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Die Drehbuchautorin Thea von Harbou (1888-1954)

Eine Biografie

von Nicole Giannotti (Autor:in)
Dissertation 458 Seiten

Zusammenfassung

Leben und Werk der Drehbuchautorin Thea von Harbou stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie, wobei der Schwerpunkt auf ihrem kulturpolitischen und ideologischen Wirken während des Dritten Reichs liegt. Der Text zeichnet ihren Werdegang als Verfasserin von Kriegsliteratur für Frauen während der Kaiserzeit sowie als langjähriger Drehbuchautorin nach. Die untersuchten literarischen Texte und Archivalien sind die Grundlage für die Erforschung ihrer geistig-sozial-künstlerischen Entwicklung sowie ihrer ‚Weltanschauung‘. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Fritz Lang schuf sie in den 1920er und frühen 1930er Jahren Meilensteine der Filmgeschichte wie Die Nibelungen, Metropolis und M. Während der NS-Zeit war sie viel beschäftigt und trug damit zur Funktionsfähigkeit der Kulturbranche bei.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Einleitung
  • Stand der Forschung
  • 1. Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenalter (1888-1918)
  • 1.1 Erziehung, Bildung und der Einfluss von Karl May
  • 1.2 Orientierung: Literatur und Theater
  • 1.3 Privatleben. Die Ehe mit Rudolph Klein-Rogge und die Entwicklung des Verhältnisses zur Familie von Harbou (seit 1914)
  • 1.4 Der Krieg und die Frauen - Kriegsliteratur zum Ersten Weltkrieg und weitere literarische Publikationen (1913-1918)
  • 2. Die Stummfilmära bis zu den ersten Tonfilmen (1919-1932)
  • 2.1 Der Weg zur Drehbuchautorin und die Beziehung zu Fritz Lang
  • 2.2 Die Stummfilme und deren literarische Verarbeitung
  • 2.2.1 Die ersten Projekte: Von Balladenfilmen über die Exotik Indiens bis Dr. Mabuse
  • 2.2.2 Zwischenspiel: Drehbucharbeiten für andere Regisseure
  • 2.2.3 Großfilmprojekte: Die Nibelungen und Metropolis
  • 2.2.4 Spione und Science-Fiction: Frau im Mond
  • 2.3 Die ersten Tonfilme – Von M bis Das Testament des Dr. Mabuse
  • 2.4 Literarische Publikationen
  • 3. Die NS-Zeit (1933-1945)
  • 3.1 Beruflicher und privater Rahmen
  • 3.1.1 Politische Haltung, Mitgliedschaften und Finanzen
  • 3.1.2 Die Beziehung zu Ayi Ganpat Tendulkar und karitative Unterstützung von in Deutschland lebenden Indern
  • 3.2 ‚Ausflüge‘ ins Regiefach
  • 3.3 Drehbucharbeiten
  • 3.3.1 Unterhaltungsfilme in der frühen Phase der NS-Herrschaft
  • 3.3.2 ‚Führer‘-Darstellungen
  • 3.3.3 Die ‚natürliche‘ Rolle der Frau
  • 3.3.4 Vorrang des Allgemeinwohls
  • 3.3.5 Kirche
  • 3.3.6 Stadt-Land-Gegensatz
  • 3.3.7 ‚Überläufer‘
  • 3.3.8 Weitere Überarbeitungen von Filmstoffen und nicht zu Ende geführte Projekte
  • 3.4 Literarische Publikationen
  • 4. Die Nachkriegszeit (1945-1954)
  • 4.1 Aus- und Nachwirkungen
  • 4.1.1 Internierung und Entnazifizierungsverfahren
  • 4.1.2 Privater und beruflicher Rahmen
  • 4.2 Die letzten Drehbucharbeiten
  • 4.3 Literarische Produktionen
  • 4.4 Abspann: Der ‚müde Tod‘
  • Schluss
  • Zusammenfassung
  • Quellenlage
  • Filmografie
  • 1. Drehbücher/Drehbuchmitarbeiten/Ideen von von Harbou
  • 2. Regiearbeiten von von Harbou
  • 3. Drehbücher, Exposés und Filmentwürfe von von Harbou, die nicht verfilmt wurden
  • Literaturverzeichnis
  • 1. Texte von von Harbou
  • 1.1 Selbständige Publikationen
  • 1.2 Unselbständige Publikationen
  • 1.3 Unpublizierte Texte, Fragmente und Entwürfe
  • 1.4 Artikel in Zeitungen, Sammelbänden
  • 2. Publizierte literarische Texte von anderen Autoren
  • 3. Wissenschaftliche und sonstige Literatur
  • 3.1 Literatur nach 1945
  • 3.2 Literatur bis 1945
  • 3.3 Zeitgenössische Zeitungs- und Zeitschriftenartikel
  • Abbildungsverzeichnis
  • Danksagung
  • Reihenübersicht

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Abkürzungen

AdK

Akademie der Künste, Berlin

BDM

Bund deutscher Mädel

BArch

Bundesarchiv, Berlin Lichterfelde

BDC

Berlin Document Center

BSB

Bayerische Staatsbibliothek, München

CIC

Civil Internment Camp

DACHO

Dachorganisation der filmschaffenden Künstler Deutschland

DAF

Deutsche Arbeitsfront

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DFF

Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main

DLA

Deutsches Literaturarchiv Marbach

DRK

Deutsches Rotes Kreuz

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DVP

Deutsche Volkspartei

FGSt326

Förderverein Gedenkstätte Stalag 326 (VI K) Senne e.V., Schloß Holte-Stukenbrock

FM

Filmmuseum Düsseldorf

Gestapo

Geheime Staatspolizei

GPU, (eigentlich OGPU)

(Objedinjonnoje) gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije, dt.: (Vereinigte) staatliche politische Verwaltung

GSA

Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar

GV

Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums

Hg.

Herausgeber

HJ

Hitlerjugend

IfZ

Institut für Zeitgeschichte, München

LATh-HStA

Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar

LA

Landesarchiv Berlin

NDB

Neue Deutsche Biographie

NG

Nicole Giannotti←9 | 10→

NSBO

Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSV

Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

PA AA

Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin

PPK

Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums

RFK

Reichsfilmkammer

RKK

Reichskulturkammer

RSK

Reichsschrifttumskammer

SBB SPK

Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz

SA

Sturmabteilung

SD

Sicherheitsdienst des Reichsführers SS

SDK

Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SPIO

Spitzenorganisation der Filmwirtschaft

SS

Schutzstaffel

Tscheka (WeTscheka)

Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage

Ufa

Universum Film AG

Ufi

Ufa-Film GmbH

USPD

Unabhängige Sozialdemokratischer Partei Deutschlands

VdF

Verband deutscher Filmautoren

ZFI

Zentrale Freies Indien

Zur Zitierweise:

Die im fortlaufenden Text zuweilen auftauchenden Ziffern in Klammern bezeichnen die jeweiligen Seiten des zitierten Primärtextes von von Harbou.

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Einleitung

„Ich halte jede Äußerung ‚von mir über mich‘ für groben Unfug, denn das Wesentliche sagt man nicht, und das Unwesentliche interessiert keinen Menschen.“1

Mit diesen Worten gab von Harbou 1928 in einer Autobiographiensammlung Filmschaffender eine Haltung kund, die ihr Verhalten weitreichend kennzeichnet: Über Privates sprach sie öffentlich nur selten; auch Bemerkungen von ihr über Parteien, politische Akteure oder entsprechende Geschehnisse findet man kaum und wenn doch nur in persönlich gehaltenen Briefen. Dennoch ist es das Ziel der vorliegenden Studie, ihren Lebensweg nachzuzeichnen und sich ihrer Weltsicht anzunähern – denn eine kritische Gesamtbiografie, die ihr kulturpolitisches und ideologisches Wirken während der Zeit der NS-Herrschaft in den Mittelpunkt der Darstellung rückt, steht bisher aus. Von wissenschaftlicher Bedeutung ist sie aufgrund ihrer Erfolge als Schriftstellerin und vor allem als Drehbuchautorin in der Weimarer Republik sowie im Dritten Reich – insgesamt war sie mehr als dreißig Jahre in der Filmbranche tätig. Ihre Arbeiten beeinflussten das kulturelle und gesellschaftliche Leben ihrer Zeit, das durch die um die Jahrhundertwende entstandene Filmwelt neue Impulse erhielt. Alleiniger Träger des innovativen Mediums war zunächst das Kino, das zwischen 1933 und 1945 „unter der direkten Oberaufsicht von Goebbels“2 stand, der Unterhaltung für Propagandazwecke instrumentalisierte – Produktionen dieser Zeit entsprachen „nur partiell einer spezifisch nationalsozialistischen Programmatik.“3

Im Hinblick auf die Zeit, in der sie lebte, ist von Harbous Lebenslauf und -wandel als ungewöhnlich zu bezeichnen. Die aus verarmtem Adel stammende junge Frau hatte eine standesgemäße Erziehung genossen und setzte sich gegen den Widerstand der Familie durch, indem sie 1906 eine Laufbahn als Theaterschauspielerin begann, während der sie ihren ersten Ehemann Rudolph Klein-Rogge (1885-1955) kennenlernte. Bis zu ihrem Tod 1954 war sie fast durchgängig beruflich tätig, womit sie, wie zu zeigen sein wird, paradoxerweise nicht dem Bild der Frau entsprach, das sie in ihren Texten propagierte. Sie veröffentlichte stets – auch während ihrer Ehen – unter ihrem Geburtsnamen, weshalb in der vorliegenden Studie dieser Name verwendet wird.

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Mit Beginn des Ersten Weltkriegs endete ihre Karriere als Schauspielerin und sie schrieb nunmehr fast ausschließlich literarische Texte, was sie bereits seit Kindheitstagen tat. Den Schwerpunkt ihres Schaffens der 1910er Jahre bildete ihre Kriegsliteratur, wobei Der Krieg und die Frauen von 1913 ihre erfolgreichste Publikation war – wie der Titel andeutet, widmete sie sich hier, aber auch in anderen Publikationen, der Kriegsthematik in der Regel aus einer speziell weiblichen Sicht. Darüber hinaus setzte sie sich literarisch mit kolonialen Themen auseinander, wobei sie rassistische Vorstellungen sowie Elemente der Blut- und Bodenideologie miteinflocht. Heutzutage gehört von Harbou ihre frühen Veröffentlichungen betreffend zu den vielen „Autorinnen, die über ein enges Fachpublikum hinaus vergessen sind“, was insbesondere auf die Inhalte zurückzuführen ist – zeitgenössische Themen, die sie „didaktisierend in nationalistischen Kontexten“4 behandelte und die ihre Aktualität im Laufe der Zeit eingebüßt haben.

Bekannter ist sie aufgrund ihrer Mitarbeit an heutzutage als Meilensteine der Stummfilmära und des frühen Tonfilms angesehenen Produktionen wie Die Nibelungen (1922-1924; Regie: Fritz Lang), Metropolis (1925-1926; Regie: Fritz Lang) und M (1931; Regie: Fritz Lang), aber auch wegen ihrer während des Dritten Reichs fortgesetzten Karriere. Kulturschaffende nahmen vielfältige Positionen im nationalsozialistischen Herrschaftsgefüge ein. Ihnen kam die Aufgabe zu, Ideologeme des Regimes ästhetisch zu vermitteln und damit auf künstlerische Weise dessen Handeln zu legitimieren und zu popularisieren. Einige Personen beförderten das völkisch-nationalsozialistische Gedankengut ganz bewusst und willentlich, andere ließen sich instrumentalisieren, passten sich an, und wiederum andere ordneten sich (zwangsweise) unter, um ihre Existenz nicht zu gefährden.5 Herauszuarbeiten, wie sich die Situation bei von Harbou gestaltete, ist ein Anspruch der vorliegenden Studie. Zu berücksichtigen ist dabei, mit wem sie arbeitete und welcher Art ihre Produktionen waren. Ihrem filmischen Schaffen der 1920er Jahre, dem sie zumeist gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Fritz Lang (1890-1976)6 nachging, der jüdische Wurzeln hatte, stehen während der Zeit des Hitler-Regimes beispielsweise Kooperationen mit des „Teufels Regisseur“7 Veit Harlan (1899- ←12 | 13→1964)8 gegenüber. Die Autorin und Vorsitzende des „Verbandes deutscher Tonfilmautoren“9 schrieb nunmehr auch Drehbücher für Filme, die als regimekonforme Propaganda einzustufen sind. Die Tatsache lässt die Frage aufkommen, wie es möglich war und erklärbar ist, dass eine Künstlerin unter vier verschiedenen politischen Systemen (Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, junge Bundesrepublik) erfolgreich sein konnte. Gerade aus diesem Grund erscheint es relevant, zu prüfen, ob und wie in ihren Arbeiten weltanschauliche Elemente identifizierbar sind. In dem Zusammenhang ist in Bezug auf Filme zu berücksichtigen, dass es sich um Gemeinschaftsproduktionen handelt, weshalb es quasi unmöglich ist, den originären Anteil jedes Mitwirkenden herauszukristallisieren. Zudem wurden Besprechungen häufig nicht dokumentiert oder Unterlagen sind im Laufe der Zeit abhandengekommen und bei Auftragsproduktionen, vor allem zwischen 1933 und 1945, waren Inhalte und (Kern-)Aussagen im Vorhinein festgelegt. Um dennoch (zumindest ansatzweise) herauszufinden, in welchem Ausmaß von Harbou am jeweiligen Endprodukt beteiligt war, wurden Drehbücher gesichtet und zeitgenössische Zeitungsartikel herangezogen, die zum Teil Hinweise auf die Art und Weise der (Mit-)Arbeit bieten und außerdem wiedergeben, wie Presseberichterstatter Filme wahrnahmen bzw. wie diese unter der vom Regime gelenkten Presse während der NS-Zeit aufgefasst werden sollten.

Aufgrund der Menge und der thematischen Vielfalt der Texte, die die Autorin während ihres Lebens schrieb, wurde ihr bereits „Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft […] an hegemoniale Ideologien“ attestiert, gleichzeitig seien an ihnen die „Regeln modern-industrieller Literatur- und Filmarbeit, die Gesetze von Genres und die Einflüsse moderner naturwissenschaftlich-technischer Diskurse und Praktiken“10 zu erkennen. Trotz Einkünften von zeitweise mehr als 100.000 RM jährlich11 hatte sie permanent finanzielle Probleme, die zum einen ←13 | 14→auf ihren Lebensstil, zum anderen und insbesondere wohl auf ihre Hilfsbereitschaft gegenüber ihren Mitmenschen zurückzuführen ist, die sich für ihr gesamtes Leben belegen lässt und vermutlich auch auf ihre Sozialisation als ‚höhere Tochter‘ zurückzuführen ist. Während der Zeit des Dritten Reichs beispielsweise unterstützte sie in Deutschland lebende Inder und finanzierte einigen von ihnen sogar den Lebensunterhalt. Obwohl sie als Nutznießerin des Regimes zweifelsfrei dessen Kulturpolitik unterstützte, entsprach ihr Verhalten somit nicht einer Art nationalsozialistischem Standardprofil,12 womit sie keinen Einzelfall darstellte. Scheinbare Widersprüche dieser Art lassen von Harbous politisch-ideologische Haltung allerdings wenig greifbar erscheinen. In Bezug auf ihr Leben sind des Weiteren die Beziehung mit dem siebzehn Jahre jüngeren Inder Ayi Ganpat Tendulkar (1905-1975) während der 1930er Jahre sowie ihr Engagement für jüdische Freunde und Bekannte anzuführen. Sie pauschal als „Königin der NS-Drehbücher“13 abzustempeln, scheint ihrem Œuvre und Leben nicht gerecht zu werden.

Mit der differenzierten Darstellung und Analyse ihres Lebens und Schaffens soll ein Beitrag geleistet werden zu der Frage, inwiefern nationalsozialistische Ideologeme auch im künstlerisch-gesellschaftlichen Feld, in dem sie agierte, zur Geltung kamen. Dafür sollen ihre gesellschaftspolitischen Überzeugungen sowie Erwartungen beschrieben und identifiziert werden. Damit dient die vorliegende Arbeit auch dem übergeordneten, heuristischen Ziel, der Diskussion um die Frage „Wer waren die Nationalsozialisten“14 eine weitere Facette hinzuzufügen. Durch die Darstellung einer Einzelbiografie können Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Strukturen und Verhaltensmuster sowie auf den „Charakter der Diktatur“15 gezogen werden.

In ihrer interdisziplinären Ausrichtung (literatur- und kulturpolitisch, historisch, biografisch) richtet sich das Erkenntnisinteresse der Studie darauf, einen singulären, personenbezogenen Beitrag zur Erforschung der (Kultur-)Geschichte des Dritten Reiches zu leisten. Am Beispiel von Harbous lassen sich Erkenntnisse über mögliche nationalsozialistische Profile gewinnen: „Die kritische Auswertung einer individuellen Lebensgeschichte öffnet den Blickwinkel auf mögliche kollektive Erfahrungsstrukturen, sodass ausgehend vom Speziellen ←14 | 15→Aussagen zu Gesamtzusammenhängen getroffen werden können.“16 Es wird ein biografisches Modell verfolgt, bei dem der gesellschaftlich-politische Kontext mit einbezogen wird. Eine quellenkritische Absicherung vorausgesetzt, geht es darum, Faktoren zu untersuchen, die vor dem Hintergrund der historischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen die originären Handlungen und Äußerungen von Harbous kenntlich machen und sie von den typischen scheiden. Dafür wurde eine Vielzahl archivarischer Quellen ausgewertet und ergänzend Aussagen von Zeitzeugen herangezogen.

Ein weiteres Forschungsinteresse betrifft die Frage, ob und inwieweit die Autorin mit ihren (Dreh-)Büchern zur Etablierung und Konsolidierung der NS-Herrschaft auf kulturellem Gebiet beitrug. Dazu ist es notwendig, ihre weltanschauliche Entwicklung im Rahmen ihres Werdegangs darzustellen, Beweggründe für ihr Tun zu identifizieren und zu eruieren, inwieweit ideologische sowie gesellschafts- und kulturpolitische Vorstellungen, aber auch finanzielle Motive eine Rolle spielten. Die Studie geht zudem den Fragen nach, welche Bedeutung für und welche Auswirkungen auf die kulturelle und politische Entwicklung in Deutschland die auf ihren Vorlagen basierenden Filme hatten. Auf diese Weise kann der Stellenwert ihres Schaffens im nationalsozialistischen Kontext dargestellt werden.

Zu berücksichtigen ist dabei ebenfalls von Harbous Karriere vor der ‚Machtergreifung‘ und nach dem Untergang des Regimes. In der Gesamtdarstellung ihres Lebens und Schaffens soll am Beispiel dieser Persönlichkeit die Möglichkeit einer von den Zeitläuften anscheinend unbeeinträchtigten Karriere unter differenten Herrschaftssystemen beschrieben werden.

Stand der Forschung

Film- und Literaturwissenschaftler haben sich in Publikationen mit verschiedenen Forschungsinteressen zu von Harbou befasst, die jeweils Teile ihres Lebens und/oder Werks behandeln. Einschlägiges Interesse besteht demnach. Zur literarisch-ästhetischen und weltanschaulichen Einordnung des schriftstellerischen Werkes (inklusive ihrer Drehbücher) liegen jedoch nur vereinzelte Studien vor, die sich jeweils mit punktuell gesetzten Schwerpunkten beschäftigen. Eine wissenschaftlich fundierte, komplexe Darstellung, die ihr Verhältnis zum NS-Regime thematisiert, liegt jedoch nicht vor. Das betrifft ←15 | 16→ebenso ihre geistig-sozial-künstlerische Entwicklung vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wie ihr Leben und Handeln in der frühen deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Zu ihrem Wirken als Drehbuchautorin sind zwei Dissertationen publiziert worden. Reinhold Keiner widmet sich in seiner Studie von 1984 dem Thema Thea von Harbou und der deutsche Film bis 193317, die sich wesentlich auf die Analyse zeitgenössischer Zeitungsartikel stützt. Zudem enthält der Band einen biografischen Überblick sowie Interviews, die der Verfasser 1980 und 1981 mit Zeitzeugen führte. Darin geht es vor allem um die Person von Harbous, wobei auch die Frage nach ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus zur Sprache kommt.18 Karin Bruns‘ 1995 erschienene Arbeit handelt von Kinomythen 1920-1945. Die Filmentwürfe der Thea von Harbou. Der Schwerpunkt liegt hier in einer „diskurstheoretisch inspirierten Kommentierung des Stumm- und Tonfilms […], die versucht, die Organisation eines Sujets durch das assoziierte Feld und durch die jeweils kinospezifischen Produktionsregeln herauszustellen.“19

Zudem beschäftigt Wolf Ulrich Haentsch sich in seiner zwar unpublizierten, jedoch im Deutschen Filminstitut Frankfurt am Main zugänglichen Magisterarbeit aus dem Jahr 1986 mit Thea von Harbou und de[m] Film im Dritten Reich. Eine Autorin zwischen Politik und Unterhaltung. Der Verfasser weist auf eine „Vielzahl widersprüchlicher Charakterzüge“ hin, „die sich gegen jede Kategorisierung sperren“, und denen er sich in „Grundzüge[n]“ sowie ihrer „Lebens- und Arbeitsauffassung“20 annähern will. Den Hauptteil der Arbeit bildet die teilweise analysierende und kommentierende Wiedergabe ihrer Filmarbeiten, die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind.

Andre Kagelmann analysiert in seiner Dissertation Der Krieg und die Frau. Thea von Harbous Erzählwerk zum Ersten Weltkrieg21 die zwischen 1913 und 1917 veröffentlichte Kriegsliteratur der Autorin. Er untersucht sie unter didaktischen Gesichtspunkten, arbeitet Werthaltungen sowie Kriegsdarstellungen heraus und bettet die Publikationen in den Kontext ihres Gesamtwerks ein. In der Studie sind zudem „Biographeme“ sowie ein „Exkurs Nationalsozialismus“ ←16 | 17→zu finden, die differenzierte Einblicke in den Lebensweg und die Weltsicht von Harbous bieten.

Der Artikel „Thea von Harbou – Autorin“ im Cinegraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film22 von Michael Töteberg bietet auf Basis einer Vielzahl von Quellen einen biografischen Abriss, eine Filmografie sowie einen Essay, in dem er einen Überblick über ihre und eine Einschätzung ihrer beruflichen Tätigkeiten gibt.

Anna Maria Sigmunds Aufsatz mit dem polemischen Titel Thea von Harbou. Die Königin der NS-Drehbücher23 steht ganz im Zeichen der Überschrift des populärwissenschaftlichen Sammelbandes Die Frauen der Nazis, in dem er erschien; der Titel ist hier Programm und die Autorin wird pauschal als Nationalsozialistin dargestellt. Die vorliegende Studie hat den Anspruch, das solcherart tradierte Bild zu überprüfen und unvoreingenommen anhand aller verfügbaren Quellen eine fundierte wissenschaftliche Darstellung zu leisten.

Ernst Gortner thematisiert in seinem Aufsatz „Schattenmund. Die kinematographischen Visionen der Thea Gabriele von Harbou“24 ihr Leben und Werk, wobei das Filmschaffen der 1920er Jahre im Vordergrund steht und das Wirken in der NS-Zeit hingegen nur kurz angerissen wird. Mit dem Text scheint vorrangig die Intention verfolgt worden zu sein, eine aus der Region stammende ‚Berühmtheit‘ vorzustellen; er erschien in dem Band Visionäre aus Franken. Sechs phantastische Biographien.

Laxmi Dhaul, die Tochter von Ayi Ganpat Tendulkar, verfasste mit In the shadow of freedom. Three lives in Hitler’s Germany and Gandhi’s India einen auf Notizen, Briefen und Erinnerungen ihrer Mutter basierenden Text über ihre Eltern und die frühere deutsche Lebensgefährtin ihres Vaters.25 Hinsichtlich der Beziehung von Harbous zu ihrem temporären indischen Lebensgefährten ist die Publikation von Interesse – allerdings sind die Schwächen der Oral History-Forschung26 zu berücksichtigen und Aussagen aufgrund des Erinnerungscharakters mit entsprechender Distanz zu betrachten – stellenweise gibt Dhaul beispielsweise (angeblich) wörtliche Rede aus den 1930er Jahren wieder.

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In Nina Zimniks Dissertation The formation of feminine fascist subjectivity: Thea von Harbou and Leni Riefenstahl27 werden die beiden Filmschaffenden „als Wegbereiterinnen eines ‚weiblichen Faschismus‘“ betrachtet. Bereits Kagelmann hat auf gravierende Mängel und Fehldeutungen des Textes verwiesen,28 dessen Verbreitung die Autorin nunmehr zu unterbinden versucht.29

Ferner widmen sich einige Veröffentlichungen den (Stumm-)Filmen der 1920er und frühen 1930er Jahre, einzelnen Schaffensperioden oder bestimmten Werken.30

In jungen Jahren veröffentlichte von Harbou eine Vielzahl kurzer literarischer Texte in Zeitungen und Zeitschriften, die Stefan Schaaf in dem Bändchen Thea von Harbou. Skizzenbuch. Frühe Werke und Quellen zusammentragen hat. Die aus „Liebhaberei“31 entstandene Arbeit liefert neue bibliografische Erkenntnisse.

Eine alle zugänglichen Quellen berücksichtigende Gesamtschau des Lebens und Wirkens von Harbous, das ihre gesellschaftliche und kulturpolitische Bedeutung angemessen beschreibt und würdigt, ist ein Forschungsdesiderat.


1 Harbou, von (1928).

2 Bruns (1995b), S. 108.

3 Ebd.

4 Kagelmann (2013a), S. 40.

5 Zu Literatur(-politik) und Autoren im Dritten Reich vgl. bspw. Adam (2010); Barbian (2010); (1993); Düsterberg (2018); (2015a); (2015b); (2011); (2009); (2004); Linthout, van (2012), Niemirowski (2015); Vondung (2000).

6 Zur Biografie von Fritz Lang vgl. Grob (2014); McGilligan (1997). Zu Langs Filmen vgl. Gunning (2000); McElhaney (2015).

7 Noack (2000).

8 Veit Harlan ist berüchtigt für Jud Süß (1940), den antisemitischen Film par excellence. Zu Harlans Biografie vgl. bspw. Noack (2000). Zu Harlans Verfilmung von Jud Süß vgl. Hardinghaus (2008); Haus der Geschichte Baden-Württemberg (2007), Kanzog (1994), S. 219-234 sowie die Aufsätze in Przyrembel (Hg.) u. Schönert (Hg.) (2006) unter III.

9 Vgl. bspw. „Autoren deutscher Zunge? Eine Umfrage zum Statut des Autorenverbandes“. In: Film-Kurier, Berlin 15 (1933) Nr. 34 vom 8.2.1933.

10 Bruns (1995a), S. 95; dies. (1995b), S. 5.

11 Vgl. Harbou, von: Fragebogen des Military Government of Germany. 3.8.1947, S. 10. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (im Folgenden: BArch), R 9361-V/143271 Bl. [1581] und vgl. Harbou, von: Fragebogen des Military Government of Germany. 19.1.1949. Landesarchiv Berlin (im Folgenden: LA), C Rep. 031-01-02 Nr. 2448.

12 Zur Entwicklung von gesellschaftlichen Vorstellungen darüber, was einen Nationalsozialisten ausmacht, vgl. Herbert (2004), v.a. S. 20-26; 38.

13 Sigmund (2005).

14 Herbert (2004).

15 Ebd., S. 18.

16 Elbing (2014), S. 14.

17 Keiner (1984).

18 Zu beachten sind in diesem Zusammenhang die Schwächen der Oral History-Forschung. Zu „Zeitzeugen“ vgl. Zimmermann (1992).

19 Bruns (1995b), hier: S. 5f.

20 Haentsch (1986), hier: S. 6.

21 Kagelmann (2009).

22 Töteberg (2018).

23 Sigmund (2005). Beispielsweise folgt Scholz in ihrer Arbeit über Drehbuchautoren Sigmunds Urteil über von Harbou. Vgl. Scholz (2016), S. 231, 345.

24 Gortner (2000).

25 Vgl. Dhaul (2013), hier: S. 304.

26 Zu „Zeitzeugen“ vgl. Zimmermann (1992); zu „Gedächtnis und Erinnerung“ vgl. Gudehus (Hg.); Eichenberg (Hg.) u. Welzer (Hg.) (2010).

27 Zimnik (1997).

Details

Seiten
458
ISBN (PDF)
9783631891162
ISBN (ePUB)
9783631891179
ISBN (Hardcover)
9783631891155
DOI
10.3726/b20303
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 458 S., 4 farb. Abb., 2 s/w Abb.

Biographische Angaben

Nicole Giannotti (Autor:in)

Nicole Giannotti studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Osnabrück, wo auch ihre Promotion erfolgt ist. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück tätig.

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Titel: Die Drehbuchautorin Thea von Harbou (1888-1954)
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