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Assistierter Suizid in Deutschland, BVerfGE 153, 182 als Ausgangspunkt für eine gesetzliche Neuregelung

von Sule Karatas Görücü (Autor:in)
©2023 Dissertation 234 Seiten
Reihe: Recht und Medizin, Band 141

Zusammenfassung

Im Jahr 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht den § 217 StGB für nichtig. Die Autorin setzt sich mit diesem Urteil auseinander und geht der Frage nach, ob neue Gesetzesentwürfe zur Suizidbeihilfe als intensiver Eingriff des Staates in die Grundrechte mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen und dem Urteil in Einklang stehen. Dabei geht sie sowohl auf die Grundlagen der Straftheorie als auch auf allgemeine verfassungsrechtliche Anforderungen ein. Um dogmatische Fragen zufriedenstellend zu klären, bedient sich die Autorin interdisziplinärer Ansätze wie Rechtsgeschichte, Psychologie und Soziologie.
Sie analysiert, ob die Strafbestimmungen der neuen Gesetzentwürfe ein legitimes Ziel verfolgen und ob die Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels als Strafe besonders geeignet, erforderlich und angemessen ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Kapitel 1: Das Phänomen des Suizids
  • A. Thematischer Begriff des Suizids
  • I. Erscheinungsformen von Suiziden
  • II. Freiverantwortlichkeit eines Suizids
  • B. Sterbehilfe im Laufe der Zeit
  • I. Geschichte der Sterbehilfe
  • II. Geschichte des Suizids und Beihilfe dazu
  • 1. Entwicklungen des assistierten Suizidgesetzes in anderen Ländern
  • 2. Die Rolle des Weltverbands der Right to Die Societies und der Sterbehilfe-Organisationen
  • 3. Reise zum Suizid
  • C. Ätiologie des Suizids
  • I. Biologische Theorien
  • II. Psychologische Theorien
  • 1. Tiefenpsychologische Theorien
  • 2. Das kognitive Verhaltensmodell
  • 3. Interpersonale Theorie des Suizids
  • 4. Lerntheorien
  • a) Werther-Effekt
  • aa) Imitation nach Modell
  • bb) Imitation nach Popularität
  • cc) Imitation nach Ort und Methode
  • dd) Imitationen wegen Berichterstattung
  • b) Papageno-Effekt
  • III. Soziologische Theorien
  • 1. Emile Durkheims Theorie des Suizids
  • 2. Soziologische Betrachtungen nach Emile Durkheim
  • a) Lebensstil und Suizid
  • b) Modernisierung und Suizid
  • c) Die Rolle der Religion
  • aa) Die klassische Durkheim-Integrationsansicht
  • bb) Die Perspektive des religiösen Engagements
  • cc) Die Kontext- oder Netzwerkperspektive von Pescosolido
  • IV. Psychiatrische und neurologische Erkrankungen und Suizid
  • D. Risiko- und Schutzfaktoren bei Selbsttötungen
  • I. Risikofaktoren
  • II. Schutzfaktoren
  • III. Suizid-Prävention
  • 1. Einschränkung des Zugangs zu Mitteln und Methoden
  • 2. Verhinderung unangemessener Medienberichterstattung
  • a) Beschwerden bei Verstößen gegen den Pressekodex
  • b) Konstruktiver Journalismus
  • E. Empirische Daten und Schlussfolgerungen
  • Kapitel 2: Reformvorschläge zur Suizidbeihilfe und die Verfassungswidrigkeit des aufgehobenen § 217 StGB a.F.
  • A. Wendepunkte der bisherigen Debatte um Suizidbeihilfe
  • B. Gesetzgebungsinitiativen in der 18. Wahlperiode
  • I. BT-Drs. 18/5373 – Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung
  • II. BT-Drs. 18/5374 – Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung (Suizidhilfegesetz)
  • III. BT-Drs. 18/5375 – Entwurf eines Gesetzes über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung
  • IV. BT-Drs. 18/5376 – Entwurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Teilnahme an der Selbsttötung
  • V. BT-Drs. 18/6546 – Antrag: Keine neuen Straftatbestände bei Sterbehilfe
  • C. Schlussfolgerungen aus dem Vergleich der Gesetzentwürfe
  • D. Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung
  • I. Bestimmtheitsgrundsatz
  • 1. Meinungsstand
  • 2. Rechtsprechung und Stellungnahme
  • II. Wesensgehaltsgarantie und Verhältnismäßigkeitsprinzip
  • 1. Legitimer Schutzzweck des abgeschafften § 217 StGB
  • a) Kritik am gesetzlichen Schutzzweck
  • b) Rechtsprechung und Stellungnahme
  • 2. Erforderlichkeit
  • a) Meinungsstand
  • b) Rechtsprechung und Stellungnahme
  • 3. Angemessenheit
  • a) Meinungsstand
  • b) Rechtsprechung
  • III. Stellungnahme
  • Kapitel 3: Rechtslage nach der Entscheidung des BVerfG
  • A. Suizid und Beteiligung am Suizid aus strafrechtlicher Sicht (de lege lata)
  • I. Tatbestandslosigkeit des Suizids und der Teilnahme daran
  • II. Abgrenzung von Selbsttötung und § 216 StGB
  • III. Strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Unterlassen
  • IV. Unterlassene Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB
  • V. Strafbarkeit nach dem Betäubungsmittelgesetz
  • VI. Von der Bundesärztekammer aufgestellte ärztliche Musterberufsordnung
  • B. Gesetzentwürfe zur Reform der Suizidbeihilfe (de lege ferenda)
  • I. BT-Drs. 19/28691 –Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Suizidhilfe
  • II. Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben (Selbstbestimmtes-Sterben-Gesetz – SelbstG)
  • III. Diskussionsentwurf des Bundesgesundheitsministeriums
  • C. Auffassungen zum Thema Suizidbeihilfe im Rahmen der Orientierungsdebatte im Bundestag am 21. April 2021
  • D. Vereinbarkeit der Entwürfe der 20. Wahlperiode mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
  • I. BVerfG 4. Leitsatz und Gründe dazu
  • II. Vereinbarkeit der Entwürfe damit
  • 1. BT-Drs 20/904 Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung und zur Sicherstellung der Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zur Selbsttötung
  • a) Legitimer Schutzzweck
  • aa) Stellungnahme
  • b) Geeignetheit
  • c) Erforderlichkeit
  • d) Angemessenheit
  • aa) Meinungsstand und Rechtsprechung
  • bb) Stellungnahme
  • e) Fazit
  • 2. Entwurf von Helling-Plahr et al.
  • a) Legitimes Ziel, Geeignetheit und Erforderlichkeit
  • b) Angemessenheit
  • aa) Meinungsstand
  • bb) Rechtsprechung und Stellungnahme
  • c) Fazit
  • 3. Entwurf von Künast et al.
  • a) Legitimes Ziel, Geeignetheit und Erforderlichkeit
  • b) Angemessenheit
  • aa) Meinungsstand
  • bb) Rechtsprechung und Stellungnahme
  • c) Fazit
  • E. Kommentar zum Entwurf § 217 StGB in BT-DRS 20/904
  • I. Grundsätzliches
  • II. Objektive Elemente der Tatbestandsmäßigkeit von Abs. 1
  • 1. Selbsttötung
  • 2. Gewähren oder Verschaffen einer Gelegenheit zur Selbsttötung
  • 3. Vermitteln
  • III. Subjektiver Tatbestand des § 217 StGB
  • IV. Tatbestandsausschluss
  • V. Abs. 3 als Strafausschließungsgrund
  • VI. Täterschaft und Teilnahme
  • 1. Grundlagen
  • 2. Mittäterschaft
  • 3. Anstiftung
  • 4. Beihilfe
  • VII. Versuch
  • VIII. Rechtsfolgen und Konkurrenzen
  • F. Kommentar zum Entwurf § 217a StGB in BT-DRS 20/904
  • I. Grundsätzliches
  • II. Objektive Elemente der Tatbestandsmäßigkeit
  • 1. Gegenstand der Werbung
  • 2. Tathandlung
  • a) Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bekanntgabe von Erklärungen
  • b) Öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften
  • c) In grob anstößiger Weise
  • 3. Tatbestandsausschluss durch Abs. 2–4
  • III. Subjektiver Tatbestand
  • IV. Rechtsfolgen
  • Zusammenfassung und Stellungnahme
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • A. Statistiken
  • I. Statistiken zur Schweiz
  • II. Statistiken zu Oregon, Vereinigte Staaten von Amerika
  • III. Statistiken zu Washington, Vereinigte Staaten von Amerika
  • IV. Statistiken zu den Niederlanden

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Juni 2022 als Dissertation an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht. An dieser Stelle möchte ich allen danken, die zum Erfolg dieser Arbeit beigetragen haben.

Zunächst möchte ich mich bei meinem Doktorvater Professor Dr. Matthias Krüger für seine langjährige Betreuung und Unterstützung bedanken, die aufgrund der menschlichen und juristischen Komplexität des Themas und der unvorhersehbaren und bahnbrechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht einfach war, und bei Professor Dr. Andreas Spickhoff für sein sorgfältiges Zweitgutachten.

Ebenso möchte ich dem Ministerium für nationale Bildung (Türkei) und den Professoren und Mitarbeitern der Istanbul Medeniyet Universität für das Postgraduiertenstipendium und ihre Unterstützung während des gesamten Prozesses danken. Ich möchte auch Professor Dr. Dr. hc. Hakan Hakeri, dem Gründungsdekan der juristischen Fakultät der Istanbul Medeniyet Universität, für seine persönliche Unterstützung danken.

Abschließend möchte ich meiner Familie meinen besonderen Dank für ihre ständige Unterstützung aussprechen.

München, November 2022
Şule Karataş Görücü

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Einleitung

Jeder wird den Tod erleiden. Die unveränderliche Realität des Todes hat viele Philosophen dazu gebracht, über Leben und Tod nachzudenken. Einige, wie Seneca, haben sich umgebracht, denn wenn es um das Leben geht, war ihm Qualität wichtiger als Quantität. Einige, wie Kant, sehen den Suizid als Verletzung der Moral oder als Verstoß gegen den kategorischen Imperativ. Die semitischen Religionen betrachten den Suizid als Verstoß gegen den Willen Gottes und Verrat gegen das Leben, das Gott dem Menschen zur Bewahrung geschenkt hat. Durkheim betonte, dass Suizid ein soziologisches Problem sei. Sein Nachfolger Halbwachs stellte fest, es sei ein psychosoziales Problem. In diesem Zusammenhang versuchen zahlreiche Arbeiten seit Langem, das Unbekannte in dieser Hinsicht aufzudecken.

Das Thema Suizidhilfe und deren Legalisierung kann nicht getrennt vom Suizid betrachtet werden. Die Ideen darüber sind meistens miteinander verbunden. Deren Akzeptanz in der Gesellschaft ändert sich je nach Zeit, Ort, Kultur, moralischem Ansatz, Religion und demografischer Struktur. In diesem Sinne gehören Suizid und assistierter Suizid in Form einer Sterbehilfe zu den vielseitigen Themen, die interdisziplinär untersucht werden müssen. Diese Arbeit versucht daher, Suizid und assistierten Suizid in vielen Aspekten zu überprüfen. Im ersten Teil werden das Phänomen des Suizids und assistierter Suizid ausführlich diskutiert.

Albert Camus definiert Suizid als das einzig wirklich ernsthafte philosophische Problem. Man weiß nie, ob es wirklich das einzig ernsthafte Problem ist, aber man kann sagen, dass es ein zeitloses Problem ist. Laut der WHO sind die Suizidraten in den letzten 45 Jahren weltweit um 60 % gestiegen. Die Erforschung der Ursachen ist daher für die Suizidprävention von essenzieller Bedeutung. Aus diesem Grund behandelt die vorliegende Arbeit im ersten Kapitel auch die Gründe, warum Menschen Suizid begehen, und einige Strategien zu dessen Prävention.

Die Wörter oder Redewendungen, die für den Suizid häufig verwendet werden, sind in der Regel Maßstab für die Annehmbarkeit der Tat in der Gesellschaft. Die Legalisierung des assistierten Suizids ist eines der umstrittensten ethischen Dilemmata, da es persönliche, religiöse, psychologische, sozioökonomische, demografische, rechtliche und kulturelle Faktoren beinhaltet.

Die Beantwortung der Kernfragen wie, Warum fragen Menschen nach Sterbehilfe, und warum begehen Menschen Suizid? Wie war dies im Wandel der ←17 | 18→Geschichte? Hat die Entwicklung der Technologie etwas verändert? Soll der Staat die Menschen vor sich selbst schützen? Ist ein ‚Werther-Effekt‘ durch Medien möglich? Genügen die staatlichen Programme? Führt eine mögliche Legalisierung einen Dominoeffekt herbei? Kann dies ein gesetzliches Verbot verhindern? Wie ist die rechtliche Lage in Deutschland, und wie kann diese verbessert werden? bildet ebenfalls die Schwerpunkte bei der Umsetzung eines Verbots oder einer Legalisierung der Sterbehilfe.

Nach intensiven Debatten im Bundestag ist 2015 das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ in Kraft getreten. Es wurde fünf Jahre später, im Jahr 2020, vom Bundesverfassungsgericht1 aufgehoben. Das zweite Kapitel der Arbeit fasst dieses Gesetz, seine Alternativentwürfe und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zusammen und nimmt dazu Stellung.

Im dritten Kapitel dieser Arbeit geht es um rechtliche Aspekte des Themas. Zuerst wird der strafrechtliche Rahmen des Suizids und der Suizidhilfe im Lichte der neueren Rechtsprechung analysiert. Dieses Kapitel beinhaltet eine Bewertung der Entscheidung des BVerwG2, wonach das BfArM in extremen Ausnahmesituationen die Erteilung einer Erwerbserlaubnis für Selbsttötungsmittel nicht verwehren darf. Diese Entscheidung erscheint unrechtmäßig.

Abschließend werden die Entwürfe von 19. und 20. Legislaturperiode zusammengefasst, die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entstanden sind. Die Verfassungsmassigkeit der Entwürfe wurde geprüft. In dieser Arbeit werden auch die Strafbestimmungen des BT-Drs 20/904 kommentiert. Diese Arbeit argumentiert, dass ein freier Suizid nicht verhindert werden sollte, und betont die Bedeutung eines kontrollierten und sicheren Prozesses bei der Suizidhilfe für die Gesellschaft und den Einzelnen. Dementsprechend sollte ein umfassendes Suizidhilfegesetz vorbereitet und Regelungen zur Rechtsstabilität im Strafgesetzbuch und im BtMG getroffen werden.


1 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15.

2 BVerwGE 158, 142

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Kapitel 1: Das Phänomen des Suizids

A. Thematischer Begriff des Suizids

Das Thema Suizid und seine Berücksichtigung in Bezug auf verschiedene moralische Konzepte ist so kontrovers, dass in der Geschichte eine Reihe verschiedener Wörter aufgetaucht sind. Mors Voluntaria, Selbstvernichtung, Hand-an-sich-Legen, Selbstentleibung, Selbstmord, Selbsttötung und Freitod sind nur einige der zahlreichen Bezeichnungen in der deutschen Sprache, um den unnatürlichen Tod zu beschreiben, wenn sich jemand selbst vorsätzlich das Leben nimmt.3 Obwohl sie alle die Selbsttötung zum Ausdruck bringen, haben einige dieser Wörter einen einzigartigen Charakter in den Bereichen der Philosophie, der Religion und des Rechts erlangt, und es gibt darüber hinaus Nuancen davon.

Der Begriff suicida (Suizid), der von dem lateinischen sui cidium (Selbsttötung) bzw. sui caedere (sich töten) abgeleitet ist, wurde zum ersten Mal im Jahr 1177 erwähnt.4 Das Wort wertet die suizidale Handlung neutral, und daher wird es häufig in der Wissenschaft mit dem Begriff Selbsttötung verwendet. Das älteste deutsche Wort „Selbstmord“ (Mord an sich selbst) lässt sich auf die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen, während die erste Bezeichnung des eigenen Todes als Mord schon mindestens auf das 16. Jahrhundert zurückzuführen ist.5 Wegen der Betonung der mörderischen Tat und somit der Rechtswidrigkeit, breitete sich die Verwendung des Wortes „Selbstmord“ rasch aus. Denn die katholische Kirche und die Gesellschaft betrachteten die Handlung des Suizids zu dieser Zeit als illegitim.6 Jedoch wurde der Begriff bereits im 17. und 18. Jahrhundert kritisiert.7 Die Kritik des Wortes erscheint juristisch auch angemessen, weil die Selbsttötung nicht den Tatbestand eines deutschen Tötungsdelikts erfüllt.

Im letzten Jahrhundert haben sich sowohl Befürworter des Rechts auf Sterben und dessen Assistenz als auch die Verwendung des Begriffs „Freitod“ verbreitet. ←19 | 20→Dieser Begriff stammt aus einer Kapitelüberschrift „Vom freien Tode“ in Nietzsches Werk „Also sprach Zarathustra“.8 Im Gegensatz zum Begriff des Selbstmords, wirkt die Bezeichnung Freitod positiv und unschädlich und deutet auf eine freiverantwortliche Entscheidung des Suizidenten hin.

I. Erscheinungsformen von Suiziden

Ein Suizidentschluss kann von verschiedenen biopsychosozialen Bedingungsfaktoren abhängen. Die Begrifflichkeiten im Sinne des Suizids wurden jedoch nicht einheitlich bestimmt und können nach unterschiedlichen Kriterien kategorisiert werden. Die Kategorien können im Gesetzgebungsprozess hilfreich sein, um mögliche Grenzen der Suizidhilfe zu definieren.

Erstens kann ein Suizid je nach Spontaneität der Entscheidung in zwei Formen eingeteilt werden. Bei spontanen Suiziden ist die rationale Abwägung von Lebensumständen meistens nicht vorhanden. Vielmehr handelt es sich um eine spontane Kurzschlusshandlung, die auf eine emotional sehr intensive Situation zurückzuführen ist. Im sogenannten „impulsiv reaktiven“ Suizidzustand leiden diejenigen, die sterben wollen, unter einer geringen Frustrationstoleranz.9

Andererseits basieren nicht alle Suizidwünsche auf spontanen Gedanken. Zum Beispiel gibt es den psychologischen Begriff „Bilanzsuizid“10, der von Alfred Hoche abgeleitet und von Peters genauer definiert wurde. Peters postuliert den Bilanzsuizid als eine „überlegte Selbsttötung psychisch gesunder Personen als freie Willenshandlung. Die Bilanz des bisherigen Lebens und der gegenwärtigen Situation wird aufgerechnet~ als negativ befunden und als Konsequenz die Selbstvernichtung ausgeführt.“11 Als Beispiel führt er die Situation einer älteren Person ohne Verwandte an, die an einer unheilbaren Krankheit leidet. Allerdings braucht man für den Bilanzsuizid nicht unbedingt unter einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Laut Hoche liegt auch ein Bilanzsuizid in den Fällen vor, in denen Kassierer und Banker, die seit vielen Jahren ein gutes Leben mit ausländischen Geldern führen, immer ein Gift bei sich tragen, um zum Zeitpunkt der Verhaftung ihr Leben zu beenden.12 Aus psychiatrischer Sicht ist zweifelhaft, ob es überhaupt ←20 | 21→einen Bilanzsuizid geben kann, da in den meisten Fällen die Suizidalität ein instabiles und vorübergehendes Gefühl ist.13 Es wurde sogar behauptet, dass der Todestrieb als nicht normal angesehen werden sollte, sondern als psychopathologische Zeichnung.14 Demnach basiert jede Suizidhandlung auf einer psychisch krankhaften Entscheidung und sollte daher als unfrei eingestuft werden.15 Dies führt zu dem Konzept des Appell-Suizids, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Wunsch, Suizid zu begehen, nicht endgültig, sondern bedingt ist.16 Suizidwille besteht, weil ein aktuelles Lebensproblem nicht allein gelöst werden kann. In diesem Szenario ist der Wunsch zu sterben ein Hilferuf.

Eine zweite Kategorie von Fragen basiert auf dem Kriterium, ob der Suizid eigenständig oder mit fremder Hilfe begangen wird. Hierbei stellt sich auch die wichtige Frage, ob es sich um eine Suizidbeihilfe im Sinne einer medizinisch bedingten Sterbehilfe handelt. Dieses Kriterium ist für die Bestimmung einer möglichen Haftung infolge eines erfolgreichen Suizids wichtig.

Drittens kann über die „harten“ und „weichen“ Suizidmethoden gesprochen werden. Zu den „weichen“ Suizidmethoden gehören die Vergiftungen mit tödlichen Medikamenten und anderen Mitteln. Die härtere Methode beinhaltet eine autoaggressive Aktion und sogar brutales Verhalten gegen sich selbst. Die Befürworter einer Legalisierung der Suizidhilfe sind der Ansicht, dass die Legalisierung die Anzahl der Suizide verringern und die Auswahl härterer Methoden verhindern könne. Ein wichtiges Problem hierbei ist, dass es unmöglich ist, die Begriffe scharf voneinander zu trennen. Es gibt auch Fälle wie bei dem des Kassierers und des Bankers, die zeigen, dass ein Bilanzsuizid möglicherweise nicht endgültig ist, sondern ein Hilferuf mit einem bloßen appellativen Charakter. ←21 | 22→Auch an einer unheilbaren Krankheit leidende alte Menschen ohne Angehörige begehen spontanen Suizid. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die härteren und milderen Suizidmethoden gleichzeitig in einem Fall bestehen können, was die Bestimmung praktisch erschwert. Begriffsklärung und Kategorisierung sind in drei Punkten wichtig:

1) um die empirischen Daten korrekt zu halten und somit die Suizidraten bzw. Suizidbeihilfedaten richtig einzuschätzen,

2) die Gestaltung einer möglichen Verbotsnorm im Lichte empirischer Daten und die Bestimmung der Tatbestände einer Straftat,

3) eine Verhinderung der Auslegungsprobleme von Rechtsnormen in der Praxis.

Mit Statistiken lässt sich leicht feststellen, ob ein Thema soziale Probleme verursachen kann. Auf diese Weise hat die WHO gezeigt, dass Suizid ein weltweites Problem ist. Somit können die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Die Daten aus anderen Ländern könnten daher helfen, um potenzielle Probleme in der Praxis zu erkennen und zu beseitigen.

In den deutschen juristischen Diskussionen stimmen die rechtlichen Folgen von Kriterien nicht überein. Nach dem abgeschafftem § 217 StGB bestand kein Unterschied zwischen der Beihilfe zum Suizid und Suizidbeihilfe im Sinne einer medizinisch bedingten Sterbehilfe. Das BVerwG ging in seiner letzten Entscheidung jedoch einen anderen Weg und sah einen Unterschied zwischen normaler Suizidbeihilfe und medizinisch bedingter Suizidbeihilfe vor. Nach seinem Urteil haben schwer und unheilbar kranke Menschen, die sich in extremer Notlage befinden, das Recht auf Sterben und dessen Umsetzung.

Letztendlich erkannte das BVerfG in seiner „bahnbrechenden“ Entscheidung auch das Recht zu Sterben und das Recht, bei ihrer Umsetzung zu helfen, an. Dementsprechend hängt das Recht auf Sterben und seine Umsetzung nicht davon ab, ob die Suizidhandlung auf einem medizinischen Hintergrund beruht oder nicht. Das Urteil des BVerfG konzentriert sich vielmehr auf die Selbstbestimmung und Autonomie des Sterbenden. In Anbetracht dieses Urteils wird es noch wichtiger festzustellen, ob ein Suizid frei begangen wurde.

II. Freiverantwortlichkeit eines Suizids

In der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur findet sich der Terminus „Bilanzsuizid“ bei Diskussionen über die Möglichkeit eines freiverantwortlichen Suizids wieder. Es wird argumentiert, dass im Falle eines „bilanziellen Suizids“ vor dem Hintergrund eines wirtschaftlichen oder persönlichen Notfalls die Rationalität ←22 | 23→der Suizidhandlung eher auf eine beibehaltene Fähigkeit zur Selbstbestimmung hinweist.17 Diese Ansicht wird kritisiert, da die psychischen Symptome einer depressiven Stimmung manchmal vernachlässigt werden.18

Unter dem Einfluss psychiatrischer Ansichten wird in der Rechtsliteratur auch argumentiert, ob ein frei verantwortlicher Suizid möglich ist, da die Wahrnehmungsfähigkeit bei einem in verschobener Wertewelt lebenden Suizidenten beschränkt ist.19Andererseits wird behauptet, dass medizinisches Wissen im Strafrecht nicht einfach normiert werden kann.20 Wie die Freiverantwortlichkeit zu bestimmen ist, war auch umstritten. Während der Bundesgerichtshof eine lange Zeit es vermieden hatte,21 in dieser Angelegenheit Maßstäbe zu setzen, wurde es in der Lehre ausführlich besprochen. Ein Teil des Schrifttums schlug vor, dass das Exkulpationsregeln-Verantwortungsprinzip (z. B §§ 19, 20, 35 I StGB, § 3 JGG), das Maßstab für die Tötung/Verletzung eines anderen ist, doch nicht unmittelbar, sondern analog angewendet werden sollte.22 Nach Exkulpationsregeln ist im Falle einer Fremdschädigung zu überprüfen, ob die strafrechtliche Verantwortung des Täters gemäß der jeweiligen Vorschriften auszuschließen ist, anders gesagt, ob der Fremdschädiger als Täter entschuldigt werden könnte.23 Unter Beachtung dieser Regeln könne die Suizid-Entscheidung einer Geisteskranken (§ 20 StGB), eines Kindes (§ 19 StGB) oder eines unter den Voraussetzungen des § 35 I StGB Handelnden nicht als freiverantwortlich angenommen werden.24 Dementsprechend kann die Teilnahme am Suizid nur ←23 | 24→bestraft werden, wenn der Suizid aufgrund der jugendlichen Unreife, einer psychischen Erkrankung, einer schweren psychischen Störung oder eines schweren Notfalls geschieht.25 Diese liberale Sichtweise führt zu einer weitreichenden Straflosigkeit für die Suizidbeteiligung.26

Details

Seiten
234
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631900628
ISBN (ePUB)
9783631900635
ISBN (Hardcover)
9783631896600
DOI
10.3726/b20763
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 234 S.

Biographische Angaben

Sule Karatas Görücü (Autor:in)

Şule Karataş Görücü hat an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität promoviert.

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