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„Dialog des Missverständnisses“

Die hermeneutische Relevanz der deutschen Sinologie für die chinesische Wissenschaft

by Li Xuetao (Author)
©2023 Monographs XIV, 450 Pages

Summary

Warum eine chinesische Monographie über deutsche Sinologie ins Deutsche übersetzen? Ist das nicht überflüssig? Mit Dialog des Missverständnisses wendet sich der Verfasser konkret gegen Kritikfurcht, nationalbezogene Engstirnigkeit, und monolithische Kultur- und Deutungsnarrative, indem er die diesen Mechanismen zugrunde liegenden Befürchtungen argumentativ entkräftet und zugleich die darin enthaltenen Gefahren von wissenschaftlicher Stagnation und geistig-kultureller Limitation aufzeigt.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort des Übersetzers
  • Einführung: „Dialog des Missverständnisses“ – Zur hermeneutischen Relevanz der Sinologie
  • Tei1 I: Sinologie im Ausland, Nationalstudien im Inland?
  • Kapitel 1: Ausländische „Sinologie“ und inländische „Nationalstudien“? – Ein Gespräch zwischen Li Xuetao und Fabian Heubel
  • Kapitel 2: Kontakte zwischen deutscher Sinologie und chinesischer Wissenschaft zur Zeit der Republik – Ein Blick auf Peking 1920–1940
  • Tei1 II: Wolfgang Franke: Eine deutsche Biographie als chinesische Historiographie
  • Kapitel 3: „So wird mein Herz nicht alt…“ – Vorwort zur chinesischen Ausgabe von Wolfgang Frankes Im Banne Chinas. Autobiographie eines Sinologen 1912–1950 (Wei Zhongguo zhaomi, 2013)
  • Kapitel 4: Wo mein Herz Frieden findet, da bin ich daheim – Wolfgang Frankes Jahre in China (1937–1950)
  • Kapitel 5: Die „Acht Großen Gassen“ (Ba da hutong) in den Erinnerungen des Sinologen Wolfgang Franke
  • Kapitel 6: Wolfgang Franke und seine Arbeiten zu den chinesischen Steleninschriften in Südostasien
  • Teil III: Richard Wilhelm: Die Rekonstruktion der chinesischen „Seele“?
  • Kapitel 7: Richard Wilhelms deutsche Übersetzung des Yijing (I Ging – das Buch der Wandlungen, 1923)
  • Kapitel 8: Richard Wilhelm und die Familie Zhou aus Jiande
  • Kapietel 9: Die konfuzianische Umsetzung Kant’scher Philosophie – Von der Macht des Gemüths in chinesischer Übersetzung
  • Kapitel 10: Richard Wilhelms deutsche Übersetzung des Mengzi (Mong Dsï, 1916): Hintergründe und Beispiele
  • Fazit und Nachwort des Verfassers zur deutschen Ausgabe
  • Anhang
  • Personenregister
  • Sachregister

←vi | vii→

Vorwort des Übersetzers

Warum eine chinesische Monographie über deutsche Sinologie ins Deutsche übersetzen? Ist das nicht überflüssig? Bei einem genaueren Blick in das Inhaltsverzeichnis und die einzelnen Kapitel scheint sich dieser Verdacht noch zu verhärten: So finden sich in der Vorrede weite Paraphrasen zur deutschen Hermeneutik, oder in Kapitel 2 und 3 ausladende Zitate deutscher Primärquellen – dem chinesischen Leser sind sie in ihrer chinesischen Vorstellung und Übersetzung neu, aber für die deutsche Leserschaft stellt sich hier die Frage, ob man mit der Lektüre der originalen – deutschen – Quellen nicht doch besser bedient wäre.

Dies würde jedoch bedeuten, das Werk auf seinen vordergründigen Informationsgehalt zu reduzieren. Ein genauerer Blick auf die Ambitionen seines Autors Li Xuetao macht deutlich, dass dies den zu Grunde liegenden Absichten des Buches nicht gerecht wird.

Professor Dr. Li Xuetao 李雪濤 (*1965), seit 2008 Professor an der Beijing Foreign Studies University und seit 2018 Dekan der Historischen Fakultät, wurde in Deutschland promoviert und hat sich seither in seiner Forschung primär mit der Geschichte deutsch-chinesischer Beziehungen im akademischen Kontext auseinandergesetzt. Den perspektivischen Rahmen seiner Überlegungen verdankt er dabei seinen philosophischen Studien – so promovierte er über die translatorischen Prozesse des Eingangs des Buddhismus in China,1 und setzte sich seit 1992 ←vii | viii→zunehmend mit der Geschichtsphilosophie Karl Jaspersʼ auseinander.2 Sowohl der Transfer indisch-philosophischer Ideen in den chinesischen Kulturraum, als auch Jaspers’ Konzept der Achsenzeit beschreiben konkrete Beispiele des kreativen Potentials interkultureller Herausforderung. Als Li seinen Schwerpunkt in den folgenden Jahren von den Religionswissenschaften und der Philosophie in Richtung der Geschichtswissenschaft verschob, ist es gerade in Anbetracht des zeitgenössischen globalen politischen Klimas nicht verwunderlich, dass er sich dem strukturellen Ansatz der Globalgeschichte zuwandte. So meinte er 2004 zum Konzept der Achsenzeit:

Die Entdeckung der „Achsenzeit“ eröffnete uns eine völlig neue Perspektive, welche das Hauptaugenmerk auf die Menschheitsgeschichte und den Wert der verschiedenen Menschheitskulturen lenkte. Für die heutige Zeit kann man gemeinhin davon ausgehen, dass sich Weltgeschichte und Weltphilosophie gegenseitig bedingen, und dass diese Gegenseitigkeit ein weites wie reiches Feld bietet. Heute aber gewinnen die darin enthaltenen interkulturellen Prozesse des Austauschs und der Kommunikation zunehmend an Relevanz. Und dies ist auch der Grund, warum Jaspers die „Kommunikation“ zu einem eigenständigen wie bedeutsamen philosophischen Konzept erklärte.3

Und 2021 zum Ansatz der Globalgeschichte bzw. der Entangled History:

Die Weltgeschichte wird verstanden als eine sogenannte Entangled History. In der Tat ist die heutige Erforschung der Weltgeschichte unerlässlich, um die nationalistischen Beschränkungen der Mainstreammethodologie zu durchbrechen. Eine vereinfachte ethnohistorische und eurozentrische Perspektive ist für eine solche Forschung völlig unangebracht. In einem permanenten Prozess der Interaktion sind der betrachtete Gegenstand und die Wahrnehmung desselben wechselseitig konstitutiv.4

Durch die Zitate ausländischer wie chinesischer Gelehrter der Geschichte zieht sich der Aufruf zum offenen Dialog, dem Abbau national beschränkter und dogmatischer Denkweisen wie ein roter Faden durch nahezu sämtliche seiner Publikationen. Dass es sich dabei um mehr als nur themenbezogene Urteile handelt, wird besonders in Artikeln deutlich, die inhaltlich eigentlich nichts mit diesen Ideen zu tun haben. So verfasste Li 2011 beispielsweise einen Artikel zu Beschreibungen des Kölner Doms in Aufzeichnungen chinesischer Gelehrter des 19. Jahrhunderts, welcher in einer Zeitschrift zu chinesischer Kunst- und Kulturwissenschaft erschien.5 Dieser rein deskriptive, geschichtswissenschaftliche Beitrag endete mit folgendem Fazit:

←viii | ix→Hans-Georg Gadamer (1900–2002) nutzte Martin Heideggers (1889–1976) Begriff des „Vorverständnis“ um dieses „Verstehen vor dem Verstehen“ zu beschreiben. Während dieser Schritt im Prozess des Verstehens unvermeidbar ist, so stellt er zugleich eine notwendige Vorstufe dar, die die Vielfalt und Offenheit des Verstehens garantiert. (…) Gadamer entwickelte auf der Basis Heideggers sein hermeneutisches Prinzip des „Verstehensgeschehens,“ der „Horizontverschmelzung“ und des „wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins.“

Betrachten wir die menschliche Kultur als eine Art Gesamtwerk, das lediglich in unterschiedlichen Versionen oder Sprachen vorliegt, so muss jeder Ansatz, den Westen zu verstehen oder zu entschlüsseln, letztlich innerhalb der durch Historizität vorgegebenen Paradigmen von Raum und Zeit erfolgen. Obgleich das Hermeneutische und das Werk innerhalb des Geschehens existiert, befindet es sich zugleich in einem konstanten Prozess des Werdens. Daher befindet sich der Verstehenshorizont einerseits im gegenwärtigen Geschehen, doch ist er zugleich einem beständigen Prozess des Werdens und Wandelns unterworfen. Wenn wir uns also diesen Umstand beschauen, so kann es die seit jeher im Streben nach Erkenntnis proklamierte „einzige Wahrheit“ oder das „dogmatisch Korrekte“ nicht geben – Verstehen definiert sich durch Fluktuation und Vielfalt. Gäbe es keine Vergangenheit, so hätte sich der gegenwärtige Horizont nicht formen können. Somit waren es nicht nur die Gelehrten der späten Qing, die durch das Verstehensgeschehen gebunden waren – auch wir in der heutigen Zeit haben genauso wenig die Möglichkeit, uns außerhalb seiner Grenzen zu denken…6

Weder Gadamer noch Heidegger hatten zuvor Erwähnung gefunden. Stattdessen aber hatte es sich der Autor im Kontext der Reiseberichte des politischen Aktivisten und Denkers Kang Youweis – wohlgemerkt, nachdem er dessen Dombeschreibungen erläutert hatte – nicht nehmen lassen, dessen politische Einschätzungen zu zitieren: „Die Leute unseres Landes können unmöglich keine chinesischen Bücher lesen, können unmöglich nicht in fremde Länder reisen. Sich gegenseitig gegenprüfen und beides kritisch zu diskutieren das ist nichts, was die Menschen bedroht, sondern ihr Ausgang aus der Barbarbei!7

Schauen wir nun zurück auf das vorliegende Werk, so wird schnell deutlich, dass sämtliche der gebotenen Aufsätze und Abhandlungen der gleichen Argumentation dienen.

So bildet der erste Beitrag, die „Vorrede,“ das geistige und strukturelle Fundament der Monographie. Während Li hier inhaltlich die hermeneutische Methode des Verstehens nach Gadamer und Heidegger auf die interkulturelle Begegnung überträgt, nutzt er diesen Ansatz zugleich zur Entstigmatisierung von gemeinhin als bedrohlich empfundenen Begegnungsmechanismen (das Vorurteil, ←ix | x→die Ketzerei) und unterstreicht deren kreatives Potential. In der Hervorhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens wird das monolithische Absolut einer allgemeingültigen Deutungshoheit als ahistorisch dekonstruiert, wodurch die betrachteten Phänomene im epistemologischen Wandel notgedrungen der beständigen Neubewertung unterworfen sind. Doch anstatt sich dadurch in seinem eigenen (Welt-)Verständnis bedroht zu sehen, unterstreicht Li im Einklang mit Denkern wie Kang Youwei die darin enthaltene Chance auf gemeinsames Wachstum – von einem „Fortschritt der gesamten Menschheitsgeschichte“ ist bei ihm die (zugegeben wohl etwas idealistisch gedachte) Rede. Dieser „Fortschritt“ im Verstehensprozess funktioniert reziprok: aus dem Eigenen heraus wird das Andere betrachtet. In Anwendung des Eigenen wird das Andere also neu kontextualisiert, wodurch ein neuer Verstehensansatz für das Andere entsteht. Gleichzeitig schärfen sich in dieser Anwendung die Kontraste zum Eigenen, sodass ein neuer Blick auf eben das Eigene ermöglicht wird – Anderes und Eigenes wird von beiden Seiten neu gesehen, hinterfragt, diskutiert. Dies ist die absolute Bedingung geisteswissenschaftlicher, zukunftsorientierter Arbeit: „Ohne frische wissenschaftliche Blicke wären sinologische Texte bedeutungslos. (…) Wenn die gegenwärtige chinesische Wissenschaft nicht die Forschungsmodelle modernen wissenschaftlichen Denkens anwendet, sich nicht in das Problembewusstsein der Gegenwart integriert, so kann und wird sie nicht überleben.“

Sowohl das bereits benannte politische Klima als Lis Kommentare zum Tenor in der wissenschaftlichen Welt machen deutlich, dass eine solche Bereitschaft zum offenen kulturellen und akademischen Dialog alles andere als die Norm ist. Schon in seiner Vorrede gesteht er ein: „Viele sinologische Texte, Persönlichkeiten und Phänomene besitzen im Kontext der chinesischen Tradition eine einheitlich standardisierte Deutung,“ oder „Chinesische Wissenschaftler, die sich mit Feldern wie chinesischer Geschichte, Literatur oder Philosophie beschäftigen, neigen dazu, einige allgemeine Irrtümer ausländischer Sinologen zum Anlass zu nehmen, sich diesem interkulturellen Ansatz gänzlich zu verschließen.“

Die hier angesprochene Spannung zwischen In- und Ausland ist das Thema von Kapitel 1, das somit nach der strukturellen Einrahmung der Vorrede die Natur des Problems – und damit implizit, das Ziel von Lis Kritik – behandelt. Während inhaltlich im Gespräch mit Fabian Heubel die Entstehung und die aktuelle Debatte im Fach skizziert werden, werden anhand des Beispiels der Dispute von Sinologie und Nationalstudien die ideologisch bedingten Probleme deutlich. „Traumgebilde einer reinen Kultur“ oder „Narrative normativer Aussagekraft“ stehen dem offenen Dialog und damit der zukunftsorientierten, freien Entfaltung der Wissenschaft entgegen. Dass Li mit seiner Kritik nicht nur auf die spezifische ←x | xi→Situation der Sinologie abzielt, wird im zweiten Teil des Kapitels deutlich. In seinem Abriss der Geschichte der Sinologie in China in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden konkrete Fälle beschrieben, in denen die deutschen Sinologen in anderen Fächern in China wirkten und damit das aktuelle, moderne Bildungssystem mit konstituierten. Als solches bietet der historische Überblick einerseits ein Beispiel für die Chancen, die einem die Kooperation bietet, als zugleich den historischen Nachweis der intrinsischen Notwendigkeit internationaler Diskussion bei der Entwicklung der Wissenschaften sowie der multikulturellen Grundstruktur des modernen Chinas. Dies wird mit entsprechenden Zitaten renommierter chinesischer Denker – wie etwa Cai Yuanpei („Freies Denken – allumfassende Aufgeschlossenheit!“) – legitimierend untermauert.

So wendet sich Li in seinen Texten konkret gegen potentielle Befürchtungen seitens national, konservativ oder ethnozentrisch eingestellter Denker. Seine Einbindungen von beipflichtenden Zitaten anerkannter Persönlichkeiten der modernen Geschichte (Kang Youwei und Cai Yuanpei gelten beide als treibende Kräfte in der Entstehung des modernen chinesischen Staates und der Behauptung der chinesischen Kultur) wirken als besänftigende Antworten auf implizite Vorwürfe einer Abkehr oder Verlusts kultureller Identität. In diesem Kontext findet sich in Kapitel 2 wiederholt der Hinweis, dass der themengebende Wolfgang Franke, trotz seiner Hinwendung zur chinesischen Kultur „seines eigenen, individuellen Standpunktes nicht verlustig gegangen“ sei. In der Argumentation des Abschnitts scheinbar ein wenig aus dem Zusammenhang, wird die Bewandtnis im übergeordneten Rahmen von Lis Kritik deutlich: die Anerkennung einer anderen Kultur bedeutet nicht eine gleichzeitige Abwendung von oder gar ein Verlust der eigenen Wurzeln. Vielmehr liegt hier der Kern des Wertpotentials – die Möglichkeit der Kombination an sich bis dato fremder Ideen. Und indem Li die internationalen Aspekte des modernen Chinas historisch aufarbeitet, stellt er dem nationalbezogenen Denken die Identität Chinas als von Natur aus multikulturellem und globalem Prozess gegenüber.

Während Kapitel 2 und 3 inhaltlich also Leben und Werk von zwei einflussreichen deutschen Sinologen vorstellen, wirken sie strukturell zugleich als argumentative Beispiele für Lis Standpunkt. So gelang es dem Akademiker Wolfgang Franke durch seine deutsche universitäre Ausbildung den Wert chinesischer Inschriften in Südostasien zu entdecken, und dem Missionar Richard Wilhelm durch seinen theologischen Hintergrund die orakelhafte Tiefe des Buches der Wandlungen einem breiten deutschen Publikum zugänglich zu machen. Beide Leistungen wirken sich in der europäischen Sinologie als auch der chinesischen Wissenschaft teilweise noch bis heute aus.

←xi | xii→Mit Dialog des Missverständnisses wendet sich der Verfasser also konkret gegen Kritikfurcht, nationalbezogene Engstirnigkeit, und monolithische Kultur- und Deutungsnarrative, indem er die diesen Mechanismen zugrunde liegenden Befürchtungen argumentativ entkräftet und zugleich die darin enthaltenen Gefahren von wissenschaftlicher Stagnation und geistig-kultureller Limitation aufzeigt. Stattdessen fordert er eben jenen titelgebenden Dialog, der geprägt von unterschiedlichen Perspektiven, Offenheit und kritischem Geist, letztlich zu neuen Blickwinkeln beider Seiten führt. Und auch wenn es im vorliegenden Werk bereits ersichtlich ist, so habe ich während meiner Jahre an seinem Institut für Globalgeschichte selbst miterleben können, dass dieser warnende Aufruf nicht nur an die chinesische akademische Welt gerichtet ist. Globalgeschichte ist immer auch Zeitgeschichte.

Kommen wir nun zurück auf die Anfangsfrage, so wird klar, dass wir es hier mit einem Fall zu tun haben, der in der Translationswissenschaft mit dem Begriff des „Funktionswechsels“8 beschrieben wird. In seinem chinesischen Werk richtet sich Li an die chinesische akademische Leserschaft, und nutzt die Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Sinologie, um zugleich über aktuelle bedenkliche Entwicklungen in der chinesischen Wissenschaft und Gesellschaft aufzuklären. Der deutsche Band hingegen wird somit zum Zeugnis aktueller Vorgänge in der globalen Sinologie. Er gewährt dem deutschsprachigen Leser Einblick in die zeitgenössischen Probleme und Diskurse, denen sich ein Kollege im China des 21. Jahrhunderts gegenübersieht, und mit welchen Mitteln er diesen zu begegnen sucht. Als Beitrag zur Geschichte der internationalen Sinologie ist der inhaltliche Protagonist der deutschen Ausgabe damit kein deutscher, sondern der chinesische Sinologe Li Xuetao.

Was nun den konkreten Übersetzungsprozess betrifft, so wurde diesem Skopos angemessen eine möglichst große Nähe zur Stimme und Intention des Autors angestrebt. Referenzen und Kommentare wurden nur bei absoluter Notwendigkeit angefügt („Anm. d. Verf.“ verweist auf durch den Verfasser im Ausgangstext angebrachte Kommentare, „Anm. d. Übers.“ auf neue, durch den deutschen Übersetzer hinzugefügte Anmerkungen), die vom Autor explizit bevorzugte persönliche Note wurde betont und ein entweder eher umgangssprachlicher oder fachlicher Ton je nach Duktus des chinesischen Beitrags gewählt. Die mannigfaltigen Wiederholungen sind der Natur des Sammelbandes geschuldet und so auch im Originaltext zu finden – hier lag das Hauptaugenmerk auf Kongruenz. Ein Sonderfall stellt Lis häufig stark lobender Ton dar. Im chinesischen (akademischen) Schreiben gilt dies als Ausdruck höflichen und gehobenen Stils, und wird daher im Fall einer deutschen Fachübersetzung zumeist ←xii | xiii→abgemildert oder gar völlig entfernt. Da das Lob der ausländischen Sinologie in dem vorliegenden Fall jedoch Teil der argumentativen Strategie des Autors ist (i.e. der Legitimation der Arbeit der ausländischen Kollegen und damit der Wegbereitung zum offenen Dialog dient), wurde sich für einen weitgehenden Erhalt des lobenden Tons entschieden. Was schlussendlich die mannigfaltigen Zitate aus der chinesischen Literatur- und Geistesgeschichte angehen, so wurden, wenn verfügbar, bereits existierende deutsche oder englische Übersetzungen herangezogen und die Referenzen entsprechend angeglichen. Leider ließen sich aufgrund der Corona-Situation nicht immer alle gewünschten Quellen wie geplant zu Rate ziehen, sodass entsprechende Kompromisse eingegangen werden mussten. Bei allen Verweisen auf chinesische Quellen wurden die Zitate selbst übersetzt.

Sabine Weber

Brühl, den 1. Oktober 2021

Anmerkungen

←xiv | 1→

Einführung: „Dialog des Missverständnisses“ – Zur hermeneutischen Relevanz der Sinologie

Eine Annäherung aus geschichtlicher Perspektive

Im Jahr 2000 publizierte der chinesische Akademiker und Deutschlandreisende Li Wenchao 李文潮 (1957–) sein Werk Die christliche China-Mission im 17. Jahrhundert. Verständnis, Unverständnis, Missverständnis,1 in welchem er mit genau diesen drei Begriffen die Vorgänge der frühen Missionsbegegnung charakterisierte. Da das Bewusstsein einer Diversität des Verstehens eine der wichtigsten Eigenschaften moderner Wissenschaft darstellt, gehen wir im Allgemeinen davon aus, dass ein vollkommenes Verständnis von dem, was wir das Andere nennen, nicht realisiert werden kann. Gerade in einer Anfangsphase wie dem 17. Jahrhundert, als sich westliche und chinesische Kulturen noch beschnupperten, mussten unzählige „Unverständnisse“ und „Missverständnisse“ die Folge der großen Unterschiede in Bereichen Kultur, Tradition, usw. sein. Das war völlig selbstverständlich. Damals jedoch erhofften sich noch Gelehrte beider Seiten – ganz gleich ob nun jesuitische oder chinesische – dass das Gegenüber einen selbst zur Gänze zu begreifen vermöge. So fand zwischen den jesuitischen Missionaren wie Matteo Ricci (1552–1610) und den chinesischen Gelehrten zwar eine „Begegnung“ statt, doch war man niemals in der Lage, einen echten „Dialog“ herzustellen. Riccis Die wahre Lehre über den Herrn des Himmels ←1 | 2→(Tianzhu Shiyi 天主實義, 1603) verbildlicht die Bemühungen, einen solchen Dialog zwischen chinesischen und westlichen Gelehrten aufzubauen, indem es mit den „Missverständnissen“ der chinesischen Bildungselite in Bezug auf den Katholizismus aufzuräumen suchte. Umgekehrt strebte man auch von der anderen Seite den „Dialog“ an. Im Bereich des chinesischen Buddhismus beispielsweise, waren es der Laie Li Ruzhen 李汝禎 (Lebensdaten unbekannt) oder der Xuelang-Abt Sanhuai 三淮 (1545–1608) der Huayan-Schule, welche versuchten, den Missionaren den chinesischen Buddhismus begreiflich zu machen. Doch da man keinerlei Basis für einen solchen Dialog fand, wurde jede hoffnungsvolle Bemühung, dass das Gegenüber einen selbst verstehen könnte, letztlich aufgegeben.2 Matteo Ricci war der festen Überzeugung, dass die christliche Lehre eine universale und unveränderliche Wahrheit darstellte. Diese Wahrheit war von der Wandelbarkeit der Dimensionen Zeit und Raum unabhängig. Folglich vertrat er die Ansicht, dass die Chinesen – sobald sie sich einmal dem Christentum zugewandt hätten – ihre eigenen Irrtümer erkennen würden. Außerdem dachte er, dass die Geschichte des Christentums viel älter sei als die des Buddhismus, und dass daher die buddhistischen Konzepte von „Hölle“ oder „Paradies“ nichts weiter als ein Abklatsch der christlichen Wahrheiten seien. Und dass er es letztendlich grundlegend ablehnte, den Buddhismus als eine eigenständige Religion anzuerkennen, ist wohl auf seinen Eifer und Kalkül als christlicher Missionar zurückzuführen. Im dritten Abschnitt seines Die wahre Lehre über den Herrn des Himmels schrieb er:

Der Katholizismus ist eine alte Lehre. Die buddhistischen Völker im Westen müssen seine Worte gehört [und diese] gestohlen haben! Wenn jene, die nur danach trachten ihre eigenen persönlichen Lehren zu verbreiten, nicht auch zwei oder drei wahre Worte daruntermischten, wer würde sie dann glauben?! Die Buddhisten haben die Konzepte von Gott, Paradies und Hölle entlehnt, um damit ihre eigenen ketzerischen Lehren zu verbreiten. Ich verbreite die wahre Lehre – wie könnte ich mich da abkehren und nicht [davon] sprechen? Als die Buddhisten noch nicht erschienen waren, da war bei den Katholiken bereits die Rede davon!3

In seinem De Christiana Expeditione apud Sinas Suscepta ab Societate Iesu (1615) stellte er fest, dass der Buddhismus präzise im Jahr 65 n. Chr. (im 8. Jahr der Yongping-Ära, zur Zeit Kaisers Ming der Östlichen Han) aus Indien nach China eingewandert war. Doch geschah es ebenfalls genau zu dieser Zeit, dass auch Bartholomäus im nördlichen Indien (in der Gegend des heutigen Hindustan) und Thomas im südlichen Indien die Gute Botschaft predigten. Ricci folgerte ←2 | 3→daraus, dass „[unabhängig davon], ob dies Irrtümer seitens der Evangelisten waren, oder aber [ob dies das Resultat] einer Feindlichkeit war, welche der Guten Botschaft von den Bewohnern der Länder, in die sie kamen, entgegengebracht wurde – letztlich erhielten die Chinesen ein korrumpiertes Produkt, und nicht die Wahrheit, nach der sie strebten.“4 Hieran sieht man sehr deutlich, dass Matteo Ricci seine Mission darin sah, die „wahre“ Bedeutung des Christentums in China wiederherzustellen.5

Hermeneutik, Sinologie und die Kunst des Dialogs

Beschaut man sich den Begriff „Hermeneutik,“ so erkennt man, dass es sich dabei epistemologisch nicht um eine Lehre („-logie“), sondern um eine angewandte Kunst oder Praxis („-ik“) handelt. Mit anderen Worten, sie bezeichnet die angewandte Kunst des Verstehens – eine Beschreibung, die genau der Tätigkeit der ausländischen Sinologie entspricht. Westliche sinologische Forschung an sich umfasst eben eine solche praktische Kunst der Sprachbegegnung und -wandlung. Hans-Georg Gadamer (1900–2002) war der Ansicht, dass die Hermeneutik eine universale Natur besäße, da letztlich alles Seiende Gegenstand der Hermeneutik sei. In seinem Wahrheit und Methode stellte er fest:

Ich gehe vielmehr davon aus, daß die historischen Geisteswissenschaften, wie sie aus der deutschen Romantik hervorgingen und sich mit dem Geist der modernen Wissenschaft durchdrangen, ein humanistisches Erbe verwalten, das sie gegenüber allen anderen Arten moderner Forschung auszeichnet und in die Nähe ganz andersartiger außerwissenschaftlicher Erfahrungen, insbesondere der Kunst, bringt.6

Dies ist natürlich auch auf die Sinologie oder die Chinastudien anwendbar. Denn tatsächlich sind im Fach der Sinologie die philosophischen und historischen Erfahrungen extrem eng miteinander verwoben. Und diese zählen eindeutig zu der Art wahrer Erfahrungen, die sich mit den Mitteln und Methoden der Naturwissenschaften nicht verifizieren lassen.

Dazu meinte Wolfgang Kubin (1945–):

Details

Pages
XIV, 450
Year
2023
ISBN (PDF)
9781433197109
ISBN (ePUB)
9781433197116
ISBN (Hardcover)
9781433197123
DOI
10.3726/b19703
Language
German
Publication date
2023 (March)
Published
New York, Berlin, Bruxelles, Lausanne, Oxford, 2023. XIV, 450 pp.

Biographical notes

Li Xuetao (Author)

Professor Dr. Li Xuetao, seit 2008 Professor an der Beijing Foreign Studies University und seit 2018 Dekan der Historischen Fakultät, wurde in Deutschland promoviert und hat sich seither in seiner Forschung primär mit der Geschichte deutsch-chinesischer Beziehungen im akademischen Kontext auseinandergesetzt.

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