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Utopie Europa

Studien zu literarischen Konstruktionen, Perspektiven und Herausforderungen

by Monica Biasiolo (Volume editor) Chloé Lamaire (Volume editor)
©2022 Edited Collection 264 Pages

Summary

In Zeiten zunehmender Bedrohungen für das aktuell gelebte Europa stellt dieser Band mit Beiträgen internationaler Forscher(Innen) aus multidisziplinärer Perspektive literarische Konzepte für eine europäische Idee vor. Kontinuitätslinien und Brüche zwischen stark divergierenden Ansätzen, die sich zu einem Selbstverständnis Europas ergänzen, werden darin anhand literarischer und publizistischer Werke untersucht, da diese auch gewagte Experimente durchzuführen und im Einsatz zu zeigen vermögen. Dabei werden auch aktuellste Themen berührt, die demonstrieren, dass Europa sich selbst ständig neu erfindet, um sich an neue Bedingungen anzupassen, was den europäischen Raum zu einem deutlich größeren Gebilde als die Summe seiner Teile macht.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort (Rotraud von Kulessa)
  • Inhaltsverzeichnis
  • EINLEITUNG (Monica Biasiolo/Chloé Lamaire)
  • INTRODUCTION (Monica Biasiolo/Chloé Lamaire)
  • I. Wurzeln und Wirken der Europa-Idee in Frankreich, Deutschland und Italien
  • L’idée d’Europe dans l’Esprit des lois de Montesquieu : entre puissance et différenciation dynamique (Tommaso Meozzi)
  • Les traces de l’Europe dans les périodiques du premier XVIIIe siècle. L’exemple du Nouveau Mercure galant (David D. Reitsam)
  • Rédaction et allégorie – Projet(s) de revue européenne (Jonas Hock)
  • II. Europa in, zwischen und nach den Kriegen
  • « L’Europe, muette de stupeur à la vue de son ouvrage » – L’idée de la guerre et de la paix dans des écrits autobiographiques des soldats de la Première Guerre mondiale (Ann Kristin Bischof/Véronique Montémont)
  • L’Europe dans la réflexion des intellectuels de l’entre-deux-guerres (Gide, Curtius, Malraux) (Joseph Jurt)
  • Pierre Drieu la Rochelle als „europäischer konservativer Revolutionär“: Interpretation eines Mythos bei der Neuen Rechten (Chloé Lamaire)
  • «Dal sommo della paura nasce una Speranza». Carlo Levi e il destino della nuova Europa (Diego Varini)
  • III. Kontroverse Diskussionen und düstere Szenarien – Für einen transnationalen Blick auf Frankreich, Großbritannien und Italien
  • Utopia and Labour: How Utopia Affected Society in Nineteenth-Century Europe and the European Concept of Labour (Bianca Rita Cataldi)
  • Europe en cours, Europe comme fait – La question de l’équilibre européen dans l’œuvre d’Albert Robida (Monica Biasiolo)
  • London has Fallen: Europe and Britain in the Dystopian Imagination of Philip Ridley (Christian Attinger)
  • La macchina del vento de Wu Ming 1 : le roman méta-utopique (Gerardo Iandoli)
  • IV. Mosaik Europa im Spiegel von Selbstfindungsprozessen
  • Europe terminus. La littérature de migration entre rêve et désenchantement (Maximilian Gröne)
  • À la recherche de soi-même, à la recherche de l’Europe. L’imaginaire européen dans Cercle de Yannick Haenel (Hannah Steurer)
  • Prozesse und Perspektiven – Europa und das Credo der demokratischen Ideologie
  • Frieden durch Konflikt: Friedliches Zusammenleben in Europa im Kontext kultureller Vielfalt (Nora Schröder)
  • Beitragszusammenfassungen und biobibliografische Notizen
  • Abbildungsverzeichnis
  • Namensregister
  • Reihenübersicht

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Monica Biasiolo/Chloé Lamaire

EINLEITUNG

Ich bekam ein Puzzle zum Geschenk: Die farbige Karte Europas, auf Holz aufgeklebt, war in die einzelnen Länder zersägt worden. Man warf die Stücke alle auf einen Haufen und setzte blitzrasch Europa wieder zusammen. So hatte jedes Land seine eigene Form, mit der meine Finger sich vertraut machten und eines Tages überraschte ich den Vater mit der Behauptung: „Ich kann es blind!“ „Das kannst du nicht,“ sagte er. Ich schloß fest die Augen und fügte Europa blind zusammen. „Du hast geschwindelt,“ sagte er, „du hast zwischen den Fingern durchgeschaut.“ Ich war beleidigt und bestand darauf, daß er mir die Augen zuhielt. „Fest! Fest!“ rief ich aufgeregt und schon war Europa wieder beisammen (Canetti 1977: 57).

Der hier zitierte Abschnitt aus dem ersten Band der Autobiografie des weltberühmten Nobelpreisträgers Elias Canetti legt den Akzent auf einige Aspekte, in denen noch heute das Konzept Europas zu erkennen ist: Der von Canetti beschriebene Kontinent beginnt zunächst als ein aus Fragmenten bestehendes Europa, ein seziertes Erdteil, das darauf wartet, zusammengesetzt zu werden; ein Spiel, das mit der Identität des Autors selbst eng verwoben ist, der seine Erlebnisse als Siebenjähriger erzählt und Motive wie das der memoria und der Identität mit einschließt. Letztere sind allerdings nicht für Canetti spezifisch, sondern zusammen mit Konzepten wie der Fragmentierung und Zusammenfügung, der Einzigartigkeit und Differenz, der Individualität und Vielfalt essenzieller Teil des Puzzles Europa, vor dem Canetti als Spieler und Mensch steht. Dabei nimmt er eine besondere Herausforderung an: Er handelt blind, jedoch nicht orientierungslos, da gerade der Blinde oft andere Dinge sieht und dabei Visionen im Sinne von Offenbarungen hat. Bei Canetti, der sich in der zitierten Passage im Gespräch mit seinem Vater präsentiert (sprich: seiner Leserschaft in Form einer Auseinandersetzung zwischen zwei Generationen), ist das endgültige Bild das eines einheitlichen Europas. Es zu erreichen erfordert Kenntnisse, logisches Denken und planerisches Vorgehen, das räumliche Vorstellungsvermögen des Spielenden und die Erinnerung als Konstruktionsprinzip, da jenes Vorhaben in verschiedenen Variationen bereits mehrfach durchgespielt wurde. Canettis Europa bleibt aber nicht auf die geografische Dimension des Ganzen beschränkt. Sein Europa ist – wie seine Biografie deutlich zeigt – allen voran ein Europa des Geistes, der Sprachen und der Literatur, ein von Konflikten, Kriegen und Totalitarismen durchzogenes Europa, zu dessen wichtigsten Stimmen er gehört. In der bulgarischen Provinzstadt Rustschuk geboren, in England, ←13 | 14→Österreich und in der Schweiz aufgewachsen, dann Anfang der 1920er Jahre zuerst nach Deutschland, später nach Wien umgezogen, bis er 1938 infolge des sogenannten Anschlusses aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach London emigrieren muss, verkörpert Canetti, in vielen Ländern verwurzelt, die Synthese der europäischen Kultur (Schieth 1995; Hanuschek 2005). Was Canetti im Europa des 20. Jahrhunderts erlebt und wie er dessen geografischen, historischen und kulturellen Raum wahrnimmt und beschreibt, soll an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Bei dem Europa seines Siècle, für das Hobsbawm im Gegensatz zu dem 19. Jahrhundert das Adjektiv „short“ verwendet (Hobsbawm 1994), handelt es sich – zumindest auf den ersten Blick – um einen Kontinent mit halbwegs geografisch definierten Grenzen, jedoch auch mit unterschiedlichen politischen Diskurskulturen, d.h. um ein Europa in Entwicklung und in Bewegung; um einen moralischen und kulturellen Körper im stetigen Dialog mit dem, was die Vorgänger gemacht haben, und mit einem auf die Zukunft gerichteten Blick.

Wie Canetti haben sich nicht nur im 20. Jahrhundert viele Schriftsteller, Philosophen, Historiker und Politologen mit Europa als Ordnungsmodell und gemeinsamem Erfahrungsraum beschäftigt, Entstehungs- und Stabilisierungsfaktoren einer europäischen Identität untersucht und Europa als Projektionsraum eigener Sehnsüchte und Ängste betrachtet bzw. angewandt (vgl. hierzu u.a. Garber 1989; Kraume 2010; Kulessa/Seth 2017). Daraus entsteht ein intellektuelles Gerüst, das in den nationalen Kulturen Wirkung hat und in der Literatur als Spiegel der Gesellschaft und Bildungsmittel derselben aufgrund heterogener Ergebnisse und Kontinuitätslinien besonders beachtenswerte Resultate zeitigt. Der enge Konnex zwischen Fiktion und Realität zeigt sich bei Europa im Spiel zwischen der Beobachtung des Realen und dessen Entwicklung einerseits, und deren fortwährender Umsetzung ins Imaginäre anderseits: Europa ist dort auch eine Realität, von der nach Strukturen literarischer Formen und Gattungen erzählt wird, die an Träume und Fantasie gebunden sind. In beiden werden kulturelle Grenzen transzendiert, Wünsche und Feindbilder projiziert sowie existierende Machtkonstellationen infrage gestellt und Selbstverortungen gesucht. „Europa ist da“, schreibt Wolfgang Schmale, „wo Menschen von Europa reden und schreiben […], wo Menschen Europa imaginieren und visualisieren, wo Menschen in Verbindung mit dem Namen und Begriff Europa Sinn und Bedeutung konstituieren“ (Schmale 2001: 13 f.).1←14 | 15→

Der Ursprung dieses Prozesses, in dem Europa als Bodenbereiter einer von Vielfalt geprägten kulturellen Einheit dient, ist schon in dem gleichnamigen Mythos vorgezeichnet: Bei Ovid ist Europa die schöne Tochter des phönizischen Königs Agenor, in die sich der griechische Göttervater Zeus verliebt. In einen Stier verwandelt entführt Zeus Europa auf seinem Rücken und bringt die junge Frau auf die Insel Kreta. Dem Gott gebiert Europa im Mythos drei Söhne, die der europäischen Zivilisation eine entscheidende Stoßrichtung geben sollen und die Symbiose von Osten und Westen verkörpern (Ovid 1998: II, 833–875). In Christine de Pizans Livre de la Cité des Dames ist zu lesen: „Europe […] fut aussi célèbre parce que Jupiter, qui était amoureux d’elle, donna son nom à la troisième partie du monde“ (de Pizan [1404–1405] 2012: 226). 1933, d.h. über 500 Jahre später als die berühmte Frühhumanistin und femme de lettres, zeigt Max Beckmann, bei dem der Raub der Europa „als Metapher für die nationalsozialistische Machtergreifung“ zu deuten ist (Quante 2013: 181), stattdessen Europa „mit von Schmerz verzerrtem Gesicht auf dem Rücken des Stieres liegend“ (Walther 2003: 98). Dabei handelt es sich um die Darstellung und Deutung des Mythos in einer Variante seiner ikonografischen Entwicklung.

Es reicht aber weiterhin an dieser Stelle, an die Zeit der Aufklärung, als Frankreich die Zügel der Kultur festhielt und im bereits früh praktizierten europäischen Raum grundlegende Fragen nicht nur aufwarf, sondern auch beantwortete, sowie an die Romantik zu erinnern, um weiterführende wichtige Reflexionen über Europa als Idee und Projekt zu finden: Nachgedacht wird über das Europa der damaligen Gegenwart sowie über dessen Vergangenheit und Zukunft. Dies geschieht u.a. in vielen Schriften der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel, die etwa in ihren Vorlesungen eine diskursive Imagination Europas entwickeln und sich fragen, wie die Vielfältigkeit der Nationen und Literaturen als Einheit gedacht werden kann (vgl. bspw. D’Agostini 1999; Uerlings 2005). Der Schritt zu einem neuen Europamodell, distanziert von dem realen Europabild ihrer Gegenwart, hat bei den Schlegels Priorität. Friedrich Schlegels wichtige Zeitschrift Europa, die einen umfassenden Ausblick auf die europäische Literatur bietet, erscheint von 1803 bis 1805. Novalis’ Werk Die Christenheit und Europa, ein weiterer grundlegender Baustein nicht nur zur damaligen zeitgenössischen Diskussion über die Zukunft des europäischen Kontinents, ist bereits 1799 verfasst worden. Als der Text ca. 30 Jahre später tatsächlich erscheint (Novalis 1826), ist dies ein besonderer Moment der Geschichte Europas. Tatsächlich befindet sich der europäische Raum in einer epochalen Krise: Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege und der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress im Jahre 1815 herrscht in vielen Staaten politische und soziale Unzufriedenheit, die einen Bodensatz für revolutionäre Unruhen ←15 | 16→bildet. Auch werden die ersten Ansätze der Industrialisierung erkennbar, die zu einer neuen wirtschaftlichen Orientierung führen, gleichzeitig jedoch erste Spuren jener Schwächen und Widersprüche zutage treten lassen, die sich mit der nahenden der Jahrhundertwende zuspitzen werden. Die Kriege zur nationalen Befreiung, die in den darauffolgenden Jahren durch viele Länder ziehen und zum Bildungsprozess vieler Staaten beitragen, lassen Strategien und Kosten der nationalistischen Alleingänge deutlich spüren. Mit dem Aufstieg nationalistischer Bestrebungen und deren Folgen wird die Bildung eines europäischen Bewusstseins einer europäischen Einigung sowie Konzeptionen und Vorstellungen einer europäischen Einheit allerdings nicht in toto geschwächt: Eine neue Weltordnung für Europa, nicht selten mit dem Plan eines zu erreichenden ewigen Friedens verbunden, ist besonders im 18. Jahrhundert schon mehrmals präsent, wie beispielsweise im Denken des französischen Geistlichen, Sozialphilosophen und Publizisten Charles Irénée Castel de Saint-Pierre, bekannt als Abbé de Saint-Pierre (s. Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, 1713 – Bde. 1 und 2, 1717 – Bd. 3 in Utrecht erschienen), der im Kontext eines „im Zuge des Spanischen Erbfolgekrieges“ erschütterten Europas seine Utopie über eine humane und rationale Gestaltung internationaler Beziehungen und politischer Organisationen vorlegt (Kulessa/Seth 2017: Vorwort). Über das Europa der Gegenwart sowie die europäische Zukunft werden zudem u.a. Rousseau, Montesquieu, Voltaire, Kant und Hume reflektieren. Die Enzyklopädie von Diderot und D’Alembert, summa summarum aller Kenntnisse, widmet Europa einen interessanten Artikel, in dem dessen Autor, Louis de Jaucourt, eine Beschreibung der Geografie der großen Region liefert sowie auf das reiche kulturelle Erbe Europas verweist (Jaucourt in Encyclopédie 1751: 211–212). Dort wird auf den Alten Kontinent, aber auch über dessen nationale Grenzen hinaus, geblickt, sowohl axial als auch diametral: Europa definiert sich als Imaginations- und Aktionsraum in primis durch benachbarte Länder bzw. entfernte Staaten, deren Identitäten auch seine geprägt haben bzw. noch heute prägen. In anderen Worten: Europa existiert nicht allein, sondern immer nur im Verhältnis zu den Anderen; Montesquieus Werk Lettres persanes (1721) liefert ein exemplarisches Beispiel hierfür.

Stellt der Orient in der Vision der Brüder Schlegel eine Quelle der literarischen und kulturellen Bereicherung Europas dar, dient der Islam bereits seit langer Zeit als erster Vergleichspunkt für dessen sozio-kulturelles Gerüst. Ein anderer Raum, der im Aufbau der europäischen Identität eine Rolle gespielt hat, ist der von Kolumbus entdeckte amerikanische Kontinent, der später als Modell (im Sinne einer Erweiterung des öffentlichen Raums Europas), oft aber auch als Rivale interpretieren werden wird. So dienen die Vereinigten Staaten ←16 | 17→von Amerika besonders im 19. sowie im 20. Jahrhundert als Vorbild der Idee einer europäischen Integration und politischen Zusammenarbeit, wie auch der Begriff ,Vereinigte Staaten von Europa‘ belegt. Dieser tritt in usum u.a. bei Victor Hugo, Giuseppe Mazzini und Carlo Cattaneo, die jeweils über Projekte zur Realisierung einer entsprechenden Föderation nachdenken bzw. diese ausrufen (vgl. hierzu u.a. J. Mazzini et l’Europe 1861; Momigliano 1919; Foerster 1967), sowie in Churchills Zürcher Rede von 1946, in der von einer Neuschöpfung „[of] the European Family“, in welcher „peace, […] safety and […] freedom“ bestehen können (Churchill 19.09.1946: 2).2 Ein paneuropäisches Manifest, in dem auf einen „Zusammenschluß aller demokratischen Staaten Kontinentaleuropas zu einer internationalen Gruppe, zu einem politischen und wirtschaftlichen Zweckverband“ appelliert wird, ist zu der Zeit bereits durch die Arbeit von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi präsent (Coudenhove-Kalergi 1923: 20). Ausdehnungen und Kontraktionen, sowohl geografischer als auch kultureller Art, treten bei der Bestimmung der Bezeichnung und bei den Versuchen einer Konkretisierung der Pläne häufig auf: De Gaulle sucht „ein Europa «vom Ural bis zum Bosporus» […]“ (Adler 17.11.2017); Intellektuelle wie Václav Havel und Umberto Eco, Bronislaw Geremek und György Konrád plädieren ihrerseits für „ein «organisches» Europa“ (Adler 17.11.2017), während das Europa des schon zitierten Abbé de Saint-Pierre die Einbindung der Türkei und der Maghrebländer vorsieht, d.h. den Mittelmeerraum durch geographische Grenzen definiert und damit umkämpfte Grenzen der Inklusion weichen lässt.

Um abzubilden, wie sich die andauernde und sich ständig erneuernde Dynamik Europas manifestiert, können hier nur einige Beispiele angeführt werden, welche hervorheben, wie der Begriff je nach Epoche und Perspektive als ideologischer Behälter einer schwierigen Definition erscheint: sowohl geografisch als auch historisch-politisch bedingt, aber nicht nur. Dies geschieht laut Béatrice Didier erstens, weil im Unterschied zu seiner durch den Ozean gut definierten Westatlantikseite „à l’Est les frontières avec l’Asie ont étés fluctuantes“ und „l’instabilité même des ex-républiques soviétiques repose continuellement cette question des frontières de l’Europe“ (Didier 1998: 1–2); zweitens, weil „[l]‌e bassin méditerranéen constitue une unité culturelle […] qui transcende la division des trois continents: Europe, Afrique, Asie“ (Didier 1998: 2). Damit ist die Vielfältigkeit des europäischen Raumes ausgesprochen, dessen Koordinaten nicht eindeutig zu benennen sind, ohne Kontext und Urteilskriterien ←17 | 18→zu berücksichtigen. Darüber hinaus wurden schon im Mittelalter die geografischen Grenzen mittels kultureller Mobilität und kulturellem Austausch durchbrochen: „Man fühlte sich als Bewohner einer Republik jenseits von Standesgrenzen und Disziplinen“ (Knoche/Ritter-Santini 2007: 7). Auch um 1800 ist „das Bewußtsein einer Zugehörigkeit zu einer europäischen Gelehrtenrepublik […] noch keineswegs versunken [ist]. Wissenschaftler und Künstler wie Constant, Mme de Staël und Chateaubriand, die Weimar besuchten, und der Weimarer Weltbewohner Goethe selber gehörten zu jenen, die den Denkformen der République des lettres mit moderner Begrifflichkeit wie »Ideenzirkulation« oder »geistiger Handelsverkehr« noch einmal Geltung verschaffen wollten“ (Knoche/Ritter-Santini 2007: 7). Bestimmt gibt es einen Raum Europa, für dessen Kategorisierung heute wie damals ein Orientierungsreferenzsystem benötigt wird und nicht selten wiederum Unterteilungen wie etwa Zentralraum, Zwischenraum und Peripherieraum gegeben werden; nichtsdestotrotz ist die Existenz einer wachsenden Pluralität Europa nicht zu leugnen, die als Grundvoraussetzung seines Ordnungsraumes dient und als Beweis für seine Fähigkeiten sowie seinen strategischen Handlungsrahmen steht, dessen Widersprüche und Konflikte sich ebenso erkennen lassen. Dabei handelt es sich um eine vielschichtige Identität, die sich weder als etwas Eindimensionales und Einfarbiges noch als etwas Unbestimmbares erfassen lässt (Krienke/Belafi 2007; Salewski 2000). Evident ist die Variationsbreite Europas anhand seiner polymorphen Zusammensetzung auch im 20. und im 21. Jahrhundert: Es gibt ein Europa vor und nach dem Ersten Weltkrieg; eins im Weltkrieg; eins zwischen den Kriegen; ein in zwei Blöcke geteiltes Europa, in dem sich das Spiel zwischen zwei unterschiedlichen Weltanschauungen entwickelt; ein Europa, das sich in Richtung der Europäischen Union bewegt. Es gibt ein Europa von Brüssel; eins, welches sich als schnell wachsender Hort des Populismus auszeichnet und ein Europa der Verteidigung der Demokratie. Es gibt last but not least ein Europa des Prä-Brexit und eins danach, das nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in Bezug auf kulturrelevante Anforderungen neue Bedingungen für Denken und Aktion verursacht. Banksys berühmtes Wandgemälde in der Hafenstadt Dover, eine riesige EU-Flagge mit einem Handwerker, der einen der Sterne abschlägt, hat die Fragilität des innereuropäischen Zusammenhalts sichtbar gemacht (Banksy 2017).3

Die Belastungsproben sind auch angesichts der aktuellen COVID-19-Krise nicht gering, in der jedoch die Pluralität der Mitgliedstaaten die Suche nach den ←18 | 19→richtigen Maßnahmen deutlich begünstigt hat. Der Austritt Großbritanniens aus der EU, der im Januar 2021 mit Ausnahme einiger Übergangsregeln als endgültig vollzogen gilt, führt zu zusätzlichen Herausforderungen, die einmal mehr auch der Kraft der Literatur, die konsolidierend wirken sowie Chancen herausarbeiten und gefahrlos die unterschiedlichsten Wege begehen kann, bedürfen.

„Europa“, kann Andreas Platthaus zu Recht schreiben, „ist ein Kind der Literatur. […] Europa als Begriff ist historisch […] mehr Resultat einer Abgrenzung als einer Eigenbestimmung“ (Platthaus 10.02.2019). Die Literaturwissenschaft als Forschungsgebiet tritt als prima inter pares in das Nach- und Umdenken über Europa, vor allem, wie auch bereits anhand der oben genannten Beispiele belegt, über seine zukünftige Idee sowie über den europäischen Raum als Prozess und Möglichkeitsterritorium jenseits geografischer Eingrenzungen in ständiger Entwicklung und in fortdauerndem Wechsel. Darin spielen gesellschaftlich relevante Themen und politisch aktuelle Fragestellungen eine wichtige Rolle; es folgen spannende Antworten und neue Sichtweisen, die nicht selten der Leserschaft in Frageform als Hypothese angeboten werden. Diese vermitteln oft ein radikal anderes Weltbild verglichen mit der aktuellen Wirklichkeit, die sie hinterfragen; sie dienen aber auch als Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit; als Bindeglieder, die die Zukunft an die Gegenwart annähern und zur Förderung eines Dialogs der Kulturen beitragen.

Mit ihren Instrumentarien leistet unter den Philologien die Romanistik wichtige, vielfach bis heute gültige Beiträge zur Ideengeschichte eines Europa und dessen Selbstverständnisses. Dabei wird über Begriffe jener einen europäischen Identität diskutiert, es werden Perspektiven europäischer Gesellschaften vorgeschlagen und Konzepte wie Diversität und Integration besprochen. Fragen, wie beispielsweise, welche Leistungen bereits innerhalb der Disziplin erbracht wurden bzw. noch offengeblieben sind, sind für die Entwicklung der Forschungsinstrumente selbst notwendige Arbeitswege. Ob die Idee eines europäischen Zusammenfügens auch heute als bloßes Elitenprojekt zu verstehen ist und welche Rollen Eliten darin spielen, sind innerhalb des hier skizzierten Kontextes weitere Ausgangspunkte möglicher Überlegungen über Grenzen und Mängel des Systems Europa. Im Bereich der deutschen Romanistik wurde das Wesen der europäischen Kulturen von Ernst Robert Curtius (1886–1956) prägend untersucht (Curtius 1948), der „ganz in der Tradition der politischen Romantik in Deutschland […] nach einer Synthese von Nationalgefühl und Kosmopolitismus“ strebt (Büssgen 2000: 232).4 Beiträge aus der romanistischen Forschung, ←19 | 20→welche konkrete Anregungen und Ideen für konstruktive Lösungswege und/oder Veränderungen aufzeigen, bilden ebenso repräsentative Bausteine, die sowohl einzeln als auch hinsichtlich ihrer Wechselwirkung interessant zu analysieren sind. Auf diese Weise stellen sich Bände wie die 2017 in drei Sprachen veröffentlichte Textsammlung Die Europaidee im Zeitalter der Aufklärung, die Manifestationen einer Europaidee u.a. von in Vergessenheit geratenen Denkern zu Europa umfasst und damit einen reichhaltigen Streifzug durch das 18. Jahrhundert bietet (Kulessa/Seth 2017), sowie die Monografie Das Europa der Literatur. Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815–1945 (Kraume 2010) – beide wurden bereits im Rahmen der vorliegenden Einleitung zitiert –, aber auch der von Frank Bösch, Ariane Brill und Florian Greiner herausgegebene Sammelband Europabilder im 20. Jahrhundert. Entstehung an der Peripherie (2012) als wichtige dokumentarische Quellen zur Geschichte und Entwicklung des Europadiskurses heraus.5

Dass die Zunahme der europäischen Vielfalt infolge von Prozessen der Globalisierung und der Migration zu einer Neudefinition der Identität des betroffenen Raumes führt, ist heute unzweifelhaft. Demzufolge sind Transformationsmomente und deren Ausprägungen weiter zu beobachten. Dies ist auch das Ziel des im Oktober 2021 stattgefundenden XXXVII. Romanistentag gewesen, dessen Rahmenthema, Europa zwischen Regionalismus und Globalisierung, sich als weiteres relevantes Diskussionspodium in der genannten Richtung angeboten hat.

Details

Pages
264
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631864470
ISBN (ePUB)
9783631864487
ISBN (Hardcover)
9783631828342
DOI
10.3726/b18835
Language
German
Publication date
2022 (May)
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 264 S., 5 s/w Abb.

Biographical notes

Monica Biasiolo (Volume editor) Chloé Lamaire (Volume editor)

Monica Biasiolo ist Dozentin am Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft (Französisch/Italienisch) der Universität Augsburg, wo sie derzeit ihre Habilitationsschrift zum Thema Utopie und Querelle des Sexes zwischen 1860 und 1910 abschließt. Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen neben dem Futurismus insbesondere die Kriegsliteratur und Kriegsikonographie, Literatur und Intermedialität sowie literarische Weiblichkeitsmodelle und komparatistische Diskursfragen. Chloé Lamaire ist Doktorandin des deutsch-französischen Programms Europäischen Kommunikationskulturen. Sie forscht über den Anfang des 20. Jahrhunderts und spezialisiert sich auf die Avantgarde und insbesondere auf Dada mit den Schwerpunkten Gattung des Romans und gender studies aus der Perspektive der Männlichkeit. Sie arbeitet an der Universität Augsburg.

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Title: Utopie Europa