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Sprachkontakt, Bevölkerungsaustausch und Sprachwechsel nach 1945

Am Beispiel von Braunau/Broumov in Böhmen

von Hana Svobodová (Autor:in)
©2024 Dissertation 320 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch beschreibt die allgemeinen und spezifischen sprachlichen Grundlagen der Slawisierung (Böhmisierung) des ehemals überwiegend deutschsprachigen Gebietes in der Tschechischen Republik nach 1945. Am Beispiel von Braunau/Broumov und Umgebung wird untersucht, welche Rolle die Sprache – auch aus kulturhistorischer Perspektive – für das Zusammenleben und die Verständigung zwischen Menschen (hier: zwischen Deutschen und Tschechen) hatte und hat. Der Fokus liegt dabei auf der dialektalen Entwicklung. Die Dialektforschung liefert tiefergehende Informationen über die Menschen und ihre Gemeinschaft, da der Dialekt den Charakter einer Kommunikationsebene mitbestimmt, somit Objekte subjektiver und individueller bezeichnet. Hauptziel ist es, die Bedeutung der Dialektologie für die Erforschung der Sprachkommunikation darzustellen und damit zum Verständnis des Grundphänomens des Sprachkontakts beizutragen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • Gegenstand der Untersuchung
  • Theoretische und methodische Ausgangspositionen
  • Ziele der Arbeit
  • Aufgaben
  • Forschungshypothesen
  • Zur Methode
  • Zur Terminologie
  • Materialien und Quellen
  • Historischer und geografischer Hintergrund
  • Zur deutschen Kolonisation
  • Die geografische Vorstellung der Region
  • Abriss der Geschichte Broumovs
  • Zu den verwendeten Forschungsmethoden
  • Soziolinguistische Faktoren
  • Soziolinguistik
  • Die Herkunft der Neuankömmlinge nach 1945/1946
  • Kontroverse um die dialektale Homogenität
  • Herkunft der Neuankömmlinge in Broumov
  • Weitere soziolinguistische Faktoren
  • Linguistische Grundlagen der dialektologischen Interpretation
  • Linguistische Richtungen
  • Abriss der dialektologischen Differenzierung Böhmens
  • Die nordostböhmische dialektale Untergruppe
  • Der Dialekt in und um Broumov
  • Die tschechischen Dialekte in der Gegenwart
  • Abriss der dialektalen Differenzierung Deutschlands
  • Deutsche Sprache
  • Sprachkontakt im Braunauer Ländchen
  • Die Substrattheorie
  • Definition des Substrats und Superstrats
  • Die Anwendung der Substrattheorie
  • Modell des Substrat- und Superstrat-Verhältnisses
  • Analyse des dialektalen Sprachmaterials
  • Analyse des tschechischen dialektalen Sprachmaterials
  • Dialektales Sprachmaterial
  • Dialektsprecher
  • Die Mundarttexte aus Broumov und Umgebung
  • Dialektale Erscheinungen in und um Broumov
  • Vergleich des Dialektes in und um Broumov mit dem Dialekt in Hlavňov
  • Analyse des deutschen Sprachmaterials
  • Tschechischer Dialekt bei den Deutschen
  • Prinzipien der intersprachlichen Beeinflussung auf dialektaler Ebene
  • Die Beziehung zwischen Sprachsystemen
  • Substrat im heutigen Dialekt in und um Broumov
  • Bewertung der Hypothesen und Ausblick
  • Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse und Bestätigung der Hypothesen
  • Einordnung des Dialektes in die nordostböhmische Untergruppe
  • Homogenität im Dialekt in und um Broumov
  • Einfluss von sprachlichen und nichtsprachlichen Bedingungen
  • Einfluss der deutschen Sprache auf die tschechische Sprache
  • Prognose
  • Anwendung der Thesen für den Schulunterricht
  • Zusammenfassende Betrachtung
  • Anlage Nr. 1 (Textkorpus)
  • Verwendete Abkürzungen
  • Verzeichnis Tabellen
  • Verzeichnis Karten
  • Verzeichnis Abbildungen
  • Literaturverzeichnis und Quellen

1 Einführung

1.1 Gegenstand der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis einer mehrjährigen Beschäftigung mit den allgemeinen und spezifischen sprachlichen Erscheinungen der Slawisierung (Bohemisierung) eines ehemals überwiegend deutschsprachigen Gebiets in Tschechien, konkret in und um die heute tschechisch-sprachige Stadt Broumov. Hier gab es, wie auch in anderen Orten Tschechiens (und der früheren Tschechoslowakei), über Jahrhunderte eine weitgehend konfliktfreie ethnische Interaktion von Deutschen und Tschechen. Die Menschen haben über Generationen in einer Symbiose gelebt, in deren Verlauf spezielle sprachliche Interaktionen ihre Wirkung entfalteten und die Region sprachlich prägten.

Am Beispiel von Broumov und Umgebung wird in der vorliegenden Untersuchung über das Mittel der Sprache, vor allem deren dialektale Entwicklung, dem weitgreifenden kulturhistorischen Zusammenleben und der Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen nachgegangen.

Da die Sprache das wichtigste menschliche Kommunikationsmittel ist, können spezifische sprachliche Merkmale die Tiefe der sozialen Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen, ja sogar ganzen Ethnien, in verschiedenen Lebensbereichen sichtbar machen. Die Erforschung des Dialekts kann im Vergleich zur Hochsprache, die der Normierung und Kodifikation unterliegt, mehr Informationen über die Menschen und ihre Gemeinschaft liefern, weil der Dialekt bestimmte Objekte subjektiver und individueller bezeichnet und weil er den Charakter einer Kommunikationsebene mitbestimmt, die weniger von nationalen Prämissen überlagert ist als die Hochkultur mit ihrer normierten Sprache.

Für die Stadt Broumov und ihre Umgebung sollen beispielhaft allgemeine Determinanten aufgezeigt werden, welche die Entwicklung der Sprache in Abhängigkeit von geografischen, historischen und kulturhistorischen Bedingungen bestimmen. Die so entstandene Alltagssprache wird einer genauen linguistischen Analyse unterzogen. Dem entsprechend beschreibt die vorliegende Publikation den gegenwärtigen Stand der sprachlichen Verhältnisse und erklärt die vorherige Entwicklung.

In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass das Hauptziel der vorgelegten Arbeit nicht eine Herausarbeitung einer im klassischen Sinne aufbereiteten Dialektmonografie ist. Es soll ein Gesamtbild der Sprachsituation im Untersuchungsgebiet aufgezeigt werden, welches zugleich einen Beitrag zur Erforschung des deutsch-tschechischen Sprachkontaktraumes darstellt. Dieses methodologisch spezifische Herangehen könnte auch in ähnlichen Sprachkontaktsituationen modellartig genutzt werden.

1.2 Theoretische und methodische Ausgangspositionen

Im Rahmen dieser Studie werden zunächst die linguistischen Theorien zur tschechischen und deutschen Dialektologie vorgestellt. Im Weiteren folgen dann die Darstellung der praktischen Forschung, deren Analyse und die Zusammenfassung der Ergebnisse.

Ganz am Anfang stehen die grundsätzliche Einführung in die Problematik, die geografische und historische Einordnung sowie die Erläuterungen zur tschechischen und deutschen Sprache, soweit sie hier von Belang sind. Weiterhin werden die Untersuchungen zur Herkunft der Bewohner Broumovs und seiner Umgebung zusammengefasst, sowie die sprachliche Analyse des selbst erhobenen Sprachmaterials zum Dialekt in und um Broumov dargelegt.

Grundlegend für die Wahl der Ortschaft Broumov sind ihre spezifischen historisch-geografischen Bedingungen, die sich dafür eignen, modellhaft für die sprachliche Analyse ähnlicher Orte und Situationen herangezogen zu werden. Die vor Ort durchgeführten Forschungen erfolgten in zwei aufeinander aufbauenden Etappen.1 In der ersten Etappe wurden die Herkunftsorte der heutigen Bevölkerung von Broumov und seiner Umgebung recherchiert. Dies erfolgte mittels Fragebögen, die von den Interviewpartnern ausgefüllt wurden, sowie durch Archivrecherchen im Stadtamt Broumov. In der zweiten Etappe wurde die Sprache der Bevölkerung detailliert untersucht. Zuerst wurden Interviews geführt, dann ein Fragebogen zur Sprache der Befragten (basierend auf dem Fragebogen Nr. 162 ÚJČ AV ČR) ausgefüllt. Am Ende stand die Sprachanalyse, welche durch die Befragung in Etappe 1 auch nach dem Herkunftsort möglich war. Außerdem war dank der Analyse die Zuordnung der Sprache der verschiedenen Probanden zu einer dialektalen Untergruppe möglich. Parallel erfolgte das Studium einer Vielzahl von Literatur und anderen Quellen.

Aus diesen Untersuchungen wurde folgende generelle These entwickelt, die im Folgenden überprüft werden soll: Ungeachtet der seit Jahrzehnten wirksamen Ausgleichsprozesse und der damit verbundenen Nivellierung der Sprache kann die wissenschaftliche Analyse der Sprache – speziell der gesprochenen Sprache – im Untersuchungsort Spuren der Interaktion mit anderen Sprachen nachweisen. Darüber hinaus ist es möglich festzustellen, dass die in der Sprachsituation in Broumov und Umgebung sprachlich zur Geltung kommenden Wirkmechanismen als ein konkretes Beispiel der sich heute auf dem ganzen tschechischen Sprachgebiet (besonders in den gesprochenen Varietäten) realisierenden Entwicklungsprozesse zu verstehen sind.

1.3 Ziele der Arbeit

In der vorliegenden Arbeit werden auf der Grundlage von Hypothesen, deren Gültigkeit zu prüfen war, die folgenden Ziele angestrebt:

Ziel 1 – Bestätigung und Zuordnung des Dialekts:

Die nach 1945/1946 in und um Broumov gesprochene Sprache soll nach Dialektmerkmalen erforscht und einer dialektalen Untergruppe der tschechischen Dialekte zugeordnet werden.

Ziel 2 – Bestätigung der ethnischen Interaktionen

Angesichts der politischen Diskussionen, die z.B. durch die „Beneš-Dekrete“3 und die damit verbundenen Schicksale verschiedener Volksgruppen über Jahrzehnte bestimmt werden, scheint es nahezu in Vergessenheit geraten zu sein, dass es über Jahrhunderte zuvor eine weitgehend konfliktfreie ethnische und sprachliche Interaktion zwischen Tschechen und Deutschen gab. Diese soll mit der vorliegenden Arbeit nachgewiesen werden.

Ziel 3 – Erforschung sprachlicher und nichtsprachlicher Bedingungen auf dem Gebiet des historischen Sprachkontakts und seiner Transformation

Ziel dieser Arbeit ist es auch, die Bedeutung der Dialektologie für das Studium der Sprachkommunikation zu belegen und so zum Verständnis des grundlegenden Phänomens des Sprachkontakts beizutragen. Dies bedeutet, dass in dem kontaktologischen Studium die methodologischen Prinzipien der Dialektografie angewendet werden müssen, die die sprachlichen Eigenschaften der Kommunikation einschränken. Sie müssen um die Prinzipien der Dialektologie erweitert werden, die die funktionalen Aspekte der Dialekte in sprachlichen, kommunikativen und anderen nichtsprachlichen Kontexten umfassen, d. h. die Anwendung der theoretischen Prinzipien des sprachlichen Strukturalismus in der Kontaktologie ist hier besonders wichtig.

Ziel 4 – Nachweis von heutigen deutschen Sprachresten

Die Sprachreste einer vormals gesprochenen, offiziell aber fast nicht mehr existenten deutschen Sprache in der aktuell gesprochenen Sprache in und um Broumov sollen nachgewiesen werden. Die Begründung für die Wahl dieses Zieles besteht darin, dass die Situation in Broumov und Umgebung, wie überhaupt in der Tschechischen Republik, anders ist als in Staaten, in denen eine deutsche Minderheit vorhanden und deren Sprache staatlich anerkannt ist. Die deutsche Minderheit entwickelt zwar im Bereich von Kultur und Publizistik eine beachtenswerte Tätigkeit, aber was die deutsche Sprache in der Tschechischen Republik betrifft, gehen ihre Verbreitung und Funktionen im öffentlichen Leben überall zurück. Ihre Kommunikationsbereiche sind in erster Linie auf die Familienkreise beschränkt. Die einstigen kompakten deutschen Sprachinseln sind aus historisch-politischen Gründen nicht mehr Bestandteil der Sprachsituation in der Tschechischen Republik.

1.4 Aufgaben

Neben den linguistischen Theorien und Kommentaren zu Dialektologie und Entstehung von Substrat- und Superstrat-Verhältnissen, die sich auf die hier vorgestellten Forschungsergebnisse stützen, waren im Rahmen der Studie folgende Aufgaben zu erfüllen:

Aufgabe 1

Erforderlich ist die Analyse der gesprochenen Sprache und anderer Quellen. Grundlage bilden die Forschungen der Jahre 1996–1997 und 1998–2006.4 Das gewonnene Material soll unter anderem nach Bevölkerungsgruppen systematisiert und zur Beantwortung weiterer Fragen der Sprachentwicklung bzw. -veränderung herangezogen werden.

Für die Beurteilung der Sprachsituation in Broumov und Umgebung und in Bezug auf die Frage nach ihrer dialektalen Homogenität oder Heterogenität ist es wichtig, zu beachten, dass sich die Situation ab dem Jahr 1946 durch die neuen sozio-politischen Bedingungen deutlich von den Vorjahren unterschiedet und zu einem stark veränderten Bevölkerungsbild führte.

Aufgabe 2

Mittels einer strikt an wissenschaftlichen Kriterien ausgerichteten Untersuchung der Sprache, konkret der sich nach 1945/1946 durchsetzenden dialektalen Entwicklung, soll den Spuren des weitgreifenden kulturhistorisch wirksamen Zusammenlebens und der Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen nachgegangen werden.

Aufgabe 2.1

Der Konflikt zwischen der innersprachlichen Entwicklung des Substrats und extralinguistischen Faktoren soll gesondert herausgestellt werden. Die Aufgabe ist die Gegenüberstellung des Einflusses bestimmter gesellschaftlich-politischer und gruppenspezifischer Rahmenbedingungen, individueller historisch-politischer Erfahrungen und Überzeugungen sowie ethnisch-sprachlicher Distanzen der Sprachträger, die zeitabhängig, d.h. nachweisbar bei verschiedenen Generationen, gewissen Veränderungen unterliegen dürften.

Aufgabe 2.2

Die Auswirkung der spezifischen geografischen Lage in einem von Bergen umgebenen Kessel und die dadurch gegebene Begünstigung der Entwicklung eines eigenständigen deutschen „Braunauer“ Dialekts sollen in dem betrachteten Gebiet untersucht werden.

Aufgabe 2.3

Weiterhin ist die Annäherung der Sprachsituation nach 1945/1946 an die tschechische Hochsprache und die Ausbildung von Sprachvarianten zu untersuchen.

Aufgabe 3

Aufgrund der Entwicklung der normsprachlichen Massenmedien besteht mindestens in den letzten Jahrzehnten eine allgemeine Tendenz zur Annäherung der Dialekte an die tschechische Hochsprache. Untersucht werden soll, ob sich im neu besiedelten Gebiet in und um Broumov dennoch eine tschechisch-sprachige Mundart herausgebildet hat, die einige Spezifika gegenüber dem Dialekt des Náchoder Ausläufers aufweist. Folgende Fragestellungen sind dabei zu klären:

  • – Kann die spezifische Broumov-Dynamik eine gegen die allgemeine Tendenz gerichtete Bewegung moderner Dialekte aufzeigen und einen dialektalen Ausgleich begründen?
  • – Welche Qualität haben die gefundenen Spezifika? Kann ein Einfluss des Substrats auf ihre Herausbildung nachgewiesen werden?

Aufgabe 4

Es soll untersucht und im Erfolgsfall dokumentiert werden, ob und wie in der heutigen tschechischen Mundart der Stadt Broumov und ihrer Umgebung Spuren der ehemaligen deutschsprachigen Besiedlung nachweisbar sind und auf welchen sprachlichen Ebenen sie festgestellt werden können.

Die aufgefundenen Spuren deutscher Sprachelemente verschiedener sprachlicher Ebenen (Strukturen) sind zu bewerten und in den historischen Kontext einzuordnen. Unter Heranziehung weiterer Materialien (z.B. schriftlicher Quellen) soll das Ausmaß der Interaktion zwischen Tschechen und Deutschen dargestellt und ihre Analyse in sprachlicher Hinsicht systematisiert werden. Dabei kann sowohl die Quantität deutschsprachiger Spuren im heutigen Dialekt in und um Broumov als auch die Qualität der Durchdringung der sprachlichen Ebenen in der gegebenen Mundart Aussagen über das bis heute wirkende jahrhundertelange Zusammenleben von Tschechen und Deutschen liefern. Hier ist auch die Spezifik des ehemals dort gesprochenen „Braunauer“5 Dialekts der Sudetendeutschen zu berücksichtigen. Diese Spezifik kann als Unterscheidungskriterium im Vergleich zu anderen allgemeintschechischen Spracherscheinungen dienen, die auf den Einfluss des Deutschen zurückzuführen sind.

Es ist daher wichtig, den derzeitigen tschechischen Dialekt in und um Broumov zu beschreiben. Als Vergleichsbasis für die Beschreibung der darin enthaltenen deutschen Sprachelemente soll der oben genannte deutsche „Braunauer“ Dialekt dienen. Dabei werden in erster Linie die strukturellen und spontanen Elemente des Braunauer deutschen Dialekts als Vergleichsbasis herangezogen. Dessen vollständige Analyse ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit.

1.5 Forschungshypothesen

Es wird allgemein angenommen (z.B. Jančák 1997, 239–249), dass es in Böhmen, im Vergleich zu den mährischen oder schlesischen dialektalen Gebieten, bis auf wenige Orte (Chodsko, dt. ‚Chodenland‘, Riesengebirge), durch die Nivellierung keine regionalen vollstrukturierten Dialekte gibt, die sich stark von der Gruppe der tschechischen Dialekte im engeren Sinne unterscheiden, sondern nur unterschiedliche Sprachelemente aus den verschiedenen Dialektuntergruppen auftreten. Es existierte hier keine größere Menge an besonderen und für bestimmte Bereiche einzigartigen Sprachmerkmale. Spezielle Merkmale tschechischer Dialekte im engeren Sinne kämen in allen Untergruppen von Dialekten in Böhmen vor und unterschieden vor allem die gesprochene Sprache von der Schriftsprache.

Die gleiche Meinung herrscht auch in Bezug auf die nordostböhmische dialektale Untergruppe vor, in der sich auf den ersten Blick auch keine deutlichen Differenzen zum Gemeintschechischen zeigen. Sogar die Sprecher selbst sind sich ihres Dialekts nicht bewusst und unterstützen diese Ansicht. Bei näherer Untersuchung eines Dialekts können vermutlich spezielle dialektale Merkmale gefunden werden. Diese regional typischen Besonderheiten werden auf zahlreichen Karten im ČJA6 dargestellt, z.B. v > u (prauda × „pravda“ dt. ‚die Wahrheit‘), í > ej (lesejček x „lesíček“ dt. ‚Wäldchen‘)7. Noch spezieller ist die Situation in und um Broumov, wo bis 1945 die deutsche Sprache vorherrschte und das Gebiet von der tschechischen Bevölkerung, in der Mehrheit allerdings erst nach der Vertreibung der Sudetendeutschen im Jahr 1945, besiedelt wurde.

In der vorliegenden Arbeit wird daher angenommen, dass es im Vergleich zu anderen Regionen in der Untersuchungsregion dennoch sprachliche Spezifika gibt, die man nicht den allgemeinen Erscheinungen zuordnen kann.

Durch eigene Forschungen und durch Abgleich mit weiteren wissenschaftlichen Arbeiten zu ähnlichen Fragestellungen soll versucht werden, zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen, welche die Hypothesen I–IV bestätigen.

Hypothese I: Einordnung des Dialekts in die nordostböhmische Untergruppe

Es wird vermutet, dass die Mehrheit der im Jahre 1945 nach Broumov zugezogenen Neusiedler sprachlich der nordostböhmischen dialektalen Untergruppe zuzuordnen ist, und zwar genau dem dialektalen Bereich des Randdialekts des Náchoder Ausläufers. Darum wird davon ausgegangen, dass der Dialekt der Neuankömmlinge im Wesentlichen die typischen Phänomene dieses Randdialekts hatte und hat.

Hypothese II: Homogenität im Dialekt in und um Broumov

Im Gegensatz zu einigen Publikationen über tschechische Dialekte, die die Gebiete der neuen Siedlungen nach dem Jahre 1945/1946 als dialektal gemischt, also dialektal vielfältig (Bělič 1972), bezeichnen, ist die Hypothese der vorliegen Studie:

  1. a) dass die Entwicklung der in und um Broumov gesprochenen Sprache nach 1945 nicht zum Entstehen eines Dialekts heterogener Art führte;
  2. b) dass die hier gesprochene Sprache dialektal auffällige Züge hat, die ihre Zuordnung in die Untergruppe der nordostböhmischen Dialekte begründen.

Hypothese III: Einfluss von sprachlichen und nichtsprachlichen Bedingungen

Von der Wahrnehmung von außen her gesehen sind Dialekte zuerst an eine geografisch mehr oder weniger abgrenzbare Region gebunden (horizontale Ebene). Darüber hinaus kann man aus Sicht der Soziolinguistik die zeitgenössische Sprache aber auch auf der vertikalen Achse betrachten. Die Sprache jedes einzelnen Menschen ist durch Alter, Ausbildung, Beruf, Familie usw. beeinflusst. In diesem Sinne sind soziolinguistische Informationen für die Beschreibung des Sprachverhaltens relevant, und die Sprache ist in Übereinstimmung mit der sozioökonomischen Schichtung der Gesellschaft zu betrachten.

Eine wichtige Rolle spielt auch die Altersstruktur der Bevölkerung. Tatsächlich sind Generationsunterschiede als wesentliche Einflusselemente für die Entwicklung des heutigen Dialekts in und um Broumov nachweisbar.

In der vorliegenden Studie wird als Arbeitshypothese postuliert, dass die meisten Dialekterscheinungen bei der älteren Generation auftreten. Bei der mittleren und jüngeren Generation dagegen sollten aufgrund sozialer und sprachlicher Faktoren (Nivellierung des Dialektes durch die aktuelle Sprachsituation) die dialektalen Merkmale infolge des sich dominant verbreitenden Allgemeintschechischen zurücktreten.

Weiterhin wird daraus gefolgert, dass sich Aspekte sozialen Charakters in der Sprachsituation in und um Broumov wie folgt durchsetzen:

  1. a) Sozial verbundene Dialektsprachgruppen bedingen einen größeren und stabilen Anteil der in der Alltagssprache verankerten mundartlichen Erscheinungen. Ihr Auftreten ist individuell abgegrenzt und in der Intensität unterschiedlich;
  2. b) Bei Dialektsprechern, die einen für die Öffentlichkeit wichtigen Beruf ausüben, nimmt das Ausmaß der Dialektizität ab. Deren gesprochene Sprache tendiert zum Allgemeintschechischen, ist „nordostböhmisch“ modifiziert. Elemente älterer Dialektschichten sind ihnen jedoch bekannt, ihre Benutzung im lebendigen Alltagsgespräch ist Ausdruck einer stilistisch markierten Kommunikationsart.

Hypothese IV: Einfluss der deutschen Sprache auf die tschechische Sprache

Obwohl es in Broumov bis 1945/1946 einen großen Einfluss des Deutschen auf das Tschechische gab, wird allgemein angenommen (z.B. Jančák 1997), dass die heutige von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochene tschechische Sprache keine deutlichen Einflüsse des Deutschen oder anderer Sprachen mehr aufweist. Die Hypothese der vorliegenden Arbeit ist die Vermutung, dass entgegen dieser Meinung auch heute noch Spuren des vergangenen tschechisch-deutschen Sprachkontakts im Dialekt in und um Broumov zu finden sind.

1.6 Zur Methode

Die Auseinandersetzung mit verschiedenen linguistischen Theorien, in deren Folge bestimmte Termini und eine einheitliche Methodik erarbeitet werden, ist wichtig, um in Anbetracht der Komplexität sprachwissenschaftlicher Fragestellungen Missverständnisse zu vermeiden und eine sichere, terminologisch eindeutige Arbeitsgrundlage zu erhalten. Begriffe und Bezeichnungen, die sich bei der Bearbeitung historisch-politischer Zusammenhänge als diffus oder zweideutig erweisen könnten, werden im Folgenden erläutert.

Das methodologische Herangehen bei der Bearbeitung der untersuchten Problematik lässt sich folgendermaßen hierarchisch darstellen:

  1. Sprachwissenschaft
    • Sprachkontaktologie Ausgangspunkt – Dialektologie (Kontaktdialektologie), besonders:
      • – Strukturalität und Funktionalität
      • – Areallinguistik
      • – Komparatistik
      • – Sprachentwicklungsprozesse

In der Studie kommen durchgehend Kriterien des Kommunikativen und des Soziologischen zur Geltung, die in der Analyse nicht einzeln, sondern komplex angewendet werden. So haben die Kriterien immer das Merkmal der Komplexität.

Details

Seiten
320
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631882153
ISBN (ePUB)
9783631882160
ISBN (Hardcover)
9783631882146
DOI
10.3726/b19894
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Februar)
Schlagworte
Dialektologie Dialekt Interdialekt Sprach-kontakt pragmatische Faktoren Sprach-entwicklung Dialekt-homogenität Dialekt-heterogenität Interaktion tschechische Dialekte
Erschienen
Peter Lang – Berlin · Bruxelles · Chennai · Lausanne · New York · Oxford, 2024. 320 S., 26 Tab., 17 Graf.

Biographische Angaben

Hana Svobodová (Autor:in)

Hana Svobodová hat an der an der Universität Leipzig promoviert und ist als Assistant Professor an der Pädagogischen Fakultät der Masaryk Universität in Brno/Brünn tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Dialektologie, die Entwicklung der tschechischen Schriftsprache und die Soziolinguistik sowie die Integration und Bildung von Menschen mit anderer Muttersprache. Sie unterrichtet zudem Tschechisch als Zweit- und Fremdsprache.

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Titel: Sprachkontakt, Bevölkerungsaustausch und Sprachwechsel nach 1945