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Hans Falladas letzter Roman «Jeder stirbt für sich allein»

Der Widerstand der ‹kleinen Leute›

von Hans-Peter Rüsing (Autor:in)
©2023 Monographie 554 Seiten

Zusammenfassung

Der Widerstand gegen Hitler hatte es auch nach 1945 schwer – schließlich war deutlich geworden, dass es sehr wohl Handlungsalternativen zum Wegschauen und Mitlaufen gegeben hatte. Auch als mit Beginn des Kalten Krieges in Ostdeutschland der kommunistische Arbeiterwiderstand und in Westdeutschland die nationalkonservative Opposition des ‹20. Juli› verherrlicht wurden, blieb der Widerstand der nicht organisierten ‹kleinen Leute› unbeachtet.
Hans Falladas Roman Jeder stirbt für sich allein stellt sich zu dieser Rezeptionsgeschichte quer. Auf der Basis von Gestapo-Akten im Herbst 1946 geschrieben, erzählt dieser erste Widerstandsroman der Nachkriegszeit die Geschichte eines Berliner Tischlers und seiner Frau, die mit regimekritischen Postkarten zum Widerstand aufrufen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort: Falladas Roman und die Rezeptionsgeschichte des deutschen Widerstandes gegen Hitler
  • 1. „Endlich wieder ein Fallada!“ – Die Entstehungsgeschichte
  • 2. Paul Wieglers Korrekturen
  • 3. Die Gestapoakten und die Widerstandsaktivitäten von Otto und Elise Hampel
  • 4. Falladas Vorwort
  • 5. Das Eingangskapitel: Figuralisierung des Erzählens, Mehrsträngigkeit der Handlung und synthetische Moderne
  • 6. „Den Dummen Sand in die Augen gestreut!“ – Baldur Persickes Rede
  • 7. Baldurs „Arisierungsversuch“, Fromms Rettungsversuch und Frau Rosenthals Sprung aus dem Fenster
  • 8. Der Exzesstäter Karlemann
  • 9. Wege in den Widerstand: Anna und Otto Quangel
  • 10. Die Karten
  • 11. Der Fall „Enno Kluge“, das Problem der „Asozialen“ und die Gestapo
  • 12. Auf der falschen Spur – Der Mythos von der allgegenwärtigen und allmächtigen Gestapo
  • 13. Die Überführung der Quangels
  • 14. Trudel Baumann, Karl Hergesell und die kommunistische Widerstandszelle
  • 15. Der „gute Pastor“ und der Widerstand aus den Kirchen
  • 16. Dr. Reichhardt und die Selbstbehauptung als Widerstand in der Haft
  • 17. Der Niedergang der Familie Persicke
  • 18. Das Ende der Quangels
  • 19. Das Schlusskapitel
  • Siglen
  • Dank
  • Reihenübersicht

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Vorwort: Falladas Roman und die Rezeptionsgeschichte des deutschen Widerstandes gegen Hitler

„Wer sich, aus welchen Motiven auch immer, zum Widerstand gegen das NS-Regime entschloss, wählte die Einsamkeit des Außenseiters und nahm das Unverständnis der Mehrheit auf sich. Das änderte sich auch nach dem Ende des ‚Dritten Reiches‘ nicht gleich.“ Sogar „Stauffenberg und seine Mitverschwörer gegen Hitler mussten lange warten, bis sie (…) als Helden und nicht mehr als Verräter gesehen wurden.“1 „Die geringe Bereitschaft großer Teile der deutschen Öffentlichkeit (…), sich der Erinnerung an die Opposition gegen das NS-Regime zu stellen“2, hatte zahlreiche Gründe. Tatsächlich bewerteten auch nach dem Kriegsende viele Deutsche Widerstand gegen Hitler als Verrat. Schließlich hätte ein erfolgreiches Aufbegehren gegen den obersten Kriegsherrn mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Zusammenbruch der Fronten und damit zur vorzeitigen Kriegsniederlage geführt. Der „Überlebenskampf“3 unter den anarchischen Bedingungen des Alltags nach Kriegsende und die damit verbundene „Fixierung auf die unmittelbare Lebensbewältigung“4 absorbierten die Aufmerksamkeit der meisten Deutschen und ließen für die Retrospektive wenig Raum. Zugleich stellte der Widerstand für die breite Mehrheit der Deutschen eine „moralische Provokation“ dar, machte er doch unmissverständlich klar, dass es sehr wohl eine „Handlungsalternative jenseits von Anpassung und Verstrickung“5 gegeben hatte.

Schließlich zeigten auch die Alliierten wenig Interesse am Widerstand gegen Hitler: Für sie machte der Hinweis auf die „Kollektivschuld“ der Deutschen den Umgang mit den Besiegten deutlich leichter als die Anerkennung eines „anderen Deutschlands“.6 Noch während des Krieges hatten die Alliierten ←9 | 10→den Emissären des deutschen Widerstandes ihre Hilfe versagt, weil sie dem „unconditional surrender“ den Vorzug gaben gegenüber einer Selbstbefreiung der Deutschen. Nach dem Krieg waren sie fassungslos angesichts der Tatsache, dass kaum ein Deutscher nicht im Widerstand gewesen sein wollte.

Mit Beginn des Kalten Krieges erkannten ost- und westdeutsche Politiker die Möglichkeit, mit Hilfe des Widerstandes das jeweils von ihnen favorisierte Gesellschaftssystem zu legitimieren. Während in der sowjetischen Besatzungszone der kommunistische Arbeiterwiderstand verherrlicht wurde, zielte das Interesse in Westdeutschland vornehmlich auf die nationalkonservative Opposition der ‚Männer des 20. Juli‘ und auf die studentische Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“. Der Widerstand der nicht organisierten ‚kleinen Leute‘ blieb weiterhin unbeachtet. Dagegen initiierte in Westdeutschland

die Nachfrage von größeren gesellschaftlichen Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen nach ihrem Anteil am Widerstand Aufarbeitung und Forschungen in großer Zahl (…). Die Historiographie trug dem Legitimationsinteresse gesellschaftlicher Großorganisationen weitgehend Rechnung, welche – um eigene Läuterung bemüht – eine ‚Repräsentationstheorie des Widerstands‘ verfochten, die den Widerstandskampf von einzelnen – damals nicht selten auch in den eigenen Reihen isolierten – Organisationseinheiten, Kleingruppen und Individuen mit der Gesamthaltung sozialer Großverbände in den Jahren 1933–1945 zu identifizieren versuchte. Das Ergebnis war eine Sichtweise, die ‚den Widerstand‘ gegen das NS-Regime in jenen ‚der Kirchen‘, ‚der Gewerkschaften‘ und ‚der Parteien‘ gliederte. Der Widerstand von nicht den Großorganisationen zuzuordnenden Einzelpersonen und Gruppen (…) geriet dadurch lange Zeit – auf Jahre und Jahrzehnte – aus dem Blick.7

Den am Klassenkampf orientierten kommunistischen Kadern in Ostdeutschland galt Geschichte ohnehin als Dissens machtvoller Gruppen und Eliten. „Im Zentrum der DDR-

Faschismus-Theorie“ stand „der Gegensatz von ‚reaktionärstem Finanzkapital‘ und Arbeiterbewegung, die unter kommunistischer Anleitung den Widerstandskampf geführt habe. In dieser reduzierten Perspektive ‚von oben‘, die den Blick vornehmlich auf die KP-Führung und die ökonomische Elite fixierte“8, war für individuellen Widerstand ‚kleiner Leute‘ ←10 | 11→kein Platz. So unterschiedlich in Ost- und Westdeutschland die Sichtweisen auf den Widerstand gegen Hitler auch waren, in einem Punkt stimmten sie überein: „Nicht-organisierte Einzelkämpfer fielen auf beiden Seiten zumeist durch das Gedenk-Raster und waren gleichsam nicht ‚vorgesehen‘.“9

Das änderte sich erst „Anfang der 1980er Jahre“, als in der Auseinandersetzung mit einer Geschichtswissenschaft, „die sich bis dahin hauptsächlich mit der ‚Geschichte von oben‘ befasst hatte“, in der Öffentlichkeit der BRD ein reges alltagsgeschichtliches Interesse entstand und damit „eine ‚Geschichte von unten‘ genannte Bewegung, die auch den ‚Alltag unterm Hakenkreuz‘ einbezog“: „Der Blick auf die ‚kleinen Leute‘ und ihre individuellen Handlungen widerlegte die These von der totalen Gleichschaltung des deutschen Volkes.“10 Gerade der individuelle, nicht organisierte Widerstand der ‚kleinen Leute‘ machte deutlich, dass es auch für diejenigen, die nicht zu den Mächtigen zählten, Alternativen zum Wegschauen und Mitlaufen gegeben hatte. Damit entlarvte gerade diese Form des Widerstandes „die Behauptung der Anspruchslosen, man habe nichts machen können gegen den Terror, als Legende.“11 Und genau deshalb ist wohl in beiden deutschen Staaten der Widerstand der ‚kleinen Leute‘ so lange verdrängt worden.

Zu dieser Rezeptionsgeschichte stellt sich Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ von Anfang an quer. Das im Herbst 1946 geschriebene und im darauffolgenden Jahr posthum publizierte Buch gilt als „der erste Widerstandsroman der Nachkriegszeit“12. Fallada, der sich spätestens 1932 mit seinem Welterfolg „Kleiner Mann – was nun?“ als Spezialist für die Darstellung ‚kleiner Leute‘ auf dem Buchmarkt etabliert hatte, erzählt darin auf der Basis von ←11 | 12→Gestapoakten die Geschichte des Tischlermeisters Otto Quangel und seiner Frau Anna, die – nach dem Tode ihres einzigen Sohnes an der Westfront im Juni 1940 – in Berliner Mietshäusern regimekritische Postkarten ablegen, mit denen sie die Bevölkerung zum Widerstand gegen Hitler aufrufen.

Neben dieser Strategie der Gegenaufklärung thematisiert der Roman eine Vielzahl weiterer Widerstandsformen, die in der Handlung vor allem von Nebenfiguren praktiziert werden. Den sogenannten „Rettungswiderstand“ repräsentiert der Kammergerichtsrat a. D. Fromm, der die Frau Rosenthal, eine ältere Jüdin, bei sich aufnimmt und versteckt, als sie von den Nazis bedrängt wird. Hilfe für Verfolgte leisten auch Anna Schönlein, die verschiedensten Menschen in ihrer Wohnung vorübergehend Zuflucht gewährt, und der „gute Pastor“ Lorenz, der als Gefängnisseelsorger – weit über die Grenzen des ihm Erlaubten hinaus – inhaftierte Regimegegner betreut. Durch Selbstverweigerung opponiert die Briefträgerin Eva Kluge, indem sie aus der Partei austritt und sich nach der Suspendierung von ihrer beruflichen Tätigkeit aufs Land zurückzieht. Der Dirigent Dr. Reichhardt leistet noch in der Haft Widerstand, indem er alles daransetzt, sich nicht aufzugeben und sich – soweit das unter diesen Bedingungen möglich ist – einen Rest eben jenes selbstbestimmten Lebens zu erhalten, für das ihm die Nazis den Prozess machen. Eine Form der Selbstbewahrung ist wohl auch der Freitod der alten Frau Rosenthal, die aus einem Fenster springt, um den Misshandlungen durch einen Gestaposchergen zu entkommen.

Kritisch wird im Roman die kommunistische Widerstandszelle vorgeführt, die von den marxistisch geschulten Untergrundkämpfern Grigoleit und Jensch geleitet wird und in der auch die jungen Kleinbürger Trudel Baumann und Karl Hergesell eine Zeitlang mitarbeiten. Diese Zelle stellt die einzige Widerstandsform im Roman dar, die parteipolitisch organisiert und ideologisch durch ein geschlossenes Weltbild fundiert ist. Gerade die Hilfe für Verfolgte, etwa für die Jüdin Rosenthal, wird in der Romanhandlung spontan geleistet und hat ihren Ursprung in Gerechtigkeitsempfinden, Menschlichkeit und Nächstenliebe. Die Akteure des Widerstands sind – wie das übrige Personal des Romans – vorwiegend Bürger und Kleinbürger. Spektakuläre Widerstandsformen mit Bombenattentat und Militärputsch, welche die Offiziersopposition um Stauffenberg am 20. Juli 1944 schlagartig berühmt machten, fehlen in Falladas Roman. Dieser fokussiert auf den NS-Alltag des (unteren) Mittelstandes, dessen Mitglieder weder Zugang zu Hitler noch Zugriff auf das Militär hatten. Doch gerade dadurch, dass Falladas mehrsträngig erzählter Roman trotz dieser Fokussierung ein breites Panorama verschiedenster Widerstandshandlungen entfaltet, ←12 | 13→wird deutlich, wie zahlreich die Alternativen zum Mitmachen sogar auf Seiten derer waren, die keine außerordentlichen Machtmittel besaßen.

Auch bei der Gestaltung der Täter hat sich Fallada nicht zufällig auf die ‚kleinen Leute‘ konzentriert:

In den ersten Jahren nach dem Krieg waren die Täter auf den unteren Verantwortungsebenen, die die Befehle von höherer Instanz – so meinte man – lediglich ausführten, kaum im Fokus des Interesses von Öffentlichkeit und Strafverfolgungsinstitutionen. Das Bestreben der Alliierten war es, die Verantwortlichen der NS-Führungsebene vor Gericht zu stellen und ihre Verbrechen zu ahnden. (…) Und auch in den Folgejahren zeigte die Nachkriegsgesellschaft wenig Interesse an einer Strafverfolgung, die sich auch der „ganz normalen Männer“ (und Frauen), der zahlreichen „kleinen“ Gehilfen, der unteren Entscheidungsträger und ausführenden Instanzen angenommen hätte. Zum einen war die deutsche Nachkriegsgesellschaft ganz damit beschäftigt, die Folgen des Krieges zu verarbeiten und das Land wieder aufzubauen. Zum anderen wären auf diese Weise Täter in den Blick gekommen, von denen sich die Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr mit dem Verweis auf die – wenigen – Schuldigen „ganz oben“ hätte distanzieren können. Indem über Jahrzehnte nur die Führungsriege des NS-Regimes Gegenstand des öffentlichen Interesses blieb, war es möglich, die eigene Familie, die eigene Berufsgruppe, die eigene Dorfgemeinschaft von jeder Verantwortung freizusprechen und sich möglicher eigener Schuld oder eigenen Versäumnissen nicht zu stellen.13

Auch mit der Darstellung seiner zumeist kleinbürgerlichen Täterfiguren hält Falladas Roman der deutschen Mehrheitsgesellschaft den Spiegel vor: Das Verfolgerensemble mit seinen vielen kleinen Spitzeln, Denunzianten und Parteimitgliedern wird im Roman porträtiert als eine Ansammlung höchst unappetitlicher, moralisch verkommener Gestalten: Kommissar Escherich scheut in seinem grenzenlosen Opportunismus auch vor einem Mord nicht zurück, wenn es darum geht, Unregelmäßigkeiten und mangelnden Erfolg bei der Fahndung nach dem Kartenschreiber zu vertuschen. Sein Vorgesetzter, SS-Obergruppenführer Prall, der sich – offenbar aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend – als „alter Kämpfer“ bei der Gestapo hochgearbeitet hat, liebt Alkoholexzesse und Gewaltorgien, die er an wehrlosen inhaftierten Regimegegnern auslebt. „Der Schnüffler des Kriminalrats Zott“14, die „Ratte Klebs“ (J 438), beklaut bei der Informationsbeschaffung den Parteigenossen Persicke. ←13 | 14→Dieser greift – dem Alkohol verfallen – in die Parteikasse. Seine Tochter, die keine Lust hat, ihren versoffenen Vater zu pflegen, zieht es vor, Aufseherin im Frauen-KZ Ravensbrück zu werden. Der Sohn Baldur, HJ-Führer und stolzer Besucher einer Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt), bedrängt in der Trinkerheilanstalt einen Arzt, seinen Vater als unheilbaren Alkoholiker „abzuspritzen“. Dieses Panoptikum von Widerlingen ist schon vor der Veröffentlichung des Romans von den Verlagsgutachtern gerügt worden. Es hat jedoch eine klare Funktion: Wer sich während des Nationalsozialismus als ‚ganz normaler Deutscher‘ so verhalten hatte, konnte danach nicht mehr alle Schuld auf die Führungsriege abwälzen.

Während der Roman durch seine mehrsträngig erzählte Handlung nicht nur ein breites Panorama unterschiedlichster Widerstandsaktivitäten, sondern auch ein umfassendes Bild von den Verfolgern und ihren Helfern entwirft (sogar der Präsident des Volksgerichtshofes und der Henker der Hinrichtungsstätte Plötzensee treten als Figuren auf), präsentiert er mit Hilfe der Multiperspektive, dem häufig unmerklichen Übergang vom auktorialen zum personalen Erzählen (und umgekehrt) und dem Wechsel verschiedener Personalperspektiven und Formen des personalen Erzählens (erlebte Rede, innerer Monolog), unterschiedlichste Sichtweisen auf den Nationalsozialismus und seine Gegner. Indem in zahlreichen Nebenhandlungssträngen von Figuren erzählt wird, die – wie die Nazi-Familie Persicke oder die „Asozialen“ Enno Kluge und Emil Barkhausen – weder zu den Regimegegnern noch unmittelbar zu den Verfolgungsbehörden gehören, entsteht letztlich ein breit angelegtes literarisches Sittengemälde des nationalsozialistischen Alltags, das zwar auf das untere Segment der NS-Gesellschaft fokussiert, aber – mit Themenfeldern wie der „Arisierung jüdischen Besitzes“, der Arbeitsdienstpflicht für Frauen, der Bonzenwirtschaft in der NSDAP, der „Asozialität“ und der „Euthanasie“ – weit über die Widerstandsthematik hinausgeht. Dass gerade die moralisch höchst zweifelhaften Gedanken der devianten Figuren Enno Kluge und Emil Barkhausen ausführlich in der Personalperspektive präsentiert werden, zeigt, wie sehr auch die Multiperspektive der Gestaltung dieses Sittengemäldes dient.

So lässt sich auch erklären, warum Falladas Roman ab 2009, also über 60 Jahre nach seinem Erscheinen, nicht zuletzt dank der ersten Übersetzung ins Englische zum Weltbestseller avancieren konnte15: Der mehrsträngige und ←14 | 15→multiperspektivische Roman entfaltet spannend, unterhaltsam und vor allem facettenreich Themen, die auch heute noch in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind und die in der Wissenschaft teilweise immer noch als Forschungsdesiderate gelten: den sich zunehmend verschlechternden Alltag der ‚kleinen Leute‘ im „Dritten Reich“ und den Widerstand der „stillen“, „unbesungenen Helden“ gegen das Regime.16

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1. „Endlich wieder ein Fallada!“ – Die Entstehungsgeschichte

Nach der aufreibenden Tätigkeit als Bürgermeister in Feldberg kommt Fallada am 2. September 1945 mit seiner zweiten Frau Ulla, verwitwete Losch, die er am 1. Februar 1945 geheiratet hat, nach Berlin, „um hier einen doppelten Neubeginn zu versuchen, einen privaten und einen beruflichen“17. Vor allem will er wieder schreiben. Um sich auf dem Buchmarkt neu zu orientieren, nimmt er Kontakt auf zu Verlegern, Lektoren und Schriftstellern, mit denen er in der Vergangenheit zusammengearbeitet hat.18 So schreibt er Anfang Oktober eine Karte an Paul Wiegler, den er aus dem Ullstein-Verlag (seit 1937 „Deutscher Verlag“) kannte: Wiegler war dort von 1913 bis 1945 „Leiter der Romanabteilung; Fallada veröffentlichte zwischen 1931 und 1943 in verschiedenen Blättern des Konzerns Geschichten und Romanvorabdrucke.“19 Wiegler kehrte „im Sommer 1945 noch einmal zum Ullstein-Verlag zurück“20, wechselte aber bald darauf als Lektor zum neu gegründeten Aufbau-Verlag. Am 8. Oktober antwortet er Fallada mit einer Einladung zu einem Gespräch im Ullstein-Druckhaus in Berlin-Tempelhof, „und hier (…) sehen sie sich eventuell schon am 9., wahrscheinlich am 10. Oktober wieder. Wiegler weiß, daß Johannes R. Becher nach Falladas Verbleib forscht, und legt seinem Besucher nahe, umgehend bei Becher vorzusprechen.“21

Der aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte Becher war Mitbegründer des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und des Aufbau-Verlags, der – nicht zuletzt mit seiner gleichnamigen Zeitschrift – dem Kulturbund als Publikationsplattform dienen sollte. Am 8. August 1945 wurde Becher zum Präsidenten des Kulturbundes gewählt. Er war damit der einflussreichste deutsche Kulturfunktionär in der sowjetischen Besatzungszone. Ganz im Sinne des anvisierten Ziels einer „demokratischen Erneuerung ←17 | 18→Deutschlands“ stand der Kulturbund keineswegs nur kommunistischen Intellektuellen offen, sondern allen antifaschistischen, demokratisch orientierten Kulturproduzenten: Heimgekehrte Exilanten, ehemalige Widerstandskämpfer und Vertreter der „inneren Emigration“ sollten hier mit Repräsentanten der jüngeren Generation beim Aufbau einer demokratischen deutschen Gesellschaft zusammenarbeiten, statt einen unproduktiven Streit darüber zu führen, wessen Antwort auf den Nationalsozialismus die plausibelste gewesen war. Doch die Sowjets und die meisten der aus dem Moskauer Exil zurückgekehrten deutschen Kommunisten verfolgten andere Ziele:

Zwar hatte die KPD in ihrem Gründungsaufruf vom Juni 1945 erklärt, dass es falsch wäre, „Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen“, und sich stattdessen für die Errichtung „einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“ ausgesprochen. Doch in der Praxis betrieben die kommunistischen Funktionäre um Wilhelm Pieck und Ulbricht genau das Gegenteil. Mithilfe der SMAD [Sowjetische Militäradministration in Deutschland] schalteten sie nach und nach alle konkurrierenden politischen Kräfte aus oder zwangen sie, sich unterzuordnen. Wie der Publizist und frühere KPD-Funktionär Wolfgang Leonhard berichtete, hatte Ulbricht von Anfang an seinen Genossen gegenüber die Direktive ausgegeben: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten.”22

Diese demokratische Fassade hatte einen einfachen Grund: „Solange Deutschland durch Einmütigkeit der Alliierten erfolgreich beherrscht wurde, glaubten die Sowjets an die Chance, Zugang zur Ruhrkohle und zu der hochentwickelten Industrie des deutschen Kernlands zu erhalten.“23 Als sich jedoch mit Beginn des Kalten Krieges genau das immer deutlicher abzeichnete, was die Sowjets um jeden Preis vermeiden wollten: die „Integration der westdeutschen Industriemacht in ein von den USA beherrschtes westliches Kondominium“24, legten die kommunistischen Funktionäre in Deutschland „die bürgerlich-demokratische Larve“25 ab und proklamierten offen die „Diktatur der Arbeiterklasse“. 1948 wurde auch der Kulturbund „auf Linie gebracht“ und wirkte „fortan als Transmissionsriemen der SED“26.

←18 | 19→Als Fallada „frühestens am 10., spätestens am 12.“27 Oktober Becher am Sitz des Kulturbundes in Charlottenburg aufsucht, stellt ihm dieser sofort vielfältige Hilfe in Aussicht: „eine anständige Wohnung“, „einen Lastzug“, um die restlichen „Sachen“ aus Feldberg nach Berlin zu holen, und angemessene „Lebensmittelkarten“28. Becher besorgt Fallada ein Haus in jenem Pankower Villenviertel, das – umzäunt und von Posten bewacht – für die Politprominenz und für hochrangige russische Militärs reserviert war. Vor allem aber versucht er, Fallada wieder ans Schreiben zu bringen, indem er ihm über Heinz Willmann, den Generalsekretär des Kulturbundes, einen entsprechenden Romanstoff zukommen lässt. Willmann erinnert sich 1969:

Es begann mit Akten der Gestapo (…). Wir bekamen sie von Otto Winzer, der damals in Berlin die Verantwortung für Volksbildung und Kultur trug. Es ging darum, Menschen, die den Kampf gegen die Barbarei mit ihrem Leben bezahlten, der Vergessenheit zu entreißen. Schriftsteller sollten gewonnen werden, die aus Dokumenten der Hitler und Henker Menschen entstehen ließen; die Mut geben konnten in den schweren Jahren des Neubeginns.

In der Leitung des Kulturbundes sahen wir die Schriftenbündel durch. Besonders ergriffen war ich von dem Bericht über das Schicksal eines Berliner Arbeiterehepaares, das in den Jahren 1940–1942 allein, ohne Kontakt mit einer Widerstandsgruppe, illegale Briefe, Aufrufe und Pamphlete verbreitet und einen großen Apparat der Gestapo in Bewegung gehalten hatte. Anstoß für die antifaschistische Tätigkeit dieser beiden waren Schmerz und Empörung über den sinnlosen Tod des einzigen Sohnes.29

Hierrüber wollte ich eine Reportage schreiben und sagte das Johannes R. Becher. Der sah mich nachdenklich an und meinte: „Da ist mehr drin als eine Reportage. Du mußt dich jetzt ganz auf Ausbreitung und Festigung unseres Kulturbundes orientieren (…). Das Schreiben überlasse einstweilen den Schriftstellern. Sprich bitte mit Fallada über ←19 | 20→diese Akte. Ich glaube, er ist der Richtige dafür. Gewinne ihn. Er braucht eine Aufgabe.“

Fallada? Natürlich mußte man ihn zum Schreiben bringen, aber gerade mit diesem Thema? Ich hatte Bedenken. Aber Becher gab nicht nach.

Als Generalsekretär des Kulturbundes war ich damals auch für die Leitung des Aufbau-Verlages mit verantwortlich. Fallada hatte Becher versprochen, bald eine größere Sache für den Verlag zu schreiben. Den Vorschlag aber, den ich ihm nun unterbreitete, lehnte er rundweg ab. Widerstandskämpfer sei er nicht gewesen. Er habe sich im großen Strom mittreiben lassen und wolle nicht besser scheinen als andere.

Becher war gar nicht überrascht. Er ließ sich den Hergang des Gespräches genau erzählen und wollte die Argumente hören, mit denen ich versucht hatte, den Schriftsteller zu überzeugen. Dann fragte er, was ich schon von Fallada gelesen hätte. Ich kannte fast alle seine Bücher. Becher wies auf die Eigenheiten des Autors hin; auf die Menschengruppen, in denen er sich besonders auskannte; und darauf, daß er in der Psychologie viel besser Bescheid wußte als in der Politik. Er empfahl mir, die Gestapoakte noch einmal gründlich zu lesen; denn ich sollte Fallada die Menschen, um die es ging, so schildern, als ob ich mit ihnen Tür an Tür gelebt hätte.

So gerüstet, machte ich mich wieder auf den Weg. Als ich Fallada vom Alleingang der beiden Ehepartner, vom Kampf des Vaters und der Mutter gegen die Mörder ihres Sohnes erzählte und er erkannte, hier handelte es sich nicht um politisch geführte Aktionen, nicht um eine zielbewußte kommunistische Widerstandsgruppe, nahm er das Aktenbündel und versprach, es zu lesen.30

In der Tat war Fallada nie Widerstandskämpfer. Er hat den Widerstand gegen die Nazis stets abgelehnt. Die Gründe für diese Haltung erläutert er ausführlich in dem sogenannten „Gefängnistagebuch 1944“, einem autobiografischen Text über sein Leben im „Dritten Reich“, der eine „schonungslose Abrechnung“31 mit den Nazis darstellt und den er heimlich im Gefängnis verfasste, nachdem er – stark alkoholisiert – im Streit mit seiner geschiedenen Frau Anna einen Schuss aus seiner Pistole abgegeben hatte. Der Autor grenzt hier sich und andere Vertreter der sogenannten „inneren Emigration“ deutlich von denen ab, die entweder ins Exil oder in den Widerstand gegangen sind:

Details

Seiten
554
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631882061
ISBN (ePUB)
9783631882078
ISBN (Hardcover)
9783631882054
DOI
10.3726/b20077
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Schlagworte
Entstehungsgeschichte des Romans Gestapo Multiperspektivisches Erzählen „Euthanasie“ in Heilanstalten Holocaust in Osteuropa Mehrsträngiges Erzählen Hitlers „Freudentanz“ Verfolgte Juden Arisierung jüdischen Besitzes Verfolgung „Asozialer“
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 554 S., 3 farb. Abb., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Hans-Peter Rüsing (Autor:in)

Hans-Peter Rüsing studierte Deutsche Philologie, Lateinische Philologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Münster. Dort promovierte er 2002 mit einer Studie zu den nationalistischen Geheimbünden in der Literatur der Weimarer Republik. Geforscht und veröffentlicht hat er u.a. auch zu Franz Kafka, Otto Ludwig und Günther Weisenborn sowie zur Literatur unter dem Nationalsozialismus.

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Titel: Hans Falladas letzter Roman «Jeder stirbt für sich allein»
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