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Der Amtsermittlungsgrundsatz in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren

Eine systematisierende Untersuchung auf dogmatischer und rechtstatsächlicher Grundlage »de lege lata« und »de lege ferenda«

von Frederik Quitzau (Autor:in)
©2022 Dissertation 282 Seiten

Zusammenfassung

Wie kann in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren der Sachverhalt ermittelt werden? Der Autor beantwortet diese Frage sowohl abstrakt als auch konkret. Dabei erfasst er rechtsdogmatisch und tatsächlich zunächst die Systematik des Amtsermittlungsgrundsatzes in den beiden Verfahren. Darauf aufbauend untersucht der Autor, wie sich die dogmatischen Grundlagen auf die konkreten Ermittlungen auswirken. Im Vordergrund der Betrachtungen steht dabei die Delegation von Ermittlungen durch das Gericht, die der Autor grundsätzlich für zulässig und erforderlich hält. Abschließend unterbreitet der Autor Gesetzgebungsvorschläge, die die zuvor durch den Autor aufgedeckten Lücken im System der Amtsermittlungen schließen sollen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • Inhalt
  • Abbildungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Der Amtsermittlungsgrundsatz – das verfahrensrechtliche Fundament von InsO und StaRUG
  • I. Relevanz für den richterlichen Syllogismus
  • II. Praktische Hürden im Rahmen der Amtsermittlung
  • B. Gegenstand der Untersuchungen
  • I. Eingrenzung der Untersuchungen und Aufbau der Arbeit
  • II. Stand der Forschung
  • III. Gang der Untersuchung
  • § 1 Grundlagen des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • A. Begriffliche Grundlagen des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • I. Amtsermittlungsgrundsatz und synonyme Begriffe
  • II. Verhandlungsgrundsatz und synonyme Begriffe
  • III. Die sachverhaltsrekonstruierenden Grundsätze flankierende Maximen
  • B Dogmatische Grundlagen des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • I. Die Struktur von Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren als Grundlage für die folgenden Betrachtungen
  • 1. Insolvenzverfahren im weiteren Sinne
  • a) Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
  • aa) Erste und überwiegende Ansicht: das Insolvenzverfahren als Zwangsvollstreckungsverfahren und Teil der streitigen Gerichtsbarkeit
  • (1) Wortlaut und Systematik
  • (2) Telos
  • (3) Flankierende Argumente
  • (4) Zwischenergebnis
  • bb) Zweite und gegenteilige Ansicht: das Insolvenzverfahren als Verfahren der nichtstreitigen freiwilligen Gerichtsbarkeit
  • (1) Wortlaut und Systematik
  • (2) Telos (und Historie)
  • (a) Ordnungs- und Regelungscharakter des Insolvenzverfahrens
  • (b) Rechtsfürsorgecharakter des Insolvenzverfahrens
  • cc) Ergebnis
  • 2. Restrukturierungsverfahren
  • 3. Zwischenergebnis
  • II. Normative Begründung der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • 1. Der Amtsermittlungsgrundsatz als Garant der materiellen Wahrheit?
  • 2. Die normative Implikation der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes aus der Zweckgerichtetheit des Insolvenzverfahrens
  • 3. Die normative Implikation der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes aus der Zweckgerichtetheit des Restrukturierungsverfahrens
  • 4. Folgen der normativen Implikation des Amtsermittlungsgrundsatzes aus der Zweckgerichtetheit der Verfahren
  • § 2 Gemeinsame Grundsätze und Unterschiede der amtswegigen Ermittlungen in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren
  • A. Umstände von Bedeutung für das Verfahren
  • I. Umstände
  • II. Bedeutsamkeit der Umstände für das Verfahren
  • 1. Das „Verfahren“
  • a) Insolvenzverfahren
  • b) Besonderheit: Insolvenzplanverfahren der §§ 217 ff. InsO
  • c) Besonderheit: Restschuldbefreiungsverfahren der §§ 286 ff. InsO
  • d) Besonderheit: Verbraucherinsolvenzverfahren der §§ 304 ff. InsO
  • e) Restrukturierungsverfahren
  • 2. „Bedeutung“ für das Verfahren
  • a) Insolvenzverfahren
  • aa) Grundsatz: Erstreckung auf alle Umstände von Bedeutung
  • bb) Einschränkung der Bedeutung durch den Gesetzgeber im Eigenverwaltungsverfahren
  • b) Restrukturierungsverfahren
  • aa) Grundsatz: Erstreckung auf alle Umstände von Bedeutung
  • bb) Einschränkung der Bedeutung durch den Gesetzgeber
  • cc) Bewertung der vom Gesetzgeber gewählten Systematik
  • III. Ergebnis zu den Umständen von Bedeutung für das Verfahren
  • B. Von Amts wegen
  • I. Normadressat: Gericht
  • II. Die Delegation der Ermittlungen durch das Gericht auf einen Ermittler
  • 1. Der „Ermittler“
  • 2. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Delegation
  • a) Amtsermittlung – keine höchstpersönliche Pflicht
  • b) Ermittlung hauptsächlich von Befundtatsachen
  • c) Die Delegation der Ermittlungen – keine unzulässige Chimäre
  • 3. Erforderlichkeit der Delegation von Ermittlungen durch das Gericht auf einen Ermittler
  • a) Das Postulat der Effektivität der Ermittlungen
  • b) Objektivität im Rahmen der Kognition der ermittelten Tatsachen
  • c) Eigene Ermittlungen des Gerichts
  • d) An den Ermittler delegierte Ermittlungen
  • 4. Grenzen der Zulässigkeit der Delegation
  • a) Kernbereich gerichtlicher Amtsermittlungen
  • b) Besonderheit: keine Delegation auf den Ermittler selbst bei Interessenkonflikt
  • 5. Die Unabhängigkeit des Ermittlers als unabdingbare Anforderung im Zuge der Delegation
  • a) Fundierung der Erforderlichkeit der Unabhängigkeit
  • aa) Fundierung in Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG
  • bb) Fundierung in den Zwecken des Verfahrens
  • b) Folgen für die Unabhängigkeit des Ermittlers aus der Erforderlichkeit
  • aa) Maßstäbe für die Unabhängigkeit außerhalb der InsO und des StaRUG
  • (1) Der Maßstab der §§ 41 f. ZPO
  • (a) Analoge Anwendung auf Ermittler, die nicht als Sachverständige bestellt sind
  • (b) Analoge Anwendung auf den Sachverständigen in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren
  • (2) Der Maßstab der §§ 45 und 43a Abs. 4 BRAO
  • (3) Zwischenergebnis
  • bb) Autonome Bestimmung der Unabhängigkeit des Ermittlers
  • (1) Wortsinn
  • (2) Ergänzung um systematische Erwägungen
  • (3) Zwischenergebnis
  • III. Ergebnis zu 2. von Amts wegen
  • C. Ermittlung
  • I. Anlass zur Ermittlung
  • II. Ermittlungsmittel
  • 1. Ermittlungsmittel des Gerichts (Kernbereich)
  • 2. Ermittlungsmittel des Ermittlers
  • III. Ermittlung und Beweis
  • 1. Uneingeschränkte Geltung des Freibeweises
  • a) Insolvenzverfahren
  • b) Restrukturierungsverfahren
  • 2. Beweislast im Kontext des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • a) Objektive Beweislast
  • b) Subjektive Beweislast
  • 3. Beweismaß im Kontext des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • 4. Haupt- und Gegenbeweis im Kontext des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • IV. Grenzen der Ermittlung
  • 1. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • 2. Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit
  • 3. Bindung der Ermittler
  • V. Zusammenfassung der Ergebnisse zu den Ermittlungen
  • § 3 Konkrete Amtsermittlungen in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren
  • A. Ermittlungen im Kernbereich gerichtlicher Ermittlungen
  • I. Ermittlungen im Rahmen der Bestellung des Ermittlers
  • 1. Zuordnung zum Kernbereich gerichtlicher Ermittlungen
  • 2. Ermittlung der Voraussetzungen der §§ 56 InsO, 74 Abs. 1 StaRUG etc.
  • 3. Besonderheit: Hannoveraner Modell
  • a) Inhalt des Hannoveraner Modells
  • b) Bewertung des Hannoveraner Modells
  • aa) Grundsätzliche Einführung eines Punktesystems
  • bb) Konkrete Ausgestaltung
  • cc) Ergebnis
  • 4. Besonderheit: Unabhängigkeit des Ermittlers
  • 5. Besonderheit: Ermittlung bei einem Vorschlag durch Beteiligte der Verfahren
  • a) Fallbeispiel: die Transatlantic Trade GmbH
  • b) Lösung nach der aktuellen Gesetzeslage
  • aa) Lösung nach den §§ 56a Abs. 2, 57 Satz 3 InsO
  • bb) Lösung nach den §§ 74 Abs. 2, 78 Abs. 2 StaRUG
  • cc) Lösung nach § 270d Abs. 2 InsO
  • dd) Ergebnis de lege lata
  • II. Ermittlungen hinsichtlich der Insolvenzmasse durch das Insolvenzgericht
  • 1. Vorüberlegungen
  • 2. Fallbeispiel: Rausche-Seevetal IT GmbH
  • 3. Lösungsansatz
  • a) Lösung im Eröffnungsverfahren
  • b) Lösung im eröffneten Insolvenzverfahren
  • III. Ermittlungen im Rahmen der §§ 97, 98, 101 InsO
  • 1. Fallbeispiel: der flüchtige Herr Mertens
  • 2. Lösungsansätze
  • B. Ermittlungen im Rahmen der Delegation
  • I. Ermittlung der Insolvenzreife bzw. der drohenden Zahlungsunfähigkeit
  • 1. Vorüberlegungen
  • 2. Fallbeispiel: die Nordpower AG
  • 3. Lösungsansätze
  • a) Einsetzen der Ermittlungspflicht
  • aa) Einsetzen mit der Anzeige der Restrukturierungssache?
  • bb) Einsetzen mit Inanspruchnahme von Instrumenten im Sinne des § 29 Abs. 2 StaRUG
  • b) Konkrete Ermittlungen
  • aa) Inhaltliche Reichweite der Amtsermittlungen
  • bb) Konkrete Ausgestaltung der Amtsermittlungen
  • 4. Ermittlung der Insolvenzreife im Insolvenzverfahren
  • II. Ermittlungen des Sonderinsolvenzverwalters
  • 1. Grundsatz: Auflösung punktueller Interessenkonflikte durch den Sonderinsolvenzverwalter
  • 2. Besonderheit: Bremer Modell
  • a) Sachverhalt, der dem Bremer Modell zugrunde liegt
  • b) Vorüberlegungen
  • c) Lösungsansätze auf Grundlage der o.g. gemeinsamen Grundsätze der Amtsermittlung
  • aa) Ermittlungen im Zulassungsverfahren?
  • bb) Ermittlungen im Insolvenzeröffnungsverfahren
  • cc) Ermittlungen im eröffneten Insolvenzverfahren
  • dd) Ergebnis zum Bremer Modell
  • III. Vorprüfungen des Gerichts
  • 1. Gerichtliche Vorprüfung gem. § 231 Abs. 1 InsO
  • a) Berechtigung zu amtswegigen Ermittlungen
  • b) Konkrete Ermittlungen
  • 2. Gerichtliche Vorprüfung gem. §§ 46 ff. StaRUG
  • IV. Ergebnis zu den konkreten Ermittlungen im Rahmen der Delegation
  • C. Originäre Ermittlungen des Ermittlers
  • I. Eigene Auskunftsansprüche des Ermittlers
  • 1. Auskunftsanspruch aus Art. 15 DSGVO (direkt)
  • 2. Auskunftsansprüche aus Bundes- und Landes-IFG
  • II. Auskunftsansprüche, die sich vom Schuldner ableiten
  • 1. Auskunftsanspruch aus Art. 15 DSGVO i.V.m. § 80 Abs. 1 InsO
  • 2. Sonstige Auskunftsansprüche
  • 3. Ableitung der Auskunftsansprüche auch für Ermittler ohne Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis?
  • a) Insolvenzverfahren
  • b) Restrukturierungsverfahren
  • III. „Ermittlung“ bei den Organen der Gläubigerselbstverwaltung und anderen Beteiligten der Verfahren
  • IV. Die Inaugenscheinnahme durch den Ermittler
  • V. Sonstige originäre Ermittlungsmittel und -maßnahmen des Ermittlers
  • § 4 Gesetzgebungsvorschläge für die Verbesserung der Effektivität der Amtsermittlungen in InsO und StaRUG
  • A. Anpassungen des StaRUG de lege ferenda
  • I. Anpassungen im Rahmen der Prüfung der drohenden Zahlungsunfähigkeit/Insolvenzreife
  • 1. Anpassung der §§ 31, 33 StaRUG
  • a) Gesetzestext § 31 StaRUG-Entwurf
  • b) Gesetzestext § 33 StaRUG-Entwurf
  • c) Den Gesetzesänderungen zugrundeliegende Erwägungen
  • 2. Anpassung des § 51 StaRUG
  • a) Gesetzestext § 51 StaRUG-Entwurf
  • b) Den Gesetzesänderungen zugrundeliegende Erwägungen
  • 3. Anpassung des § 60 Abs. 1 StaRUG
  • a) Gesetzestext § 60 StaRUG-Entwurf
  • b) Den Gesetzesänderungen zugrundeliegende Erwägungen
  • 4. Ergebnis zu den Anpassungen des StaRUG im Rahmen der Prüfung der drohenden Zahlungsunfähigkeit
  • II. Anpassung der §§ 74, 78 StaRUG
  • 1. Gesetzestext § 74 StaRUG-Entwurf
  • 2. Gesetzestext § 78 StaRUG-Entwurf
  • 3. Den Gesetzesänderungen zugrundeliegende Erwägungen
  • III. Ergebnis zu den Anpassungen des StaRUG
  • B. Anpassungen der InsO de lege ferenda
  • I. Gesetzestext § 270d InsO-Entwurf
  • II. Der Änderung zugrundeliegende Erwägungen
  • § 5 Schlussteil
  • A. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
  • I. Thesen zu § 1 Grundlagen des Amtsermittlungsgrundsatzes
  • II. Thesen zu § 2 Gemeinsame Grundsätze und Unterschiede der amtswegigen Ermittlungen in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren
  • III. Thesen zu § 3 Konkrete Amtsermittlungen in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren
  • IV. § 4 Gesetzgebungsvorschläge für die Verbesserung der Effektivität der Amtsermittlungen in InsO und StaRUG
  • B. Schlusswort
  • Literaturverzeichnis
  • Register

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Einleitung

A. Der Amtsermittlungsgrundsatz – das verfahrensrechtliche Fundament von InsO und StaRUG

I. Relevanz für den richterlichen Syllogismus

„Bei ihr geht alles den Weg einer richterlichen Untersuchung; man kann sie daher die Untersuchungsmaxime nennen“ – dieser Satz entstammt dem berühmten Werk von Nikolaus Thaddäus Gönner aus dem Jahr 1801.1 In diesem beschreibt Gönner die zwei – nach seiner Vorstellung antonymen – Maximen der Sachverhaltsrekonstruierung, den Amtsermittlungs- und den Verhandlungsgrundsatz.2 Indes stellt sich die Frage, ob der Amtsermittlungsgrundsatz in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren gilt, gar nicht erst. Denn § 5 Abs. 1 InsO und § 39 Abs. 1 StaRUG normieren ausdrücklich die Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes.

Auch als Folge dessen mag man eine fehlende Tradition der Verfahrensgrundsätze im Insolvenz- und Restrukturierungsrecht beklagen.3 Auf der anderen Seite ist seit Inkrafttreten der Konkursordnung im Jahr 18794 der Verfahrensgrundsatz der Amtsermittlung in Konkurs-, Insolvenz- und nunmehr in dieser Tradition auch dem Restrukturierungsverfahren ausdrücklich festgeschrieben.5 Es ist daher nur verständlich, dass sich im Insolvenz- und Restrukturierungsrecht nicht in der Tradition Gönners mit der Frage nach dem Ob der ←23 | 24→Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes auseinandergesetzt wurde und wird. Stattdessen stellt sich im Insolvenz- und Restrukturierungsrecht vielmehr die Frage, welche abstrakten und konkreten Folgerungen sich aus der gesetzgeberischen Entscheidung zugunsten des Amtsermittlungsgrundsatzes für den Rechtsanwender ergeben. Im Insolvenz- und nunmehr auch im Restrukturierungsrecht hat sich die Diskussion daher auf das Konkrete konzentriert und sich damit jedenfalls teilweise von den traditionellen Betrachtungen Gönners entfernt.

Dies macht konkrete Fragestellungen im „Dunstkreis“ des Amtsermittlungsgrundsatzes im Rahmen des Insolvenz- und Restrukturierungsrechts nicht weniger relevant. Im Gegenteil: Die praktischen Auswirkungen konkreter Fragestellungen können nicht überschätzt werden. Die Frage, wie, in welchem Umfang und durch wen die für die Verfahren relevanten Tatsachen ermittelt werden, stellt sich von Anbeginn bis zum Abschluss der Verfahren. Dabei sind die Ermittlungen Grundlage für Entscheidungen, die rechtlich und praktisch erhebliche Auswirkungen auf Rechte und Rechtspositionen der Beteiligten haben können.

Dabei geht es nicht um abstrakte Fragen theoretischer Natur. Fragen der Sachverhaltsermittlung sind kein Selbstzweck. Sie stellen sich stets im Rahmen konkreter Entscheidungen in den Verfahren. Diese Entscheidungen reichen von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Schuldners6 gem. § 27 InsO, über die Beendigung des Verfahrens mit anschließender Erteilung der Restschuldbefreiung im Sinne von § 300 Abs. 1 InsO in Insolvenzverfahren bis hin zu Stabilisierungsanordnungen gem. § 51 Abs. 1 StaRUG und Bestätigungen eines Restrukturierungsplans gem. § 60 Abs. 1 StaRUG in Restrukturierungsverfahren. Durch diese Entscheidungen wird in unterschiedlicher Intensität in hochrangige, mitunter verfassungsrechtlich garantierte Rechte und Rechtspositionen der Verfahrensbeteiligten eingegriffen. Ob, in welcher Art und in welchem Umfang Entscheidungen getroffen werden, ist innerhalb des richterlichen Syllogismus nur auf Grundlage der ermittelten Tatsachen zu entscheiden. Die Fragen der Ermittlung von Tatsachen und der Sachverhaltsrekonstruierung sind daher der verfahrensrechtliche rote Faden, der sich durch das Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren zieht.←24 | 25→

II. Praktische Hürden im Rahmen der Amtsermittlung

Trotz oder gerade aufgrund dieser herausragenden Bedeutung der Ermittlung des Sachverhalts in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren stellt sich vor allem eine praktische Hürde: Insolvenz- und Restrukturierungsgerichte verfügen über keinen eigenen Ermittlungsapparat.7 Damit ist gemeint, dass Richter und Rechtspfleger an Insolvenz- und Restrukturierungsgerichten nicht auf einen eigenen Stab oder eine Behörde zurückgreifen können, die ihnen den Sachverhalt ermittelt und zugänglich macht. Dadurch werden die Gerichte vor die schwierige Bewältigung der Aufgabe gestellt, dass sie einerseits Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen für die Beteiligten zu treffen haben, andererseits jedoch nicht auf einen Ermittlungsapparat zurückgreifen können, der ihnen die adäquate Tatsachengrundlage vermittelt.

Dieser Umstand wird in der Praxis durch die Delegation von Ermittlungen adressiert. Damit ist diejenige Aussage des Amtsermittlungsgrundsatzes angesprochen, die seinen eigentlichen Kern ausmacht: dass Ermittlungen von Amts wegen zu erfolgen haben. Das Konzept der Delegation von Ermittlungen zur Überwindung der vorbeschriebenen praktischen Hürden verdient daher im Folgenden eine besondere Betrachtung.

B. Gegenstand der Untersuchungen

I. Eingrenzung der Untersuchungen und Aufbau der Arbeit

Vornehmliches Anliegen der vorliegenden Arbeit ist insgesamt die Erörterung der Frage, wie Amtsermittlungen in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren abstrakt und konkret durchgeführt werden können. Es versteht sich von selbst, dass nicht zu jeder erdenklichen praktischen Fragestellung im Rahmen der Amtsermittlung Stellung genommen werden kann. Stattdessen soll ein theoretisch-verfahrensrechtliches Konzept entwickelt werden, das der theoretischen Bedeutung des Amtsermittlungsgrundsatzes gerecht wird und gleichzeitig die praktischen Hürden der Amtsermittlung berücksichtigt. Besonders müssen dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen InsO und StaRUG adressiert werden.

Im Rahmen der konkreten Beispiele liegen die Schwerpunkte auf der Prüfung der drohenden Zahlungsunfähigkeit bzw. der Insolvenzreife sowie der Eignung der verschiedenen Amtsträger in den Verfahren.

←25 | 26→Die zentralen Forschungsfragen lauten daher:

  • Welches dogmatische Fundament liegt dem Amtsermittlungsgrundsatz zugrunde?
  • Welche gemeinsamen Grundsätze lassen sich entwickeln? Welche Unterschiede bestehen und warum?
  • Wie wirken sich die gemeinsamen Grundsätze konkret auf die Ermittlungen aus?
  • Welche rechtstatsächlichen Folgen zieht dies bezüglich einzelner Entscheidungen in den Verfahren nach sich?
  • Wie können Unzulänglichkeiten durch den Gesetzgeber behoben werden?

II. Stand der Forschung

Zur Erforschung dieser Fragen kann auf zahlreiche juristische Texte in der insolvenz- und restrukturierungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung zurückgegriffen werden. In den einschlägigen Kommentaren zu § 5 Abs. 1 InsO und § 39 Abs. 1 StaRUG finden sich umfangreiche Ausführungen zum Amtsermittlungsgrundsatz.8 Ferner ist der Amtsermittlungsgrundsatz immer wieder auch Gegenstand von Monografien.9 Hinzu kommt eine große Anzahl von Aufsätzen in den einschlägigen Fachzeitschriften, die zwar nicht immer nur den Amtsermittlungsgrundsatz zum Gegenstand haben, diesen aber häufig anschneiden und so auch hier relevant werden.10 Darüber hinaus trägt die Rechtsprechung maßgeblich zu der (praktischen) Konturierung des ←26 | 27→Amtsermittlungsgrundsatzes bei.11 Dies hat besondere Relevanz bei der Beantwortung konkreter Fragen der Amtsermittlung.

Obschon demnach auf einen umfangreichen wissenschaftlichen Fundus zurückgegriffen werden kann, sind vor allem die folgenden Themen bisher wenig beleuchtet worden: zunächst die vergleichende Untersuchung des Amtsermittlungsgrundsatzes in InsO und StaRUG anhand gemeinsamer Grundsätze. Zudem finden sich nur wenige Betrachtungen, die kohäsiv konkrete Ermittlungen in den Blick nehmen und aufzeigen, was und wie in concreto ermittelt wird. Ebenfalls sind bisher kaum Vorschläge für eine Anpassung des StaRUG im Zusammenhang mit den Amtsermittlungen unterbreitet worden. Vor allem an diesen neuralgischen Punkten soll daher angesetzt werden.

III. Gang der Untersuchung

Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit vom Abstrakten zum Konkreten12 gegliedert.

Im ersten Teil werden die Grundlagen des Amtsermittlungsgrundsatzes erläutert. Begonnen wird mit den begrifflichen Grundlagen. Die Begriffe des Amtsermittlungs- und des Verhandlungsgrundsatzes werden definiert und abgegrenzt. Anschließend werden die dogmatischen Grundlagen des Amtsermittlungsgrundsatzes beleuchtet. Hier wird zunächst die Struktur von Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren untersucht. Diese bildet die Basis für das Verständnis des Amtsermittlungsgrundsatzes. Es folgt eine Betrachtung der normativen Begründung der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes.

Der zweite Teil befasst sich mit den „gemeinsamen Grundsätzen“ der Insolvenz und Restrukturierungsverfahren. Hier sollen InsO und StaRUG hinsichtlich des Amtsermittlungsgrundsatzes systematisiert werden. Die gemeinsamen Grundsätze bilden sich aus „Umständen von Bedeutung für das Verfahren“ (1), die „von Amts wegen“ (2) „ermittelt werden“ (3). Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf das Merkmal „von Amts wegen“ gelegt. Hier wird das Konzept der Delegation13 von Amtsermittlungen durch das Gericht auf einen Ermittler ←27 | 28→beleuchtet. Im Einzelnen ergeben sich trotz der gemeinsamen Grundsätze Unterschiede hinsichtlich Art und Umfang der (zulässigen) Ermittlungen, die ebenfalls genauer betrachtet werden.

Im dritten Teil werden die gemeinsamen Grundsätze anhand ausgewählter Beispiele konkretisiert. Es wird dabei durch Fallbeispiele verdeutlicht, wie sich die gemeinsamen Grundsätze in Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren in concreto auswirken. Dabei zeigt sich an ausgewählten Stellen, dass Amtsermittlungen – vorrangig als Folge entsprechender Bestrebungen des Gesetzgebers – stark eingeschränkt werden. Die Folgen dessen werden anhand von Beispielen verdeutlicht. Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt in den Ermittlungen bezüglich der drohenden Zahlungsunfähigkeit bzw. der Insolvenzreife sowie bezüglich der Eignung der verschiedenen Amtsträger in den Verfahren.

Details

Seiten
282
Erscheinungsjahr
2022
ISBN (PDF)
9783631887479
ISBN (ePUB)
9783631887486
ISBN (Hardcover)
9783631859322
DOI
10.3726/b20132
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (September)
Schlagworte
Effektivitätspostulat Nichtstreitiges Verfahren Zweckorientierung Unabhängigkeit Drohende Zahlungsunfähigkeit Delegation
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 282 S., 11 s/w Abb.

Biographische Angaben

Frederik Quitzau (Autor:in)

Frederik Quitzau studierte Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg. Sein 1. Juristisches Staatsexamen legte er in Hamburg ab. Studiums- und promotionsbegleitend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Wirtschaftsrechtskanzlei in Hamburg tätig.

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