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Grimmelshausen 400

Forschungen, Fiktionen, Erinnerungen und Reflexionen um den Autor und sein Werk 400 Jahre nach seiner Geburt

von Italo Battafarano (Autor:in)
©2022 Sammelband 240 Seiten
Reihe: IRIS, Band 30

Zusammenfassung

Grimmelshausens Grandezza besteht zweifellos darin, als Erster den Großen Krieg der frühen Neuzeit kritisch thematisiert zu haben, ohne die Anbeter von Mars als Helden zu ehren. Stattdessen beschreibt der Autor vielmehr deren Schwächen und Böswilligkeiten, ihre Fehler und Verbrechen. Darüber hinaus konstituieren sein Werk eine pars destruens, welche gegen die idola seiner Zeitgenossen vorgeht, und eine pars construens, welche von der Welt und den Menschen zugleich erklärend und unterhaltend erzählt.
Absolut neu ist bei Grimmelshausen, dass beide Seiten der Erkenntnis – die pars destruens und die pars construens – in allen seinen Figuren zugleich vertreten sind, denn er hält nichts von einer Welt im langjährigen Krieg, welche Soldaten und Bürger in Gute und Böse aufteilt, weil sie, alle, in den Schatten des Kriegsmonstrums eines Tages volens oder nolens hineinfielen oder hineingeboren wurden, dort aufwuchsen und mit physischen oder psychischen Narben überlebten, wenn sie nicht vorher auf dem Schlachtfeld fielen.
Grimmelshausens großartige Prosa gegen den Krieg und gegen das magische Alltagsdenken seiner Zeitgenossen bietet keine Titelhelden als Identifikationsfiguren an. Sein Erzähltalent provoziert bis heute nicht nur professionelle Interpreten.
Zur 400. Wiederkehr von Grimmelshausens Geburtsjahr dokumentiert der Band diese andauernde Lebendigkeit des Barockautors, indem er sowohl Germanisten als auch Leserinnen und Leser unterschiedlicher Altersstufen und beruflicher Provenienz aus Deutschland, Italien und den USA zu Wort kommen lässt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort des Herausgebers
  • Abkürzungen
  • Erster Teil
  • Jörg Jochen Berns: Unterm Baum. Anläufe zur Bestimmung der Simplicianischen Familie
  • Hildegard Eilert: Nomen est omen? Überlegungen zu den Spitznamen Simplicius Simplicissimus, Courage, Springinsfeld
  • Elmar Locher: Geld und Zeit bei Grimmelshausen
  • Peter Gröschler: Die Ehe-und Partnerschaftsverträge der Courage. Juristisches bei Grimmelshausen
  • Italo Michele Battafarano: Warum verschwindet die Abessinierin und nicht der Portugiese von der Insel der Fruchtbarkeit? Ethik contra Metaphysik in Grimmelshausens Simplicissimus
  • Paolo Cherchi: Die Eroberung der Würde der Arbeit bei Garzoni und Grimmelshausen
  • Volker Meid: Simplicianischer Raufhandel letzter Teil. Christian Weise, Grimmelshausen und die Suche nach den Drey Klügsten Leute in der gantzen Welt
  • Italo Michele Battafarano: Simplicissimi Kabbala Denudata anno 1743 oder Simplicissimus Redivivus auf den Spuren von Grimmelshausen und Knorr von Rosenroth
  • Zweiter Teil
  • Vittorio Hösle: Gespräch über den ästhetischen Wert von Der Abenteuerliche Simplicissimus
  • Gabriele Eilert-Ebke / Hans Ebke: Fantasien zu zwei jungen Engländern und was es mit Oberhausen auf sich hat
  • Hans-Jürgen Biersack: Pest, Pandemie, Pogrome – was Grimmelshausen wusste, selbst erlebte und nicht wissen konnte
  • Michele Rubertelli: Ein Hämatologe mit zwei Simplicissimi in den ersten Jahren von Covid-19
  • Max Karner: Als ich einmal … je pète!!! – Erinnerungen eines Mediziners an seine Schulzeit anno 1994
  • Laura Balbiani: Ich bin Grimmelshausen eine Bärenhaut schuldig. Mit der ersten italienischen Übersetzung vom Ersten Bärenhäuter
  • Klaus Matthäus: Dieses Schwein braten wir selber und geben es nicht den Germanisten zum Fraße frei
  • Hildegard Eilert: Postskriptum zum Molsheimer Kalender und dem Stolzen Melcher
  • Laura Battafarano: Grimmelshausens Courage. Erinnerungen und Reflexionen über Femizid und Gewalt gegen Frauen während der Pandemie
  • Über die Autoren
  • Register der Personennamen
  • Reihenübersicht

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VORWORT

Wann genau Grimmelshausen geboren wurde, ist nicht bekannt. Indirektes aus seiner Hand weist genauso auf 1621 wie 1622 als Geburtsjahr hin. Ich war stets davon ausgegangen, dass Grimmelshausens Geburtstag am 17. März 1621 war. Als ich Anfang des Jahres 2020 meine Überzeugung zu verifizieren versuchte, musste ich mir jedoch eingestehen, dass meine Annahme einer eindeutigen Grundlage entbehrte. Was tun? Ein Doppeljahr für die Geburtstagsfeier zu programmieren, schien mir schließlich die beste Lösung: Anno 2021 hätte ich als Herausgeber von einem Kollektivband die Feierlichkeiten für einen der größten Epiker der Weltliteratur begonnen, um das nachfolgende Jahr 2022 anderen Forschern und Institutionen, die Grimmelshausen auf ihre Weise auch feiern wollen, zu überlassen.

Im Frühjahr 2020 erfasste ein Coronavirus die Welt pandemisch. Dies ließ vermuten, dass ohne einen Impfstoff das Virus auch 2021 weiterhin aktiv gewesen wäre. Mir war daher von Anfang an bewusst, dass diesmal ein Germanisten-Kongress wie in Münster im Frühling und ein Volksfest wie in Renchen im Sommer 1976 anlässlich der 300. Wiederkehr von Grimmelshausens Todestag nicht möglich gewesen wären. Die angeordnete oder empfohlene Klausur, sonst auch Lockdown genannt, im gesamten Europa sowie die reduzierte Reisemöglichkeit, um die Verbreitung des Virus Covid-19 zu verhindern, zwangen mich, etwas aus der Ferne zu organisieren.

Die Herausgabe eines Sammelbandes zu Ehren des Autors mit dem Titel Grimmelshausen 400 schien mir daher die einzig praktikable Lösung. Die gesammelten Originalbeiträge, welche den Autor und sein Werk mit Forschungen, Fiktionen, Erinnerungen und Reflexionen würdigen, waren absichtlich als eine Mischform geplant. Der Band sollte erstmals sowohl akademische Untersuchungen als auch Essays von Nicht-Germanisten zusammen enthalten, um zu Beginn dieses Millenniums ein differenziertes Bild des Autors aus einer multiplen Perspektive zu bieten.

Bei dem Entwurf des Projekts im pandemischen Zeitgeist wusste ich, dass diesmal nicht nur das Interesse am Objekt wichtig war, sondern auch der psychische Zustand der jeweiligen Beiträger, welche auf ←7 | 8→meine Einladung unterschiedlich hätten reagieren können, was ich a priori in Kauf nahm. Als ich die Einladung an Kollegen und Bekannte schickte, imaginierte ich mich eine bunte Palette von Antworten, die von der schweigenden Absage bis hin zur aktiven Teilnahme hätten reichen können, gleichsam nach der Devise „Beim Massensterben, wozu die Schöngeisterei“ oder im Gegensatz dazu „Wenn es sein muss, dann lieber mit der schönen Literatur krank werden und unversehrt wieder genesen“.

Von der Maxime überzeugt, dass die Beschäftigung mit der Kunst in einer ungünstigen Konstellation therapeutisch wirkt und Augenblicke von Irritation und Depression überstehen hilft, habe ich mir eine Art literarischer Selbstund Kollektiv-Therapeutisierung mit Grimmelshausen vorgestellt, der uns Beiträgern in puncto Simpliciana in diesem II. Jahr p. C. (post Covid-19) seine überzuckerten Pillulen als die beste Impfung verabreicht und ohne Spitalisierung heil entlässt.

Aus den Zusagen entnahm ich, dass Grimmelshausen auch als Beschäftigungsobjekt in schweren Zeiten bestens funktioniert, denn er erzählte auf eigene Weise, nützlich und lustig zugleich, vom Krieg, einem schrecklichen und grausamen Monstrum, welches sich 30 Jahre lang in Deutschland beinahe pandemisch einschlich und von Jahr zu Jahr mutierte, an Kraft gewann und unbesiegbar schien, weil sich stets neue Akteure (Könige, Fürsten, Herzöge, Generäle und dergleichen Kriegsherren mehr) auf seiner Bühne stolz und martial bewegten.

Nichtgermanisten und Nichtbarockforscher hatte ich zum Mitwirken an diesem Projekt eingeladen, um zu verifizieren, ob und inwieweit jenseits vom streng akademischen Forschungsbereich der internationalen Germanistik Grimmelshausen im heutigen Bildungshorizont noch präsent ist. Die Antworten darauf waren anregend und aufmunternd. Sie belegen eine Prävalenz der Juristen und der Mediziner in puncto Simplicianistik, was nicht sonderlich überrascht, wenn man an die vielen Ehe-Verträge denkt, welche allein der Musketier Springinsfeld unterschrieb, ohne glücklicher damit zu werden, oder wenn man die Krankheiten und Seuchen, die echten und die falschen Ärzte zählt, die im Werk Grimmelshausens auftauchen.

Die Grandezza von Grimmelshausen besteht zweifellos darin, als Erster den Großen Krieg der frühen Neuzeit kritisch thematisiert zu haben, ohne die Anbeter vom Kriegsgott Mars als Helden zu ehren und ihre Tugenden zu zelebrieren. Stattdessen beschreibt der Autor vielmehr ←8 | 9→deren Schwächen und Böswilligkeiten, ihre Fehler und Verbrechen. Darüber hinaus konstituieren sein Werk eine pars destruens, welche gegen die idola seiner Zeitgenossen vorgeht, und eine pars construens, welche die Erzählbarkeit der Welt und der Menschen nicht nur voraussetzt, sondern sie so gestaltet, dass sie erklärend und zugleich unterhaltend wirkt.

Absolut neu ist bei Grimmelshausen, dass beide Seiten der Erkenntnis, pars destruens und pars construens in allen Figuren und Situationen seiner Prosa zugleich vertreten sind, denn er hält nichts von einer Welt im langjährigen Krieg, welche Soldaten und Bürger in Gute und Böse aufteilt, weil sie, alle, in den Schatten des Monstrums eines Tages volens oder nolens hineinfielen oder hineingeboren wurden, dort aufwuchsen und mit physischen oder psychischen Narben überlebten, wenn sie nicht vorher auf dem Schlachtfeld fielen oder an den Nebeneffekten des Krieges zu Grunde gingen, was man heute mit einem schauderhaften Euphemismus collateral damage, Kollateralschaden, nennt.

Grimmelshausens großartige Prosa gegen den Krieg und gegen das magische Alltagsdenken seiner Zeitgenossen bietet keine Titelhelden als Identifikationsfiguren an, denn sowohl Simplicius als auch Courage sind aus recht unterschiedlichen Gründen umstritten. Sie provozieren den normalen Leser und professionellen Interpreten gleichermaßen, denn der fabulierende Wirt hatte es in seiner Gaststätte Zum Silbernen Stern am Rande des Schwarzwaldes zwischen 1666 und 1675 mit einer fulminanten Reihe von Romanen und satirischen Schriften mit verschmitztem Lächeln so entschieden, als er die Feder in die Hand nahm und von den Menschen erzählte, denen Mars mit Hilfe von Venus und Merkur einen Spiegel vorhielt, der sie täuschte, sodass sie von sich begeistert waren, während sie depravierten.

Bologna, am 17. August 2021

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Abkürzungen

Grimmelshausens Schriften:

COU: Courasche

EWC: Ewigwährender Calender

KS: Kleinere Schriften. Ed. R. Tarot. – Tübingen: Niemeyer 1973.

RP: Rathstübel Plutonis

SPRI: Springinsfeld

ST: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch

VN: Vogelnest

Courasche: Buch

Courage: Titelfigur

FG: Fruchtbringende Gesellschaft

SR: Simplicissimus Redivivus. – Frankfurt / Leipzig 1744.

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JÖRG JOCHEN BERNS

Unterm Baum

Anläufe zur Bestimmung der Simplicianischen Familie1

Ich mein, ich wöll hie ein klein feuerle anzünden.
So ir all merung mit künstlicher pessrung darzu thut,
so mag mit der zeit ein feur daraus geschürt werden ...

Albrecht Dürer

Glieder der Simplicianischen Familie sind, im weitesten Sinne, Du und ich und all’ jene, denen zu den Namen Grimmelshausen und Simplicissimus etwas einfällt. Mithin handelt es sich bei der Simplicianischen Familie nicht um einen biologischen und ökonomischen Verbund, nicht um eine Bluts-, Zeugungs-, Erbenund Vererbungsgemeinschaft. Um was denn aber?

Erster Anlauf

Den ersten Anlauf zu einer Antwort nehme ich von dem Kupfertitel zu Grimmelshausens Rathstübel Plutonis [Abb. 1]2. Er zeigt vierzehn Personen unter einem Baum, der die kreisförmig Versammelten überwölbt. Der Zusammenhalt des Personenkreises ist nicht durch Alter und Geschlecht, Herkunft oder sozialen Rang, nicht durch Blut oder Gut, sondern eben durch den Baum sowie durch den freien Entschluss zur Gesprächsteilnahme geregelt. Wenn der Gesprächsleiter als Thema der Runde die Geldfrage – mithin die Frage, wie „der mühseligen Armut zuentfliehen / und zu der angenehmen und holden Reichtumb zugelangen.“3 ←13 | 14→sei – stellt, so ist dies ein Thema, zu dem jeder eine Meinung haben muss, weil Geld das Leben eines jeden reguliert – und implizite auch das Verhältnis zu Religion und Moral bestimmt.

Der Verlauf des Gesprächs muss nicht nochmals nachgezeichnet werden, da das andere schon hinlänglich besorgt haben.4 Hier geht es vielmehr darum, die Tradition der ikonischen Topik des Titelkupfers, eben der Personengruppe unterm Baum, zu skizzieren und dann zu erörtern, was das für den Geltungsanspruch des Büchleins heißt.

Details

Seiten
240
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783034345422
ISBN (ePUB)
9783034345439
ISBN (Paperback)
9783034345415
DOI
10.3726/b19736
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Schlagworte
Grimmelshausen's grandeur die pars destruens und die pars construens Großer Krieg
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 240 S., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Italo Battafarano (Autor:in)

Der Herausgeber Italo Michele Battafarano (1946, Tarent) studierte in Bari und Münster, lehrte Germanistik von 1974 bis 2016 an den Universitäten Neapel, Bari, Kiel, Trient.

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Titel: Grimmelshausen 400
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