’ Worten dem russischen Schriftsteller gerecht werden kann.

Rüde Ausfälle gegen den seiner Meinung nach gefährlichen westlichen Import, gegen den die russische Jugend verderbenden Sozialismus finden sich in Dostojewskijs fiktionalem und in seinem publizistischen Werk genug. Erinnert sei nur an Fürst Myschkins erregte und ekstatische ←8 | 9→Verkündigung auf der Abendgesellschaft im Landhaus der Jepantschins von der Geburt des Sozialismus aus dem gewalttätigen Geist des Katholizismus („Auch der Sozialismus ist ja eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens!“ Usw., vgl. ebd. 4. Teil, Kap. VII), an deren Ende der Fürst eine kostbare chinesische Vase zerstört und dabei beinahe noch einen deutschen Dichterling verletzt hätte. Aber auch in seinen nicht durch das Prisma der Fiktionalität gebrochenen Schriften finden sich immer wieder Angriffe auf den Sozialismus, besonders im Tagebuch eines Schriftstellers (dazu siehe unten den Beitrag von Rolf Bielefeldt). In seinen Notizbüchern steht z.B. die Bemerkung „der Sozialismus ist auf der Missachtung der Menschheit gegründet (Herdentrieb)“.4

Dostojewskijs Beteiligung an einem Gesprächskreis, in dem frühsozialistische Ideen diskutiert wurden, hätte ihn fast das Leben gekostet. Gleichwohl schreibt Siegfried Lenz noch 1972 dazu:

Was mir heute noch aktuell erscheint? Nun, ganz besonders sein früher Begriff des Sozialismus, der sich allerdings später verdunkelte und von der Kommission, die ihn nach Sibirien schickte, sogar von ihm selbst – wenn auch, wie zu vermuten ist, aus Gründen des Selbstschutzes – in Zweifel gezogen wurde. Dieser Sozialismus zeigt Elemente des frühchristlichen Liebeskommunismus, den Ernst Bloch bezeichnet. Dostojewskij erkannte, dass das Christentum den Ansprüchen der Zivilisation und den Forderungen des Jahrhunderts angepasst werden musste. In seiner Korrektur des Christentums sollte zugleich eine Verbesserung liegen, wie er im Tagebuch eines Schriftstellers schreibt. Der Sozialismus sollte diese Korrektur möglich machen. Sozialismus, der die Herbeiführung von Gerechtigkeit als dauernden Auftrag versteht, und Christentum, das auf einer rigorosen Forderung nach Brüderlichkeit besteht: die in der Illegalität wirkenden Priester Südamerikas konkretisieren heute in besondere Weise diese von Dostojewskij erwogene Kombination.5

Auch Lenz erkennt also wie sein französischer Kollege die enge Verquickung von Religion und Sozialismus bei Dostojewskij. Dieser wandelte sich nach seinen Sträflingsjahren zu einem erbitterten Gegner des westeuropäischen Sozialismus, in dem er gar den Antichristen zu erkennen glaubte, und predigte einen christlich bestimmten russischen Sozialismus. ←9 | 10→Auf unserer Tagung ging es uns darum, sich dem Thema „Dostojewskij und der Sozialismus“ unter zwei Blickwinkeln anzunähern. Zuerst stand die Frage im Zentrum, was verstand Dostojewskij selbst unter „Sozialismus“ und wie spiegelt sich dieses Verständnis in seinem Oeuvre wider. Zum anderen sollte darauf geblickt werden, wie sich „bekennende Sozialisten“ im 20. Jahrhundert zum Werk dieses „vertrackten“ russischen Schriftstellers geäußert haben.

Den Auftakt bildet sinnvollerweise der Beitrag des Osteuropahistorikers Manfred Alexander über Dostojewskij und die Petraschewzen. Mitte der 1840er Jahre war Dostojewskij in diesem Petersburger Intellektuellenzirkel wohl erstmals mit den Ideen frühsozialistischer Denker intensiver bekannt geworden. Alexander beleuchtet eingehend, wer war dieser Michail Wassiljewitsch Butaschewitsch-Petraschewskij, wer gehörte noch zu seinem Zirkel und welche frühsozialistischen Ideen wurden in diesem Kreis diskutiert, und er kommt zu der nicht allseits forschungskonformen Einsicht, dass dieser Kreis eigentlich kaum staatsgefährdend und für die Autokratie herausfordernd gewesen sei. Es seien keine revolutionären und bedrohlichen Ideen diskutiert und Ansichten propagiert worden. Die strenge strafrechtliche Verfolgung der Mitglieder sei eher als Warnung und Exempel des Zaren zu interpretieren, um von der repressiven Außenpolitik bei der Zerschlagung der Revolution in Ungarn abzulenken.

Birgit Harreß liefert im Anschluss einen sehr differenzierten und detailreichen Überblick über verschiedene intensive Berührungspunkte, die Dostojewskij im Laufe seines Lebens mit sozialistischen Ideen, oder genauer, mit dem „jakobinischen Gedanken“ hatte, und welche Schlussfolgerungen er daraus gezogen hat. Die intensivste Auseinandersetzung erfolgt in seinem Roman Die Dämonen, dem Harreß abschließend ihre Aufmerksamkeit zuwendet.

Im Tagebuch eines Schriftstellers, das kann man wohl so provokativ sagen, stehen Katholizismus und Sozialismus in einem „Teufelsbund“ zusammen gegen die russische Orthodoxie. Rolf Bielefeldt hat die diesbezüglich wesentlichen Stellen aus diesem publizistischen Werk zusammengestellt und kommentiert. Und gerade in diesem Aspekt des „teuflischen“, des antichristlichen Gebarens, das der Reformer Martin Luther im römischen Papst erkannt haben will, zeigt sich eine Übereinstimmung mit dem Denken Dostojewskijs, der, wie erwähnt, diesen zutiefst dem wahren ←10 | 11→Wesen Christi widersprechenden Willen zur Macht ja im Sozialismus fortgesetzt sieht. Ein Jahrbuch mit Beiträgen einer Tagung, die nur wenige Meter von jener legendären Kirchentür in Wittenberg stattfand, an der der Reformator 1517 seine Thesen angeschlagen hatte, kann sehr gut eine Studie wie die von Jordi Morillas aufnehmen, die Dostojewskijs Bild von Martin Luther und dem Protestantismus nachzeichnet.

Details

Seiten
174
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631875810
ISBN (ePUB)
9783631875827
ISBN (Paperback)
9783631875803
DOI
10.3726/b19578
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Schlagworte
Russland Literatur und Geschichte 19. Jahrhundert Sozialismus Frühsozialismus Zivilisationskritik Russland und Europa
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 174 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Christoph Garstka (Band-Herausgeber:in)

Christoph Garstka ist als Professor für Russische Kultur am Seminar für Slavistik/Lotman-Institut für Russische Kultur an der Ruhr-Universität Bochum tätig.

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Titel: Dostojewskij und der Sozialismus
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