Reisen, Erzählungen und Erinnerungen von fünf Maraini-Frauen
Eine transgenerationale Familientopografie
Zusammenfassung
von fünf Maraini-Frauen
Daria Rizzello
Seit dem 19. Jahrhundert prägen Reisedarstellungen und -dynamiken die Vitae und OEuvres von fünf herausragenden Frauen aus der italienischen Familie der – auch in Deutschland bekannten – kosmopolitischen Schriftstellerin Dacia Maraini: Sie übernahm rege Reisegewohnheiten von ihren Vorfahren und gab sie ihrerseits sowohl literarisch als auch innerfamiliär an jüngere Generationen weiter.
Reisen, Erzählungen und Erinnerungen verflechten die zentralen Gedächtnisorte der fünf weiblichen Familienmitglieder aus vier Generationen und zeugen von einer transgenerationalen Vergangenheitsbewältigung sowie vernetzten Emanzipationsgeschichte, die dieses Buch erstmalig chronologisch ordnet, rekonstruiert und mittels gender- sowie transmissionstheoretischer Ansätze zu einer matriarchalen Familientopografie analytisch zusammenführt.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Geleitwort der Herausgeberin
- Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- 1. Fragestellung und Thema
- 2. Methodisches Vorgehen
- II. Theoretische Grundlagen
- 1. Forschungsstand Reiseliteratur
- 2. Forschungsstand zur Famiglia Maraini
- 3. Theorien – Tagebucheinträge und Transmissionen
- 3.1 Tagebuch
- 3.2 Biografie und Gedächtnis
- 3.3 Transmission
- 3.4 Postmemory
- III. Die Maraini-Frauen
- Erster Teil: Yoï Maraini (1877–1944)
- 1. Vita
- 2. Œuvre
- 2.1 A Year of Strangers
- 2.1.1 Abfahrt
- 2.1.2 Rückkehr
- 2.2 A Child went Forth
- 2.3 In a Grain of Sand
- 3. Zwischenfazit und Rezensionen
- 4. Yoïs Journalismus
- Zweiter Teil: Topazia Maraini (1913–2015)
- 1. Vita
- 2. Œuvre
- 2.1 Love Holidays
- 2.1.1 Love Holiday 7
- 2.1.2 Love Holiday 8
- 2.1.3 Love Holiday 9
- 2.1.4 Love Holiday 10
- 2.1.5 Love Holiday 13
- 2.2 Ein Leben im Zeichen der Kunst
- 3. Zwischenfazit
- Dritter Teil: Dacia Maraini (geb. 1936)
- 1. Reisen
- 1.1 Das Reisen als Familienerbe
- 1.2 Reiseerinnerungen
- 2. Œuvre
- 2.1 Das Schreiben als Familienerbe
- 2.2 Eine Kindheit auf Sizilien
- 2.2.1 Werkanalyse – Bagheria
- 2.2.2 Bagheria heute
- 2.3 Ein Schiff nach Kobe
- 2.4 Filmanalyse – Io sono nata viaggiando
- 3. Beziehungen
- 3.1 Dacia – Yoï
- 3.2 Dacia – Topazia
- 3.3 Dacia – Yuki – Toni
- 4. Zwischenfazit Dacia
- Vierter Teil: Toni Maraini (geb. 1941)
- 1. Vita und Reisen
- 2. Œuvre
- 2.1 Bagheria
- 2.2 Ricordi d’arte e prigionia
- 2.2.1 Das Kriegstagebuch
- 2.2.2 Die Auswanderung
- 2.2.3 Die Kriegsgefangenschaft
- 2.2.4 Die Rückkehr
- 3. Beziehungen
- 3.1 Toni – Yoï
- 3.2 Toni – Topazia
- 3.3 Toni – Mujah
- 4. Zwischenfazit Toni
- Fünfter Teil: Mujah Maraini-Melehi (geb. 1970)
- 1. Vita
- 2. Œuvre
- 3. Haiku on a Plum Tree
- 3.1 Der biografische Dokumentarfilm
- 3.2 Die Idee
- 3.3 Die Handlung
- 3.4 Der Film
- 3.5 Werkanalyse – Haiku on a Plum Tree
- 4. Beziehungen
- 4.1 Mujah – Topazia
- 4.2 Mujah – Toni
- 5. Zwischenfazit Mujah
- IV. Schlussteil
- 1. Memorie di una famiglia
- 2. Rückblick
- 3. Fazit
- 4. Kurzfassungen
- 4.1 Zusammenfassung (auf Deutsch)
- 4.2 Riassunto (auf Italienisch)
- 4.2.1 Introduzione
- 4.2.1.1 Teorie: diaristica, autobiografia, trasmissione e postmemory
- 4.2.1.2 Stato della ricerca
- 4.2.2 Le donne Maraini
- 4.2.2.1 Yoï Maraini
- 4.2.2.2 Topazia Maraini
- 4.2.2.3 Dacia Maraini
- 4.2.2.4 Toni Maraini
- 4.2.2.5 Mujah Maraini-Melehi
- 4.2.3 Conclusioni
- V. Literaturverzeichnis
- VI. Anhang
- Reihenübersicht
I. Einleitung
1. Fragestellung und Thema
Sono cresciuta ascoltando i racconti di famiglia […] queste storie sembravano epiche e immense.
Ora so che c’è di più.1
Erzählungen über Familienmitglieder können einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung des Familiengefüges haben. Die Beziehungen zu unseren nächsten Verwandten und die Erinnerungen an Familienmitglieder werden von dem geprägt, was diese erzählen und was über sie erzählt wird. Die Auseinandersetzung mit den engsten Familienangehörigen beginnt mit der Geburt, durch die wir in ein Netz von verwandtschaftlichen Beziehungen verstrickt werden.2 Unsere Familie können wir anders als den Beruf oder den Freundeskreis nicht auswählen. Wir werden in ein bestehendes Konstrukt hineingeboren; „Familie ist Schicksal.“3
Der obige Paratext stammt von der Nichte der italienischen Schriftstellerin Dacia Maraini. Das Zitat ist der Auslöser für die Beschäftigung mit dem vorliegenden Forschungsvorhaben. Mujah Maraini-Melehis Aussage impliziert, dass die Geschichten ihrer Familie mehr seien als nur epische Erzählungen. Dabei hat jede Familie ihre eigene Geschichte,4 welche durch die „Familienmitglieder individuell oder kollektiv erlebt, selektiv aufbewahrt und schließlich durch Erzählungen innerfamilial weitergeben [wird].“5 Die Frage nach dem di più bleibt offen. Es gilt zu klären, was das über das Familiennarrativ hinausgehende Element der Familie Maraini ist. Ein übergenerationeller Forschungsansatz bietet sich diesbezüglich an, da sich aus der Kombination von Zusammenleben und Erzählungen das:
←21 | 22→spezifische Familiengedächtnis [ergibt], das neben das individuelle und das gesamtgesellschaftliche-kulturelle Gedächtnis tritt, und in dessen Zusammenhang Handlungsfigurationen, Werte und Normen der heranwachsenden Familienmitglieder entwickelt werden.6
Es konnte im Vorfeld ausgemacht werden, dass mehrere Mitglieder der Familie Maraini über Generationen hinweg in hohem Maße autobiografische Zeugnisse erstellt haben. Die durchweg von Frauen dokumentierten Kapitel des Familienlebens werden in dieser Arbeit erstmalig zusammengeführt. Ausgehend von den einzelnen individuellen Gedächtnissen werden Ergebnisse erwartet, die Rückschlüsse sowohl auf das Familienensemble als auch auf allgemeine Thematiken wie das weibliche Reisen und Schreiben ermöglichen. Eine genaue Untersuchung des Familiengedächtnisses ist unter mehreren Aspekten lohnend, wie Simone Christina Nicklas festhält:
In gemeinsamen familiären Erinnerungen und Geheimnissen, die untereinander kommuniziert werden, drücken die einzelnen Familienmitglieder nicht nur die Meinung und Vorstellung der Gruppe aus und spiegeln die Vergangenheit wider, sondern legen auch ihre gegenwärtigen Eigenschaften, Wertvorstellungen sowie Einstellungen offen.7
Anhand der Kriterien „Reisen, Erzählungen und Erinnerungen“ wurden Werke der Maraini-Frauen ausgemacht. Diese werden im Folgenden analysiert und stellen die Basis dar für die Klärung der Fragen: wie die Frauen der Familie Maraini mit ihren (Reise-) Erfahrungen umgehen, wie sich die Auseinandersetzung mit Erinnerungen manifestiert, was die über Generationen andauernde Beschäftigung mit der Familienhistorie antreibt.
Ausgangspunkt für die Erarbeitung einer topografia famigliare ist das Leben und Werk Edith Cornelia Pawlowska Crosse Marainis8 (*30.07.1877 Tàllya/Ungarn – †31.10.1944 Florenz). Mit John Porters Biografie Yoï. The remarkable life of Edith Cornelia Crosse9 wurde erstmals ihr Leben und Werk erforscht und zusammengefasst. Yoï lernt bereits in jungen Jahren zwei unterschiedliche Kulturen kennen, die sich wiederum auf die unterschiedliche Herkunft der Eltern ←22 | 23→zurückführen lassen.10 Ihre Aufenthalte in Europa und Persien wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen von „Liebesreisen“ unternommen. Sie hält ihr eigenes Leben, insbesondere die Erfahrung der allein angetretenen Fernreise schriftlich fest. Außerdem verfasst sie für englische Zeitungen Artikel zu Themen wie etwa dem Leben in Florenz und der italienischen Architektur.11 Ihr Sohn Fosco Maraini (*15.11.1912 Florenz – †08.06.2004 ebenda) erlebt ebenfalls von Geburt an ein zweisprachiges Umfeld. Sein jüngerer Bruder Grato und er wachsen in der Toskana auf, wobei neben dem Florentinischen, die englische Sprache die Familie sowohl im alltäglichen Austausch12 als auch im Schriftverkehr begleitet. Bereits in jungen Jahren unternimmt Fosco Reisen. 1930 arbeitet er als Lehrer an Bord der Amerigo Vespucci13 und in den darauffolgenden Jahren unternimmt er mit seiner Verlobten Topazia Alliata Bergbesteigungen. Deren gemeinsame Tagebücher erscheinen als Love Holidays im Jahr 2014. Auf Fosco Maraini kann in dieser Arbeit nicht ausführlich eingegangen werden, da das weibliche Reisen und Schreiben im Vordergrund steht. Allerdings wirkt sich seine Leidenschaft für das Fremde in direkter Weise auf seine Nachfahren aus. Aus diesem Grund kommt ihm in Bezug auf die Weitergabe dieser Passion im Rahmen der transgenerationalen Transmission eine wichtige Rolle zu.
Topazia Alliata di Salaparuta (*05.09.1913 Bagheria – †23.11.2015 Rom) wächst in einer stark verarmten Adelsfamilie auf Sizilien auf. Ihre ersten Reisen fanden gemeinsam mit ihrer Mutter Sonia Ortuzar in die europäischen Hauptstädte Paris und London statt.14 Die weitere Reisetätigkeit findet meist ←23 | 24→gemeinsam mit ihrem Ehemann Fosco Maraini statt. Topazia studiert an der Accademia delle Belle Arti in Palermo und gründet in Rom eine Kunstgalerie.
Die jüngste Tochter von Topazia und Fosco, Antonella Maraini (*1941 Tokyo, ihr Künstler- und Kosename Toni wird im weiteren Verlauf der Arbeit verwendet) ist Kunsthistorikerin, Übersetzerin, Schriftstellerin und Maghreb-Expertin. Nach ihren Lehrtätigkeiten in Marokko zieht sie mit ihren beiden Töchtern Mujah (*1970 Casablanca) und Nour Shems (*1978 Casablanca) im Jahre 1987 nach Rom. Hier setzt sie ihre schriftstellerische Karriere fort und widmet der eigenen Familiengeschichte zwei Arbeiten. In den Jahren 2003 und 2007 erscheinen bei Sellerio jeweils Ricordi d’arte e prigionia di Topazia Alliata und La Lettera da Benares. Das erste Werk wird in der vorliegenden Arbeit analysiert, da es auf die Tagebücher der Mutter Topazia eingeht. Das zweite Werk widmet sich der Vater-Tochter-Beziehung zwischen der Autorin und Fosco Maraini. Wichtige Passagen aus dieser Veröffentlichung finden ebenfalls im fünften Kapitel Erwähnung.
Die Töchter Tonis befassen sich ihrerseits, auch im beruflichen Kontext, mit der Familienhistorie. Mujah hat den Dokumentarfilm Haiku on a Plum Tree realisiert und Nour arbeitet in der römischen „Casa Museo Alberto Moravia“, welche das Erbe des Schriftstellers verwaltet.15
Die Erstgeborene von Topazia und Fosco, Dacia Maraini (*13.11.1936 Florenz) gilt als „eine der am meisten übersetzten und gelesenen italienischen Autorinnen der Welt […], über die in ihrem Land so wenig geforscht wird […].“16 Sie erhielt namhafte Auszeichnungen wie den renommierten Premio Strega im Jahre 1999 für den Erzählband Buio.17 Ihre Reisetätigkeit ist beachtlich und reicht von der ersten Erfahrung, der Auswanderung nach Japan über die zahlreichen Reisen, unternommen unter anderem mit den Freunden Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini, bis zu ihren Verpflichtungen als akklamierte Schriftstellerin. Sie präsentiert ihre Bücher auf der ganzen Welt und engagiert sich durch journalistische Beiträge am gesellschaftspolitischen Diskurs.18
←24 | 25→Die ausgewählten Frauen sind die Protagonistinnen einer reichen Familiengeschichte, die es wert ist, auch außerhalb des familiären Zusammenhangs betrachtet zu werden. Als Zeuginnen des Weltgeschehens verfassen sie fundamentale Beiträge zu den für diese Arbeit elementaren Thematiken. Wie schon Mujah im Anfangszitat festhält, bieten Leben und Werk der Maraini-Frauen Einblicke in Bereiche, die über das familiäre Narrativ hinausgehen und somit aus literaturwissenschaftlicher Sicht von großer Bedeutung sind.
2. Methodisches Vorgehen
Durch eine diachrone Herangehensweise wird in dieser Arbeit auf die Lebensläufe und Werke der fünf Maraini-Frauen eingegangen. Diese erstmalige Auseinandersetzung mit den Familienverhältnissen der weiblichen Mitglieder der Familie Maraini soll in eine generationenübergreifende literarisch-biografische Familientopografie münden. Ludwig Stecher und Jürgen Zinnecker halten im Handbuch Familie diesbezüglich fest:
Die Familie ist ein Ort, wo Kultur gelebt und weitergegeben wird. [...] Der Mikrokosmos Familie stützt sich auf eine genealogische Abfolge von Generationen. Zwischen diesen Generationen wird die Weitergabe von Kultur ausgehandelt und praktiziert. Eltern leben die kulturellen Muster einer Gesellschaft vor, die nachgeborenen Kinder leben sie nach und modifizieren sie dabei.19
Wie sich dieser Prozess auf die jeweiligen Nachfahren in der Familie Maraini ausgewirkt hat, soll anhand von Transmissions-Theorien und Werkanalysen herausgefunden werden. Durch die Erarbeitung der Familienbiografie gilt es „die Deutungs- und Interpretationsmuster, also die Kriterien des Denkens der […] Familie herauszuarbeiten“20 und daraus Erkenntnisse zu ziehen. Im Falle der vorliegenden Arbeit kann ebenfalls von der Erstellung einer „geografia letteraria“21 gesprochen werden, die nach Fulvio Panzeri
←25 | 26→Prende in considerazione i molti scritti, di varia natura (diari, epistolari, scritti giornalistici), che connotano il modo che lo scrittore adotta per parlare di sé e della propria esperienza. Il viaggio infatti implica la possibilità di guardare ai luoghi e alla loro realtà umana attraverso una prospettiva personale che coinvolge nel profondo, in maniera se vogliamo più diretta di quella usata per una struttura narrativa.22
Die Reisen der weiblichen Mitglieder der Familie Maraini unterliegen den verschiedensten Motivationen. Die Werke, welche diese Reisen festhalten, können in zwei Kategorien eingeteilt werden. Zum einen werden positiv konnotierte Reisen beschrieben, zu denen Aufenthalte in Europa, Persien, Afrika und Amerika zählen. Zum anderen wird die Kategorie der negativ konnotierten Reisen von der traumatischen Kriegserfahrung in Japan bestimmt. Die schriftlich festgehaltenen Reisedokumentationen unterscheiden sich in Genre, Qualität und Bekanntheit, wobei Dacia Maraini aufgrund ihrer schriftstellerischen Karriere und ihres feministischen Wirkens in Italien als bekanntestes weibliches Familienmitglied bezeichnet werden kann.
Für die Erarbeitung einer topografia famigliare und die Nachverfolgung von innerfamiliären Weitergaben von Erinnerungen ist der chronologische Ansatz und die Einbeziehung der einzelnen Biografien unabdingbar. Die genealogische Auseinandersetzung beginnt mit Yoï und endet mit ihrer Urenkelin Mujah. Im zeitlichen Rahmen von über 100 Jahren haben die fünf ausgewählten weiblichen Mitglieder der Familie gelebt und gewirkt. In diesen Zeitraum fallen zwei Weltkriege, die das Familienleben beeinflussen. Ausgehend von der generationsübergreifenden Rekonstruktion und Elaboration der Kriegserfahrung von Seiten der Maraini-Frauen wird ebenfalls die geschichtliche Aufarbeitung aus weiblicher Sicht thematisiert.
Die einzelnen Vitӕ und Werke sollen analysiert und erstmalig in Relation zueinander gesetzt werden. Es ist verwunderlich, dass das ausgeprägte Reiseverhalten der einzelnen Familienmitglieder bisher kaum wissenschaftliche Beachtung gefunden hat. Die Annahme, dass es sich bei der Reisetätigkeit der Mitglieder der Familie Maraini um ein Familienerbe handelt, soll mit dieser Arbeit belegt und die ausgemachte Forschungslücke gefüllt werden. Es war in den vergangenen Jahren möglich, drei der fünf Maraini-Frauen persönlich zu treffen und mit ihnen in direkten Austausch zu treten. Die während dieser Treffen festgehaltenen Aussagen bereichern diese Arbeit an zahlreichen Stellen.23
←26 | 27→Das ausgewählte Korpus besteht aus Texten, die von den fünf oben benannten Frauen der Familie Maraini verfasst wurden. Es handelt sich dabei um Yoïs erste Veröffentlichung A Year of Strangers, um A Child went Forth und um eines ihrer letzten Bücher In a Grain of Sand,24 um Topazias Tagebücher sowie Dacias Werke Bagheria und La nave per Kobe. Aus Tonis Œuvre wurde unter anderem der Artikel Bagheria ausgewählt, sowie die Veröffentlichung Ricordi d’arte e prigionia di Topazia Alliata, welche sich mit dem Kriegstagebuch der Mutter auseinandersetzt. Mujahs Debütfilm Haiku on a Plum Tree stellt die jüngste Auseinandersetzung mit der Familienhistorie dar.25
Yoïs Werke werden im Rahmen dieser Arbeit als Beginn für das weibliche Schreiben in der Familie angesehen. Topazias Tagebücher hingegen stellen die Basis für die Aufarbeitung der Familiengeschichte ihrer Nachfahrinnen dar. Anhand der ausgewählten Texte wird insbesondere auf das individuelle autobiografische Gedächtnis eingegangen. Eingebunden wird dieses in die Betrachtung des kollektiven Familiengedächtnisses der Familie Maraini, denn: „Nur durch Kommunikation mit anderen kann erinnert werden, erst im Abgleich mit anderen wird es möglich, die eigene – wie auch die kollektive Identität aufzubauen.“26 Mit der Person Dacias wird auf eine bedeutende Persönlichkeit der italienischen Kulturszene eingegangen, welche durch ihr vielseitiges Engagement den gesellschaftlichen Diskurs prägt. Dacia Maraini nutzt das Mittel der Literatur, um auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Ihr Schaffen kann als littérature engagée bezeichnet werden. Mit der Bezugnahme auf Werke von Toni Maraini können Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Schwestern in der Auffassung und Aufarbeitung der Familienhistorie erarbeitet werden. Mujahs filmische Rekonstruktion der Familiengeschichte stellt das Ende des Forschungsgegenstands dar. Außerdem wird auf das Mutter-Tochter-Verhältnis sowohl zwischen Topazia und ihren Töchtern als auch zwischen Toni und ihrer Tochter Mujah eingegangen. Von besonderem Interesse ist dabei die fehlende Auseinandersetzung mit der nachkommenden Generation im Falle der kinderlosen Schriftstellerin Dacia Maraini.
←27 | 28→Dadurch, dass es sich ausschließlich um Autorinnen handelt, ergibt sich die Notwendigkeit, die Texte aus Sicht der Gender-Forschung zu betrachten. Maria Angarano Moscarellis Vorschlag einer Definition zur Reiseliteratur von Frauen fasst das Vorhaben der vorliegenden Arbeit treffend zusammen: „Viaggi di donne raccontati da donne […].“27
Das einschneidende Erlebnis der Kriegsgefangenschaft in Japan prägt die gesamte Familie Maraini auf persönlicher und beruflicher Ebene. Daher verdient das Œuvre der Schriftstellerinnen Beachtung auch hinsichtlich ihrer geschichtlichen Relevanz: „The reinterpretation of history by Italian women writers deserves continued attention and research.“28 Dacia ist zwei Jahren alt, als sie an Bord der Conte Verde mit ihren Eltern von Brindisi nach Japan auswandert. Sowohl Toni als auch Yuki wurden in Japan geboren und verbringen hier ihre ersten Lebensjahre. Nach Kriegsende verlassen sie ihre Heimat für die der Eltern. Die verschiedenen Einflüsse auf die einzelnen Identitäten und der Umgang mit prägenden Ereignissen sollen in der vorliegenden Studie thematisiert werden.
Ziel ist es, eine Zusammenfassung der einzelnen Lebensläufe in eine generationenübergreifende Analyse zu übertragen und sowohl Rückschlüsse auf die einzelnen Personen als auch auf das Familienensemble zu ziehen. Die chronologische Herangehensweise dient zum einen der Übersicht und zum anderen dem Verständnis für die Erinnerung der einzelnen Frauen an explizite Situationen in der Familienhistorie. Bestimmte Ereignisse werden von mehreren Mitgliedern der Familie aufgegriffen und im Rahmen einer familiären Aufarbeitung betrachtet. Der Zeitpunkt und vor allem die Art dieser Auseinandersetzung der Maraini-Frauen mit der eigenen Familiengeschichte variiert. Dadurch ist die Interdisziplinarität dieser Arbeit gegeben. Die aus den intra- und intermedialen Quellen (z.B. Tagebuch, Interview, Roman und Film) gewonnen Erkenntnisse werden abschließend zusammengeführt und unter dem Aspekt der topografia famigliare zusammengefasst.
Von großer Bedeutung sind die in den ausgewählten Texten schriftlich festgehaltenen Erinnerungen und innerfamiliären Bezüge zu Themen wie dem Reisen, Schreiben und Frausein in verschiedenen Epochen und Kulturen. Trotz der vielen biografischen Bezüge, autobiografischen Schilderungen und Anekdoten ←28 | 29→in ihren Œuvres fand eine explizite transgenerationale Auseinandersetzung der Familienhistorie erst kürzlich durch Mujah statt. Die Beschäftigung mit der Kriegserfahrung ihrer Vorfahrinnen findet in dem Dokumentarfilm Haiku on a Plum Tree Ausdruck. Dessen Analyse schließt zum einen den Forschungsgegenstand dieser Arbeit ab und gibt zum anderen einen Ausblick auf die, im Film von Mujah selbst thematisierte, noch bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Familiengedächtnis durch die nachkommende fünfte Generation, die ihrer eigenen Kinder Ondina (*2004) und Fosco McDonald (*2001).29
←29 | 30→1 Haiku on a Plum Tree. Regie: Mujah Maraini-Melehi. Italien: Haiku Films/Interlinea Film, 2016, 73:00’ (der Trailer zum Film ist online zugänglich unter: https://www.haikuonaplumtree.com/).
2 Vgl. Schützenberger, Anne Ancelin: Oh, meine Ahnen! Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt, Heidelberg: Carl-Auer Verlag, 2018, S. 18.
3 Jessen, Jens: „Das wächst sich nicht aus“. DIE ZEIT N°4 vom 21.1.2021, S. 33.
4 Vgl. Groppe, Carola: „Familiengedächtnisse und Familienstrategien“, in: Ecarius, Jutta: Handbuch Familie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, S. 406.
5 Ebd.
6 Groppe, Carola: „Familiengedächtnisse und Familienstrategien“, S. 406.
7 Nicklas, Simone Christina: „Erinnern führt ins Innere“: Erinnerung und Identität bei Uwe Timm, Marburg: Tectum Verlag, 2015, S. 37.
8 Rufname und auch im Weiteren verwendeter Name Yoï.
9 Porter, John: Yoï. The remarkable life of Edith Cornelia Crosse (1877-1944), Matador: Leicestershire, 2018.
Details
- Seiten
- 298
- ISBN (PDF)
- 9783631879337
- ISBN (ePUB)
- 9783631883013
- ISBN (Hardcover)
- 9783631882979
- DOI
- 10.3726/b19882
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2022 (Dezember)
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 298 S., 6 farb. Abb., 2 s/w Abb.