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Textus Babylonicus

Die Textvarianten in den biblischen Handschriften der babylonisch-jemenitischen Tradition

von Gianfranco Miletto (Autor:in)
©2022 Monographie 522 Seiten

Zusammenfassung

Die modernen Ausgaben der hebräischen Bibel geben alle – trotz der unterschiedlichen verwendeten Handschriften – mehr oder weniger den konsonantischen Text der tiberiensischen masoretischen Tradition wieder, die hauptsächlich auf die Masoretenfamilie ben Ascher zurückgeht. Daneben sind allerdings weitere Textformen (palästinisch, jemenitisch-babylonisch) erhalten, von denen eine Vielzahl echte Textvarianten aufweist, die insbesondere in den mittelalterlichen aschkenasischen und italienischen Handschriften überliefert wurden.
Das Buch bietet zum ersten Mal die Erfassung der philologisch bedeutenden konsonantischen Textvarianten der babylonisch-jemenitischen Tradition, die bis heute zu Unrecht kaum berücksichtigt wurden, und bietet somit die Grundlage für eine bessere Rekonstruktion der biblischen Textgeschichte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I Die Entdeckung der supralinearen babylonischen Punktation
  • I.1 Abraham ben Samuel Firkowitsch (1787–1874)
  • I.2 Die ersten Studien über die babylonische Punktation
  • I.3 Hermann Strack und der Konsonantentext des Codex Petropolitanus
  • I.4 George Margoliouth und die jemenitische Tradition
  • I.5 Paul Kahle
  • I.6 Alejandro Díez-Macho
  • I.7 Israel Yeivin, Díez Merino und Bruno Chiesa
  • II Verzeichnis der Textvarianten
  • III Auswertung der Textvarianten
  • III.1 Qumran
  • III.2 Der Samaritanische Pentateuch (SP)
  • III.3 Septuaginta und die griechischen Rezensionen
  • III.4 Vetus Latina (VL) und Vulgata (Vg)
  • III.5 Peschitta und TB
  • III.6 Ketiv/Qere (K/Q)
  • III.7 Medinḥa’e und TB
  • III.8 Targumim und TB
  • III.9 Der TB in der rabbinischen Literatur
  • III.10 Der hebräische mittelalterliche Bibeltext und der TB
  • III.11 TB und Zitate bei den Kirchenvätern
  • III.12 Von den Wassern Babylons an die Ufer des Rheins.
  • Zusammenfassung
  • Anhang 1: Zwettl Zisterzienserstift Cod. 336 (ca. XI. Jh., I Reg 11,43–12,11; 12,15–16; 12,20–21)
  • Anhang 2: Varianten nach der Kollation von Israel Yeivin
  • Ergänzungen
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Bibliographie
  • Verzeichnis der babylonisch-jemenitischen Handschriften nach dem Katalog von Israel Yeivin
  • Sekundärliteratur
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Der sog. Textus Receptus (TR) der Hebräischen Bibel beruht auf einer tiberiensischen masoretischen Tradition, die hauptsächlich auf die Masoretenfamilie Ben Ascher zurückgeht. Diese Texttradition hat sich – möglicherweise auch durch die besondere Wertschätzung des Maimonides (c. 1135–1204; Hilkhot Sefer Torah 8,4) – zuerst im ibero-sefardischen Raum und später vor allem durch den hebräischen Buchdruck in der christlichen Welt durchgesetzt und gelangte mit der zweiten Rabbinerbibel, die Jakob ben Chajjim ibn Adonijah für den Drucker Daniel Bomberg (1524–25) herausgab, zu einer ersten Standardisierung, die bis heute ihre Gültigkeit besitzt. Die darauffolgenden Ausgaben der hebräischen Bibel geben alle – trotz der unterschiedlichen verwendeten Handschriften – mehr oder weniger den konsonantischen Text der tiberiensischen masoretischen Tradition wieder.1 Daneben sind allerdings weitere Textformen (palästinisch, jemenitisch-babylonisch) erhalten, von denen eine Vielzahl echte Textvarianten aufweist, die insbesondere in den aschkenasischen und italienischen mittelalterlichen Handschriften überliefert wurden.

Im XVIII. Jahrhundert gab es Versuche, die mittelalterlichen Varianten durch umfangreiche Kollationen der hebräischen Handschriften zu erfassen. Zwischen 1776–1780 erschienen die beiden Folio-Bände des Vetus Testamentum Hebraicum cum variis lectionibus von Benjamin Kennicott; etwa später, zwischen 1784 und 1798, veröffentlichte Giovanni Bernardo De Rossi seine Variae lectiones Veteris Testamenti in fünf Folio-Bänden. Es handelte sich um die bis heute umfangreichste Lesevarianten-Sammlung des hebräischen Textes des Alten Testamentes. Eine imposante Leistung, die leider nicht zu (den möglichen) weiterführenden Ergebnissen führte, weil ihr Nutzen für die alttestamentliche Textkritik durch das vernichtende Urteil Johann Gottfried Eichhorns eingeschränkt blieb. Eichhorn bezeichnete die Variantensammlungen von Kennicott und De Rossi als „einen unermeßlichen Vorrat oder vielmehr einen schrecklichen Haufen meist tauben Korns“, denn für ihn galt es als erwiesen, dass alle mittelalterlichen Handschriften zur masoretischen Rezension gehören und dass „sie für die wichtigsten Fehler keinen Trost haben,“ weil „alle Hülfe der Handschriften im Grunde doch nur Kleinigkeiten betreffen“.2←9 | 10→

Eichhorn urteilte als Theologe und nicht als Philologe. Es mag sein, dass der Nutzen, den man aus den mittelalterlichen Handschriften der hebräischen Bibel gewinnen kann, nur „Kleinigkeiten“ betrifft, aber diese „Kleinigkeiten“ können von einem philologischen Standpunkt aus betrachtet und kulturgeschichtlich eingeordnet auch einen bedeutenden Beitrag zur historischen Forschung leisten.

Zur Zeit von Kennicott und De Rossi war der babylonische Text noch unbekannt, und bis heute ist der konsonantische Text der babylonisch-jemenitischen Tradition, abgesehen von den Arbeiten von Paul Kahle und Alejandro Díez-Macho, nicht vollständig untersucht worden.

Die vorliegende Arbeit möchte eine Lücke schließen. Die Erforschung des babylonisch-jemenitischen Textes wurde von meinem Doktorvater Paolo Sacchi angeregt. Die Untersuchung der Geniza-Fragmente der hebräischen Bibel mit babylonischer Punktation war das Thema meiner Promotionsarbeit, die dank der finanziellen Unterstützung des italienischen „Centro Nazionale delle Ricerche“ bei dem Verlag „Silvio Zamorani Editore“ erschienen ist (L’Antico Testamento Ebraico nella tradizione babilonese: I frammenti della Genizah, Torino 1992). Aus zeitlichen Gründen konnte ich damals nur jene fragmentarischen Textzeugnisse bearbeiten, die Israel Yeivin ediert hatte.3 Diese Kollation wurde dann während meines Aufenthalts in Israel um weitere Fragmente erweitert, die Yeivin in photographischer Form in seinem Besitz hatte und noch unveröffentlicht waren. Sehr großzügig stellte mir Yeivin auch die Varianten zur Verfügung, die er aus babylonisch-jemenitischen Handschriften gelegentlich vermerkt hatte. Er forderte mich auf, auch diese Handschriften systematisch zu untersuchen.

Nach der Promotion lenkte mich die akademische Tätigkeit zu anderen Forschungen. Jetzt kann ich endlich die vor mehr als 30 Jahren angefangene Arbeit zu Ende bringen. Die Kollation der Geniza-Fragmente wurde von – leider unvermeidlichen – Fehlern gereinigt und mit der Kollation der babylonisch-jemenitischen Handschriften ergänzt. Im Rahmen eines durch die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ finanzierten Projektes wurden mehr als 6000 Seiten kollationiert.

Thema dieser Arbeit ist nicht die Geschichte der Masora und/oder der Entstehung der babylonischen Punktation. Der Fokus liegt auf dem konsonantischen Text, der in den babylonisch-jemenitischen Handschriften überliefert wurde. Deshalb ist die Vokalisation nur berücksichtigt worden, wenn sie eine bestimmte morphologische Interpretation des Textes darstellt, die von syntaktischer Relevanz ist. Die graphischen Varianten wie scriptio plena ←10 | 11→/ defectiva wurden ignoriert. Der erste Teil des Buches bietet eine Übersicht über die Entdeckung der babylonischen Tradition und die Rekonstruktion des Corpus der Handschriften. Moderne Untersuchungen der babylonischen Punktation und ihrer masoretischen Merkmale sind darin nicht enthalten. Teil II ist der Hauptkern der Arbeit. Hier sind jene Varianten aufgelistet, die für die Textüberlieferung von Bedeutung sind und eine besondere, von dem tiberiensisch-benascherianischen Text abweichende, Texttradition bezeugen. Bei der Auswertung der Varianten (Teil III) und ihrem Verhältnis zu anderen Textzeugen (alte Versionen, Targumim) wurde überdies nicht auf die Problematik der jeweiligen Übersetzungstechnik und Überlieferungsgeschichte eingegangen. Solche Ausführungen wären zu umfangreich gewesen. Diese Arbeit möchte eine Bestandsaufnahme der babylonischen Varianten anbieten, die als Ergänzung zu den Untersuchungen der Geschichte des biblischen Textes und seiner Masora sicher von Nutzen sein wird.

Neben der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ gilt mein besonderer Dank der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und insbesondere Frau Prof. Dr. Hanna Liss, die in dem von Ihr geleiteten „Abraham Berliner Zentrum“ dieses Forschungsprojekt angenommen hat.

Bei dem Kollegen Prof. Dr. Hans-Georg von Mutius bedanke ich mich für seine Ratschläge für eine bessere Gestaltung dieser Arbeit.

Mein Kollege und Freund, Prof. Dr. Pier Giorgio Borbone, hat für mich einige Varianten von Ezra und Nehemia geprüft, deren kritische Ausgabe des „Peshita Institute of the University of Leiden“ mir unzugänglich war.

Nicht zuletzt gilt mein besonderer Dank an Frau Bettina Burghardt, die mein Manuskript sorgfältig korrigiert hat.

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I Die Entdeckung der supralinearen babylonischen Punktation

I.1 Abraham ben Samuel Firkowitsch (1787–1874)

Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war die sogenannte babylonische Vokalisation in Vergessenheit geraten. Ihre Wiederentdeckung ist einem karäischen Gelehrten, Abraham ben Samuel Firkowitsch (1787–1874) zu verdanken.1

1839 sandte der Generalgouverneur von Neurußland, Fürst Michael Woronzow, Anfragen an das Oberhaupt (akham) der russischen Karäer, Sima Babowitsch, über das Alter der karäischen Gemeinden auf der Krim, ihre Traditionen und ihre Unterschiede zum rabbinischen Judentum. Fürst Woronzow war ein aufgeklärter und gebildeter Mann, Förderer und Ehrenpräsident der „Kaiserlichen Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertümer“.2 Sein Interesse für die unterschiedlichen ethnischen Gemeinden auf der vor kurzem annektierten Krim und in den anderen Regionen des sogenannten Neuen Rußlands war nicht nur kulturell motiviert. Die ethnographischen Kenntnisse dienten auch für eine bessere Verwaltung. Andererseits waren die Karäer selbst bemüht, sich von dem rabbinischen Judentum abzugrenzen und den diskriminierenden antijüdischen Gesetzen zu entgehen.3 Babowitsch gab Firkowitsch, der sein Sekretär und Hauslehrer war, den Auftrag, Beweise für das Alter der karäischen Gemeinden auf der Krim ←13 | 14→herbeizuschaffen und diese der „K. Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer“ zu übermitteln.4

Firkowitsch hatte sich schon vor diesem Auftrag mit der Geschichte der Karäer auf der Krim beschäftigt und Handschriften gesammelt. Ein Großteil seiner Sammlung an Dokumenten, Handschriften und Grabsteinen wurde aber von ihm zwischen 1839–1841 und 1852 während seiner Forschungsreisen auf der Krim und im Kaukasus zusammengetragen.5 Ein Teil davon ging in den Besitz der „K. Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer“ über und bildete die sogenannte „Odessa Sammlung“, die 1863 der „Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek“ (heute Nationalbibliothek) von St. Petersburg übertragen wurde.6 Ein weiterer Teil (die sogenannte „Erste Firkowitsch Sammlung“, die etwa 1500 Handschriften und Dokumente beinhaltet) blieb im Besitz von Firkowitsch und wurde 1862 von der „Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek“ von St. Petersburg erworben.7

Ferner brachte Firkowitsch von seiner Reise in den Nahen Osten in den Jahren 1863–1865 etwa weitere 15000 Handschriften mit sich nach Hause („zweite Firkowitsch Sammlung“), darunter 1341 samaritanische.8 Die samaritanische Handschriftensammlung wurde von ihm 1870 und der ←14 | 15→Rest 1876 von seinen Erben an die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek von St. Petersburg verkauft.9

Firkowitschs Sammlungsaktivität war von antiquarischem Interesse und patriotischem Eifer motiviert. Er wollte das geistige Selbstbewusstsein der karäischen Gemeinde wiederbeleben und beweisen, dass die Karäer auf der Krim die Nachkommen jüdischer Einwanderer waren, die sich auf der Halbinsel noch vor der christlichen Ära angesiedelt hatten. Die Karäer, unberührt von der späteren talmudischen Lehre, seien daher die Vertreter des wahren, unverfälschten Judentums und trügen keine Mitschuld an der Kreuzigung Jesu.10 Um eine solche These mit historischen Belegen zu beweisen, schreckte Firkowitsch vor Fälschungen nicht zurück, was ihm heftige Kritik und viel Misstrauen einbrachte.

Die Entdeckungen von Firkowitsch stießen schon früh auf reges Interesse. Bereits 1840 erschienen in Form von Briefwechseln Berichte und Stellungnahmen von Gelehrten über die Funde von Firkowitsch. Von Anfang an bestanden Zweifel über die Glaubwürdigkeit der Dokumente, welche die Niederlassung von jüdischen Gemeinden auf der Krim im VI. Jh. v. Chr. unter Kyros II. belegen sollten.11←15 | 16→

Der Verkauf der Sammlungen von Firkowitsch machte die Funde zugänglich und löste eine lebhafte Debatte über ihre Echtheit aus. Insbesondere Harkavy, Leiter der orientalischen Abteilung der Kaiserlichen Bibliothek von St. Petersburg, trug dazu bei, ein sehr negatives Bild von Firkowitsch als Lügner und grobem Fälscher zu verbreiten. Seine nach Firkowitschs Tod erschienene Monographie, Altjüdische Denkmäler aus der Krim, ist eine verbitterte, grimmige Attacke gegen die Person von Firkowitsch, die über die Grenze einer akademischen, wissenschaftlichen Auseinandersetzung hinausgeht. Harkavy selbst gibt zu, von persönlichen Motiven geleitet worden zu sein:

Zunächst muss ich erklären, dass der polemische Ton, der in dieser Abhandlung, was ich gern gestehe, oft scharf ausgefallen ist, durch die Eigenschaft der zu untersuchenden Materialien und die Art, wie man ihre Echtheit vertheidigt hatte, bedingt war. Einerseits musste ich mehr als zwei Jahre wie in einer Gespensterwelt, wo es von Phantomen, Gaukelspielen und Zaubergestalten wimmelt, mich bewegen. Anderseits nimmt der Vertheidiger der Wahrhaftigkeit aller dieser fingirten und hervorgezauberten Documente mit seinem „incommensurablen Standpuncte“ eine ganz eigenthümliche Stellung in der Wissenschaft ein, und kommt es bei ihm oft vor, dass er den Gegner gegen Windmühlen zu kämpfen veranlasst. Dies Alles könnte auch einen Geduldigeren als mich aus der Fassung bringen und veranlassen der Erbitterung durch ironische oder scharf polemische Ausdrücke Luft zu machen. Möglicherweise war die aus einer genauen Bekanntschaft mit Firkowitsch’ Thätigkeit gewonnene Ueberzeugung, dass jene Thätigkeit die Herabsetzung meiner Glaubensgenossen12 bezweckte und ihnen viel Schaden verursachte – ein Verfahren, das leider noch jetzt unter den Karäern und anderen Judenfeinden in unserem Vaterlande oft Nachahmung findet! – diese Ueberzeugung, sage ich, war vielleicht unvermerkt nicht ohne Einfluss auf meine Ausdrucksweise, um so mehr, da Hr. Chwolson jene Thätigkeit quasi-patriotisch zu idealisiren und zu sublimiren suchte.13

Trotz aller Animositäten musste schließlich Harkavy selbst die große wissenschaftliche Bedeutung der Funde von Firkowitsch und seine Leistung anerkennen.

←16 | 17→Der Mann hat gegen die Wissenschaft gewaltig gesündigt und kann es jetzt, während des durch ihn verursachten heißen Kampfes, wohl nicht an der Zeit sein, die „mildernden Umstände“ hervorzuheben. Nach einer kurzen Zeit aber, wo aller Streit über die krim’schen Alterthümer hoffentlich ganz aufhören wird, wird man nicht umhin können, den Urheber des Streites milder zu beurtheilen. Denn im Grunde genommen entsprangen doch alle seine Correcturen der Geschichte, ebenso wie sein gewaltiger Hass gegen die Rabbaniten, einem falsch verstandenen Patriotismus für die karäische Secte. Bei orientalischen Secten aber ist das Fälschen und Unterschieben von Documenten zur Verherrlichung ihrer Partei ganz in der Ordnung, und speciell die Karäer übten sich schon darin seit ihrem Entstehen, wie dies bereits in den ältesten Quellen bezeugt wird (vgl. die Berichte von Amram Gaon, Haji Gaon, Moses Taku u.s.w.). Man darf also Firkowitsch’ Verfahren nicht nach unseren gewöhnlichen Begriffen von Moral und literarischer Ehrlichkeit schätzen. Dann sind auch seine Verdienste um die Wissenschaft keineswegs gering anzuschlagen. Es genügt hier auf die mühevolle Sammlung alter Bibelcodices in der Krim und im Orient, die erste Bekanntmachung des babylonischen Punctationssystems, die Rettung vieler samaritanischer Handschriften vor sicherer Vernichtung, die Bekanntmachung der ältesten Erzeugnisse der karäischen Schriftsteller u. s. w. hinzuweisen.14

Heute, da sich die Wogen der heftigen Polemik geglättet haben, kann ein ausgewogeneres, objektiveres Urteil über die Fälschungen in den Sammlungen von Firkowitsch abgegeben werden. Harkavy hatte teilweise Funde von Firkowitsch als Fälschungen abgestempelt, ohne sie persönlich gesehen zu haben. Das betrifft insbesondere die sogenannte Madjalis (oder auch Sima) Rolle, die einen Paralleltext des Epigraphs der Derbent-Torah enthält und von zentraler Bedeutung in der Kontroverse über Firkowitsch war. Der Kurator der Handschriftenabteilung der Bibliothek, Afanasij Fedorovich Bytschkow, hatte Harkavy mitgeteilt, dass die Madjalis-Rolle in den Sammlungen von Firkowitsch unauffindbar sei. Daraus schloss Harkavy, dass Firkowitsch ihre Existenz erfunden hatte, um die Echtheit des Epigraphs der Derbent-Torah zu untermauern.15 Die Wiederauffindung der Rolle im Jahre 1991 erwies die Anschuldigung von Harkavy als ungerechtfertigt. Bis heute sind beide Texte der Epigraphe von Madjalis und Derbent Gegenstand von erneuten Untersuchungen.16←17 | 18→

Sicherlich war Firkowitsch bei der Deutung seiner Funde zugunsten der eigentümlichen karäischen Identität von patriotischem Eifer verleitet. Das versteht sich auch, wenn man das kulturell-politische Umfeld der Zeit, geprägt von Nationalismus und Judenfeindlichkeit, berücksichtigt. Die historische religiöse und kulturelle Trennung der Karäer von den rabbinischen Juden, die Firkowitsch mit seinen Entdeckungen nachweisen wollte, sollte auch den privilegierten Sonderstatus der Karäer rechtfertigen, den ihnen die russischen Behörden seit 1827 zuerkannt hatten.17 Es fehlen jedoch eindeutige Beweise, dass eventuelle Manipulationen der Handschriften und der Grabsteine tatsächlich auf Firkowitsch zurückzuführen sind. Änderungen von Daten und Namen können auch von den Verkäufern eingefügt worden sein, um bessere Preise zu erzielen.18

Wie immer dem auch sei: Selbst seine schärfsten Kritiker haben die Leistung von Firkowitsch als unermüdlichem Sammler und seine Verdienste bei der Entdeckung neuer Quellen anerkannt. Seine Handschriftensammlungen erfordern eine umfassende und unbefangene Untersuchung. Sie sind von außerordentlicher Bedeutung für die Erforschung der karäischen Geschichte und für die biblische Textkritik.

I.2 Die ersten Studien über die babylonische Punktation

Eine der größten Verdienste von Firkowitsch war die Entdeckung von Bibelhandschriften mit der sogenannten babylonischen Punktation. Die Wertvollste von ihnen ist der berühmte Prophetenkodex (B3) datiert auf das Jahr 916, den Firkowitsch 1839 in der Synagoge von Tschufut-Kale gefunden hatte und der „Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer“ überließ.19 Er wurde zusammen mit den anderen Handschriften der Odessa ←18 | 19→Sammlung 1863 der „Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek zu St. Petersburg“ übergeben.

Die Meldung der aufsehenerregenden Entdeckung erschien 1841 in der Zeitschrift „Zion“ mit der Wiedergabe der Verse von Jesaja 49,18–22 aus der Handschrift F132.20 Dies war der Anfang der Untersuchung über den Ursprung der neu entdeckten Vokalisation.

Samuel David Luzzatto machte als Erster auf das Kolophon der Handschrift Nr. 12 aus der Sammlung von De Rossi aufmerksam sowie auf einen anonymen Kommentar zu Pirqe Avot in dem Maazor Vitry. In dem Kolophon wird behauptet, dass der Targum „aus einer Handschrift aus dem Land Babylon, mit den Punkten oben entsprechend der Weise des Landes Assur [d.h. Syriens]“, abgeschrieben und nach der tiberiensischen Punktation geändert wurde.21 In dem Kommentar zu Pirqe Avot werden drei verschiedene Vokalisationssysteme erwähnt:

ולפיכך אין ניקוד טברני דומה לניקוד שלנו ולא שניהם דומים לניקוד ארץ ישראל („Und dem entsprechend gleicht die tiberiensische Punktation unserer Punktation nicht, und die beiden gleichen nicht der Punktation des Landes Israel“).22

In dem Brief an Polak erklärt Luzzatto die neu entdeckte Punktation anhand der Notiz aus dem Kolophon und aus dem Kommentar als „assyrische oder babylonische Punktation“ (הנקוד האשורי או בבלי) und vermutet, dass diese später in Tiberias geändert und umbenannt wurde. Die Behauptung, dass die tiberiensische Punktation der Punktation des Landes Israel nicht gleich sei, bereitete ihm Schwierigkeiten. Befindet sich Tiberias etwa nicht im Land Israel? Da zu dieser Zeit die palästinische Punktation noch unbekannt war, konnte Luzzatto das Problem nicht lösen. Allerdings leitete Luzzatto aus den ihm vorliegenden Daten eine wichtige Schlussfolgerung ab:

ויהי מה, זכינו לדעת בלא שום ספק כי הנקוד לא היה בכל מקום ובכל זמן על התכונה אשר הוא עתה בספרים שלנו, על כן אין לתמוה אם אין טעמי שמות הנגינות מובנים לנו היום.←19 | 20→

(„Wie dem auch sei; wir sind berechtigt, ohne Zweifel anzunehmen, dass die Punktation nicht überall und immer dieselbe Form hatte, wie sie heute in unseren Büchern ist; daher ist es nicht verwunderlich, wenn uns die Bedeutungen der Namen der Betonungen unbekannt sind.“)23

Diese These konnte später von Friedländer bestätigt werden. Im Januar 1895 veröffentlichte Neubauer ein biblisches Fragment, das einige Verse des Propheten Jesaja in einer seltsamen abgekürzten Form (serugin) enthielt.24 Neubauer war nur an der Methode der Abkürzung interessiert und schenkte den Zeichen über den Konsonanten keine Aufmerksamkeit.

Friedländer untersuchte sie zusammen mit weiteren biblischen Fragmenten und erkannte, dass die supralinearen Zeichen ein bis zu diesem Zeitpunkt unbekanntes System von Vokalen und Akzenten darstellten.25 Auf Grund der Erwähnung von drei verschiedenen Punktationsweisen in dem Masor Vitry nannte Friedländer die neu bekanntgewordene Punktation „Palestinian“. Für Friedländer erwähnt der Kommentar zu Pirqe Avot in dem Masor Vitry tatsächlich drei unterschiedliche Punktationen. Wenn man bedenke, dass der Kommentar eine Kompilation aus verschiedenen Texten sei,26 die auch eine babylonische Quelle enthalte, sei mit „unserer Punktation“ die babylonische Punktation, nämlich die Punktation der Heimat des anonymen Autors der zitierten babylonischen Quelle, gemeint. Der babylonische Autor verwende – so Friedländer – „unsere Punktation“ so, wie im babylonischen Talmud der Ausdruck „unser Talmud“ üblich sei, um diesen vom palästinischen Talmud zu unterscheiden.27 Weiterhin weise der Ausdruck „Punktation des Landes Israels“ auf die palästinische Punktation hin, die sich von der tiberiensischen und der babylonischen unterscheide. Die babylonische und die palästinische Punktation seien die ältesten Versuche, systematisch Vokale und Akzente anzugeben. Die spätere tiberiensische Methode sei zuerst parallel zu diesen verwendet worden, habe sie dann aber ersetzt. Nur in Randgebieten fern von dem innovativen tiberiensischen Hauptzentrum habe die babylonische Punktation überleben können. Und auch später, als sich die tiberiensische Methode durchgesetzt und die anderen Punktationsweisen verdrängt habe, ←20 | 21→sei die babylonische Punktation für Targum, Haftarot und Hagiographa weiterhin verwendet worden.28

Diese These von Friedländer und seine Zuordnung der drei Punktationssysteme zu dem Masor Vitry hatte – obwohl nicht unumstritten – Erfolg.29

Die nachfolgende Forschung richtete sich fast ausschließlich zur Untersuchung der Eigentümlichkeit der Vokale und der Akzente und zu ihrem Verhältnis zu der tiberiensischen Masora.

Heinrich Ewald untersuchte die Vokale und Akzente des Textes von Habakuk aus der Hs. B3 der Odessa Sammlung (der Prophetenkodex), die Pinner im Anhang seines Katalogs in Faksimile-Form veröffentlicht hatte. Er kam zu dem Schluss, dass sowohl die „assyrische“ (d. h. babylonische) als auch die tiberiensische Punktation aus einer gemeinsamen älteren Masoretenschule entstamme, welche die wesentlichen Grundsätze der Punktation festgesetzt habe. Das östliche (d. h. babylonische) und westliche (d. h. tiberiensische) ←21 | 22→Punktationssystem hätten daher eine gemeinsame Grundlage und ihre Unterschiede seien mehr formell als substantiell. Das östliche System weise aber einen konsequenteren Charakter auf und habe die ursprünglichen Grundzüge besser behalten als die tiberiensisch-westliche Tradition. Ewald lehnte die These ab; die hebräischen Vokalzeichen seien unter der arabischen Herrschaft entstanden und vom Arabischen stark beeinflusst worden. Da der Prophetenkodex im Jahre 916 verfasst worden sei und das Punktationssystem eine lange Entwicklung durchgemacht habe, datiert Ewald seine Entstehung mindestens 3–4 Jahrhunderte früher.30

Unter diesen ersten Studien über die babylonischen Vokalzeichen des Prophetenkodex war die Abhandlung von Sima Pinsker die umfangreichste. Er verglich den Prophetenkodex mit den anderen damals bekannten babylonischen Handschriften der Odessa Sammlung (d. h.: B15, B 16 nach dem Katalog von Pinner). Laut Pinsker sei es unwahrscheinlich, dass sich die babylonische und die tiberiensische Punktation aus einer älteren gemeinsamen Punktation herausgebildet hätten. Beide hätten sich von früh an unterschiedlich entwickelt. Die babylonische Punktation weise aber ein einfacheres System auf, das auf ihr hohes Alter hinweise. Sie könne der tiberiensischen Punktation als Muster gedient haben. Die tiberiensischen Masoreten hätten aber das System unnötig verkompliziert und fremde Vokalzeichen wie das Segol eingeführt. Schließlich, Ewald widersprechend, setzt Pinsker den Ursprung der babylonischen Punktation auf „nicht früher als im 7. Jahrhundert“ an, zur Zeit des Kalifats.31

Die Thesen von Pinsker wurden unterschiedlich aufgenommen.32

Die Veröffentlichung des Prophetenkodex, der wertvollsten Handschrift von Firkowitschs Entdeckungen, im Jahre 1876 verlieh der Forschung neue Impulse.

Durch die Untersuchung der Vokalzeichen, insbesondere des Schwa-Zeichens, im Kodex Petropolitanus und in anderen Fragmenten mit babylonischem, „kompliziertem Punktationssystem“33, kam Franz Praetorius zum ←22 | 23→Schluss, dass dieses vom Syrischen beeinflusst worden sei und der tiberiensischen Vokalisation als Muster gedient habe. Die „einfache Punktation“ sei als spätere Vereinfachung bei den südarabischen Juden entstanden. Schließlich solle der Anfang des babylonischen Vokalisationssystems vor dem VIII. Jh. n. Chr. angesetzt werden.34

William Wickes interessierte sich vor allem für die Akzentzeichen der Bibel. Eine besondere Abhandlung widmete er den Akzenten im Codex Petropolitanus.35 Wickes lehnt die Bezeichnung „babylonisch“ für die neu entdeckte Punktation ab und zieht es vor, sie „supralineare Punktation“ zu nennen. Er fragt sich, inwiefern diese Punktation „orientalisch“ sei. Die Liste der Lesevarianten der östlichen und westlichen Masoreten (Medina’e Ma‘arba’e) kenne das Segol, das aber in den Handschriften mit supralinearer Punktation nicht vertreten sei. Die östlichen und westlichen Masoreten hätten dieselben Vokalzeichen und würden nur gelegentlich voneinander in ihrer Anwendung abweichen. Ihre Unterschiede seien eher formell als substantiell.36 Es gebe auch keine Notiz von einer besonderen östlichen Punktation in den alten Quellen. Nicht einmal Sa’adia Gaon, der sonst immer sehr genau in seinen Angaben sei, erwähne eine solche Tradition. Da die östliche masoretische Tradition nicht die gleichen Eigentümlichkeiten der supralinearen Punktation aufweisen würde, sei es erwiesen, dass die supralineare Punktation ein spezielles, eigenständiges System abseits der etablierten masoretischen Schulen gewesen sei. Für Wickes war sein Ursprungsgebiet im Osten, wie die Präsenz von östlichen Lesarten und der arabische Einfluss in der Art und Weise des Vermerkens der Vokal- und Akzentzeichen beweise. Jedoch sei das System mit supralinearen Zeichen nicht das, sondern ein orientalisches System. Dieses habe allerdings in enger Verbindung mit dem westlichen („Palestinian“) gestanden, welches ein und dasselbe wie das östliche sei („which ←23 | 24→was one and the same with the Oriental“). Der Beweis liege darin, dass die Namen der Vokal- und Akzentzeichen des westlichen Punktationssystems auch in den Handschriften mit supralinearen Zeichen zu finden seien. Dieser Zusammenhang sei verständlich, wenn man annehme, dass sich die supralineare Punktation aus der östlichen herausgebildet habe. Die supralineare Punktation habe aber nie dieselbe Autorität und dasselbe Ansehen erreicht wie die anderen. Deshalb sei das göttliche Tetragramm entweder mit Qametz versehen oder bleibe unvokalisiert, und nur Targum oder Gebete würden supralinearen Zeichen aufweisen, während der biblische Text mit den üblichen Vokalzeichen geschrieben werde.37

Die westliche („Palestinian“) Punktation sei sicher die älteste. Die Masoreten, die das supralineare System erfunden hätten, hätten versucht, die östlichen und westlichen Traditionen zu vereinfachen und zu harmonisieren. Ihr System sei aber inkohärent und widersprüchlich geblieben. Es sei nur dem Anschein nach eine Innovation. In der Substanz behalte es immer einen westlichen Charakter („Inconsequent and contradictory, this new system is a mere travesty of the Palestinian“). Das supralineare System sei gescheitert und schließlich verdrängt worden.38

Am Ende seiner Abhandlung fügt Wickes eine kurze Bemerkung, fast nebenbei, über die jemenitischen Handschriften hinzu. Diese würden eine veränderte, vereinfachte Form aufweisen. Ihre Akzente würden zwar dem supralinearen System angehören, seien aber unvollständig. Ihr [konsonantischer] Text enthalte aber keine orientalische Lesart. Es handele sich also um einen tiberiensischen („Palestinian“) Text mit supralinearer Punktation.39

Wie wir sehen werden, ist diese These nicht korrekt. Sie hat aber die nachfolgende Forschung stark beeinflusst.

Details

Seiten
522
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631866696
ISBN (ePUB)
9783631866702
ISBN (Hardcover)
9783631866689
DOI
10.3726/b19206
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juli)
Schlagworte
Bibeltext Babylonische Texttradition Textvarianten der Bibel Biblische Philologie Biblische Textkritik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 522 S., 3 Tab.

Biographische Angaben

Gianfranco Miletto (Autor:in)

Gianfranco Miletto promovierte in Altphilologie und Hebraistik an der Universität Turin und ist Privatdozent an der Universität zu Halle-Wittenberg. Zu seinen Publikationen zählen Studien über die biblische Philologie und die jüdische Kultur in Italien zur Zeit der Renaissance und der Gegenreformation. Zur Zeit arbeitet er in Heidelberg am «Abraham Berliner Center» an der Hochschule für Jüdische Studien für ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziertes Forschungsprojekt über biblische Zitate in der rabbinischen Literatur.

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Titel: Textus Babylonicus
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