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Medien und Wirklichkeit im Kino François Ozons und Pedro Almodóvars um 2000

von Regine Leitenstern (Autor:in)
©2023 Dissertation 226 Seiten
Reihe: Romania Viva, Band 50

Zusammenfassung

Um das Jahr 2000 ist vielfach von einer medial bedingten ‚Entwirklichung’ des Realen die Rede, als deren Auslöser der digitale Medienumbruch gilt. Regine Leitenstern untersucht, wie sich die Filme zweier der profiliertesten Vertreter des europäischen Autorenkinos innerhalb dieses Diskurses positionieren: François Ozon und Pedro Almodóvar. Anders als die Mehrzahl angelsächsischer Produktionen, die sich diesem Thema widmen, nehmen die Werke Ozons und Almodóvars nicht auf neue digitale, sondern auf deutlich ältere Medien Bezug. Mittels intermedialer Referenzen auf Literatur, Theater und den Film selbst verhandeln sie ein bestimmtes Verhältnis von Realität, Inszenierung und Fiktion, das Aufschluss darüber gibt, wie sie sich innerhalb der Diskussion um ein ‚Verschwinden’ von Wirklichkeit verorten lassen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung: Der Medienumbruch um das Jahr 2000 und die These einer ‚Entwirklichung‘ des Realen durch Neue Medien
  • 2. Der Diskurs um eine mediale ‚Absorbierung‘ und ‚Derealisierung‘ von Wirklichkeit seit Mitte des 20. Jahrhunderts
  • 2.1 Stichproben: moderne Kulturtheorie und postmoderne Medientheorie
  • 2.2 Schlüsselkonzepte: Zu den Begriffen der Inszenierung und der Fiktion
  • 3. Theoretische Vorüberlegungen zur Analyse des Verhältnisses von Medien und Wirklichkeit im Spielfilm
  • 3.1 Zur Analyse der Beziehung von diegetischer Realität, Inszenierung und Fiktion: Aspekte der Kinophilosophie Gilles Deleuzes
  • 3.1.1 Die Janusköpfigkeit des Films: Akteur und Reflexionsort medialer ‚Absorbierung‘ und ‚Derealisierung‘
  • 3.1.2 Die Koexistenz und Spiegelung verschiedener ontologischer Ebenen im Film: Das filmische Kristallbild
  • 3.2 Zur Analyse der filmischen Bezüge auf Literatur und Theater: Das Konzept der Intermedialität
  • 3.2.1 Intermedialität als Basisphänomen und die ‚genuine‘ Intermedialität des Films
  • 3.2.2 Begriffliche Schärfungen: Medien als Intermedien, Medien als Einzelmedien
  • 3.2.3 Intermedialität als Analysekategorie und die verschiedenen Artikulationsformen der Intermedialität des Films
  • 3.2.4 Typologie intermedialer Bezüge: Thematisierung, Evokation und Simulation
  • 4. Zum Verhältnis von Medien und Wirklichkeit in ausgewählten Filmen François Ozons und Pedro Almodóvars um 2000
  • 4.1 Forschungsüberblick zum Werk beider Filmautoren
  • 4.2 Vom Verschwinden der außermedialen Wirklichkeit: 8 femmes (François Ozon, 2002)
  • 4.2.1 Die filmische Wirklichkeit als inszenierte Wirklichkeit
  • 4.2.2 Zum Verhältnis von Film und Theater
  • 4.2.3 Die filmische Wirklichkeit als medial konstituierte Wirklichkeit
  • 4.3 Inszenierung als anthropologische Konstante und mediale Prägung von Wirklichkeit: Todo sobre mi madre (Pedro Almodóvar, 1999)
  • 4.3.1 Das Organspende-Rollenspiel als programmatischer Auftakt des Films
  • 4.3.2 Inszenierung des Lebens und Theatralität des Alltags
  • 4.3.3 Mediale Prägung der Lebenswirklichkeit
  • 4.3.4 Die filmische Wirklichkeit als potenzielle Fiktion
  • 4.4 Mediale Prägung von Wirklichkeit und das Wechselverhältnis von Realität und Fiktion: La mala educación (Pedro Almodóvar, 2004)
  • 4.4.1 Zahara/Ignacio/Ángel/Juan als allegorische Verkörperung der verschiedenen Ebenen des Films
  • 4.4.2 Diegetische Erzählebenen und deren Abgrenzung
  • 4.4.3 Zum Verhältnis von Film und Literatur
  • 4.4.4 Die gegenseitige Prägung von Realität und Fiktion
  • 4.5 Über den filmischen „Realitätseffekt“: Swimming Pool (François Ozon, 2003)
  • 4.5.1 Von der Entstehung eines Romans
  • 4.5.2 Fließende Grenzen des Realen, Fiktiven und Imaginären
  • 4.5.3 Die Autoreflexivität des Films und seines „Realitätseffekts“
  • 5. Schlussbemerkung
  • Abbildungsverzeichnis
  • Filmverzeichnis
  • Literaturverzeichnis

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1. Einleitung: Der Medienumbruch um das Jahr 2000 und die These einer ‚Entwirklichung‘ des Realen durch Neue Medien

Abstract: The chapter introduces the theme of the study and outlines its central research questions and methods. The starting point is the observation that around 2000 there was frequently talk of a media-induced ‘derealisation’ of the real, said to be triggered by the digital media upheaval. The significance of the debate is also seen in several popular films, in which the ‘disappearance’ of reality in the light of new digital media is a central motif. The study examines how the films of Pedro Almodóvar and François Ozon released around 2000 position themselves within this discourse by referring – unlike most Anglo-Saxon productions – not to new digital media but to older visual and audiovisual media as well as the even older media of literature and theatre. Especially the relationship between reality and dramatisation and between fact and fiction negotiated in Almodóvar’s and Ozon’s films through references to literature and theatre provides insights into how the films can be positioned within the discussion about a media ‘absorption’ and ‘derealisation’ of reality.

Keywords: turn of the millenniummedia upheavaldigital media‘disappearance’ of realityPedro AlmodóvarFrançois Ozon.

Um die Jahrtausendwende haben Diskussionen, die um die ‚Entwirklichung‘ des Realen durch neue digitale Medien kreisen, Hochkonjunktur. Ablesen lässt sich dies unter anderem an der Vielzahl an Veröffentlichungen der 1990er- und frühen 2000er-Jahre, die die Diagnose eines ‚Verschwindens‘ von Wirklichkeit, einer medialen ‚Absorbierung‘ und ‚Derealisierung‘ explizit im Titel führen. Die Rede ist unter anderem vom „Auszug aus der Wirklichkeit“1, von dem „allmähliche[n]‌“ beziehungsweise „gar nicht mehr allmähliche[n] Verschwinden der Wirklichkeit“2, von „Phänomene[n] der Derealisierung“3, der „Wirklichkeit ←11 | 12→im Zeitalter der Virtualität“4, der „Wirklichkeit im Zeitalter ihres Verschwindens“5, der „Pest der Phantasmen“6, dem „Digitale[n] Schein“7, dem „Digitale[n] Nirwana“ und dem „Verlust der Wirklichkeit in der schönen neuen Online-Welt“8, um nur einige Titel entsprechender Publikationen zu nennen. Die These, die in diesen und weiteren Veröffentlichungen häufig vertreten,9 jedoch mindestens ebenso häufig kritisch hinterfragt wird,10 lässt sich in verdichteter Form wie folgt wiedergeben: Medien seien zu den wesentlichen Produzenten von Wirklichkeit geworden, die die eigentliche Wirklichkeit verdrängen und zum Verschwinden bringen. Da eine von Medien unabhängige Wirklichkeit kaum noch existiere, sei Wirklichkeit zunehmend als mediale Konstruktion zu begreifen. Unsere Lebenssituation ähnle immer mehr derjenigen aus Platons Höhlengleichnis, in der die Menschen, von Kindheit an in einer Höhle ←12 | 13→gefesselt, die im Feuerschein an die Wand geworfenen Schattenbilder für die Wirklichkeit halten.11 Das Reale verschwinde angesichts der Omnipräsenz des Medialen, stattdessen werde die „Medienhöhle“ zum „Haus unseres Seins“12.

Die Virulenz der Debatte um eine mediale ‚Absorbierung‘ und ‚Derealisierung‘ von Wirklichkeit zeigt sich auch an mehreren, um das Jahr 2000 erschienenen populären Spielfilmen, in denen die ‚Entwirklichung‘ des Realen durch neue digitale Medien zentrales Motiv ist – man denke unter anderem an The Matrix (USA 1999), The 13th Floor (USA, DE 1999) und eXistenZ (CA, GB 1999). In The Matrix (USA 1999), dem prominentesten Beispiel unter den genannten Filmen, gestaltet sich die Lebenswirklichkeit der Figuren als eine Computersimulation, dem Filmtitel entsprechend ‚die Matrix‘ genannt. Geschaffen wurde sie von intelligenten Maschinen, um die Menschheit, die von ihnen unterworfen wurde, unter Kontrolle zu halten. Die Matrix spiegelt den Menschen ihre vertraute Lebenswirklichkeit vor, die in dieser Form jedoch nicht mehr existiert. Die Wirklichkeit der Menschheit ist zerstört, die Menschen selbst liegen bewusstlos in Kapseln und dienen den intelligenten Maschinen lediglich als Energiequelle. Nur wenige kennen die Wahrheit und leisten Widerstand, darunter Morpheus und seine Anhänger Trinity, Cypher und Tank. Sie pendeln zwischen der Matrix und der neuen Wirklichkeit hin und her auf der Suche nach dem ‚Einen‘, der einer Prophezeiung zufolge die Menschheit retten kann, und glauben, ihn in dem Hacker Neo gefunden zu haben: „Do you want to know what it is?“, sagt Morpheus zu Neo bei ihrer ersten Begegnung.

The Matrix is everywhere. It is all around us. Even now in this very room. You can see it when you look out of your window or when you turn on your television. You can feel it when you go to work, when you go to church, when you pay your taxes. It is the world that has been pulled over your eyes to blind you from the truth. […] Like everyone else you were born into bondage, born into a prison that you cannot smell or taste or touch – a prison for your mind.13

Deutlich klingt hier das platonische Gleichnis an, das die Menschen als Gefangene in einer Höhle beschreibt, die die im Feuerschein an die Wand geworfenen Schattenbilder für die Wirklichkeit halten. Während in The Matrix hinter der medialen Simulation noch eine ‚eigentliche‘ Wirklichkeit existiert, hat diese in den ineinander verschachtelten Computersimulationen, die die Lebensrealität der Filmfiguren in The 13th Floor und eXistenZ bilden, längst aufgehört ←13 | 14→zu bestehen. Wann die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit endet und die mediale Simulation beginnt beziehungsweise ob es hinter den ineinander verschachtelten Computersimulationen überhaupt noch eine ‚eigentliche‘ Wirklichkeit gibt, ist in The 13th Floor wie auch in eXistenZ unklar.

Details

Seiten
226
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631883037
ISBN (ePUB)
9783631883044
ISBN (Hardcover)
9783631883020
DOI
10.3726/b19883
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Mai)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 226 S., 67 s/w Abb.

Biographische Angaben

Regine Leitenstern (Autor:in)

Regine Leitenstern hat Romanistik und Journalistik in Leipzig und Paris studiert. Während ihrer Promotion an der Justus-Liebig-Universität Gießen war sie Mitglied des „International Graduate Centre for the Study of Culture". Derzeit ist sie als Forschungsreferentin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig.

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