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Der Reichstag und die Vereinigten Staaten in der Wilhelminischen Epoche (1895-1914)

von Markus Hiltl (Autor:in)
©2023 Dissertation 616 Seiten

Zusammenfassung

Die Parlamentarisierung des Kaiserreichs steht im Zentrum dieser Untersuchung, da sie von großer Bedeutung für das Verständnis historischer Entwicklungen ist. Durch die detaillierte Analyse stenografischer Berichte, die bislang oft übersehen wurden, bietet dieses Werk tiefgreifende Einblicke in die tägliche Arbeit des Parlaments und das Wirken der Reichstagsabgeordneten. Ein besonderer Fokus liegt auf Themen mit USA-Bezug. Sie enthüllen den Prozess der informellen Parlamentarisierung und zeigen, wie die Abgeordneten ihre Präsenz und ihren Einfluss in außenpolitischen Beziehungen, einem Bereich, der ihnen traditionell verschlossen war, ausbauen konnten

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungen
  • FM Epigraph
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Die historiographische Sicht auf das Kaiserreich
  • 1.2. Die Reichstagsdebatten: Angewandte Interpretationsmethoden
  • Alte versus neue Elite: Der Reichstag als Labor und zentraler Ort dieses Konflikts
  • 1.3. Das demokratisch-parlamentarische System in der Wilhelminischen Epoche im Vergleich
  • 1.4. Der Reichstag und die Vereinigten Staaten
  • 1.5. Der historische Kontext der Wilhelminischen Epoche
  • 1.6. Der Reichstag im Verfassungsgefüge: Seine politische Bedeutung
  • 1.7. Der Reichstag: Kompetenzen und Wahl
  • Ansatz und Ziele der Arbeit
  • 2. Außenpolitik und Diplomatie des Deutschen Reichs: Der Reichstag als internationaler Akteur.
  • 2.1. Die „Interpellation Kanitz“ vom 11. Februar 1899
  • Exkurs 1: Die Reichstagspräsidenten: Vertreter der alten Elite als Stützen der Parlamentarisierung
  • Exkurs 2: Das Parlament als gesellschaftlicher Integrationsraum
  • 2.2. Der Spanisch-Amerikanische Krieg: Präsident McKinley, Deutschland und der amerikanische Imperialismus
  • 2.2.1. Die Wahl des Präsidenten und die Rede des antisemitischen Abgeordneten Ahlwardt
  • 2.2.2. Der Spanisch-Amerikanische Krieg und die Reaktion der Exekutive und des Reichstags
  • 2.2.3. Der Reichstag in den ersten Wochen des Krieges bis zum Ende der 9. Legislaturperiode
  • 2.2.4. Der Reichstag blickt auf den Spanisch-Amerikanischen Krieg zurück
  • 2.2.5. Zwischenbilanz Spanisch-Amerikanischer Krieg
  • 2.3. Die Flottenpolitik: Das erste Flottengesetz
  • 2.3.1. Die Gründe für eine starke Flotte
  • 2.3.2. Die erste Lesung des Flottengesetzes im Reichstag
  • 2.4. Deutsch-amerikanische Kolonialkonkurrenz um die Philippinen
  • 2.4.1. Kontext: China als eigentliches Ziel kolonialer Expansion
  • 2.4.2. Die Sicht der Reichsleitung auf die Philippinenfrage und den Manila-Zwischenfall
  • 2.4.3. Der Reichstag und die Philippinenfrage im Kontext des zweiten Flottengesetzes
  • 2.5. Deutschland erwirbt einen Teil des spanischen Kolonialreichs im Pazifik.
  • 2.5.1. Die Reichsleitung und der Erwerb der Karolinen
  • 2.5.2. Die Reichstagdebatten nach dem Erwerb ehemaliger spanischer Kolonien
  • 2.6. Der Kampf um die Vorherrschaft auf Samoa
  • 2.6.1. Vom Beginn der europäischen Herrschaft bis zu den Verhandlungen der Samoa-Akte 1889
  • 2.6.2. Der westliche Teil der Samoainseln wird endgültig zu einer deutschen Kolonie
  • 2.6.2.1. Der Streit um die Vorherrschaft auf Samoa eskaliert
  • 2.6.2.2. Auf dem Weg zu einer Lösung der Frage
  • 2.6.3. Die Samoa-Akte im Reichstag
  • 2.6.3.1. Die Interpellation des Reichstags vom April 1899 zu Samoa
  • 2.6.3.2. Die Reichstagssitzungen im Dezember 1899: Samoa und das Zweite Flottengesetz
  • Zusammenfassung Samoa
  • 2.7. Das zweite Flottengesetz
  • 2.7.1. Erste Lesung: Die USA sind nur wenig präsent
  • 2.7.2. Zweite Lesung: Die Frage der Finanzierung des Gesetzes, die USA gewinnen an Bedeutung.
  • 2.7.3. Dritte Lesung: Rechtfertigungen des Abstimmungsverhaltens und Klarstellungen
  • Fazit Zweites Flottengesetz
  • 2.8. Die Venezuela-Krise 1902/1903: Deutschland als Herausforderer der Monroe-Doktrin
  • 2.8.1. Die Vorgeschichte
  • 2.8.2. Die Ereignisse in Venezuela eskalieren
  • 2.8.3. Die USA als Vermittler im Konflikt mit Venezuela
  • 2.8.4. Die Reichstagssitzung am 20. Januar 1903
  • 2.8.5. Vollmars Systemkritik im Zuge der Venezuelakrise
  • 2.8.6. Das Deutsche Reich als Herausforderer der Monroedoktrin
  • 2.8.7. Die Debatten zum Vorgehen der Reichsleitung in Bezug auf Venezuela im Januar 1903
  • 2.8.8. Die Debatten im Reichstag und die Venezuelakrise im Februar 1903
  • 2.8.9. Die Rede von Gustav Roesicke: Ein Beispiel für die informelle Parlamentarisierung über den Umweg der außenpolitischen Stellungnahme.
  • 2.8.9.1. Außenpolitik und die Probleme der Landwirtschaft
  • 2.8.9.2. Venezuela und „die Amerikaner“
  • Zusammenfassung Venezuelakrise
  • Fazit Reichstag als außenpolitischer Akteur
  • 3. Die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen
  • 3.1. Die Interpellation Bassermann
  • 3.1.1. Die Rede Bassermanns und die Standard Oil Company
  • 3.1.2. Die Debatte
  • 3.1.2.1. Theodor Barth – linksliberales Weltbild und Annäherung an die Sozialdemokratie
  • 3.1.2.2. Wilhelm von Heyl zu Herrnsheim – moderne nationalliberale Anschauungen
  • 3.1.2.3. Die Sicht des Zentrums – Peter Joseph Spahn
  • 3.1.2.4. Diederich Hahn und der Bund der Landwirte
  • 3.1.2.5. Die Antwort von Posadowsky-Wehner und die Rede von Otto Fischbeck: auf dem Weg zu einem modernen Parlamentarismus und Politikstil
  • 3.1.2.6. Max Schippel – die Sicht der SPD und der zukunftsträchtige revisionistische Flügel
  • 3.1.2.7. Diederich Hahn – die Landwirtschaft und die alte Elite in der Defensive
  • 3.1.2.8. Bewertung der Debatte
  • 3.2 Das Handelsabkommen von 1907
  • Prolog: Die Betrachtung der Handelsbeziehungen zu den USA als Vorwand für das Ansprechen innenpolitischer Probleme
  • Theodor Barth und die geheime Wahl
  • Theodor Barth und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten
  • 3.2.1. Die Vorgeschichte des Handelsabkommens
  • 3.2.2. Beginn der Debatten zum Handelsabkommen mit den USA im Februar 1906: Die provisorische Gewährung der Meistbegünstigung bis 1907
  • 3.2.2.1. Erste Lesung, 22. Februar 1906
  • 3.2.2.2. Zweite Lesung
  • 3.2.3. Die Debatten zum Handelsabkommen vom Mai 1907 nach dem Auslaufen des Provisoriums
  • 3.2.3.1. Erste Lesung, 7. Mai 1907
  • 3.2.3.2. Zweite Lesung, 13. Mai 1907
  • Zusammenfassung Wirtschaft
  • 4. Gesellschaftliche Fragen
  • 4.1. Die „Rassenfrage“ und die „Mischehen“
  • 4.1.1. Die „Rassenfrage“
  • 4.1.1.1. In den Kolonien
  • 4.1.1.2. Die Nutzbarmachung der Kolonien: Der Baumwollanbau und die Qualifizierung der Afrikaner
  • 4.1.1.3. Die Baumwollkultur um 1912: Das Ende der Illusionen
  • 4.1.1.4. „Neger“ und diffamierende Äußerungen als innenpolitische Kampfbegriffe
  • 4.1.2. Die „Mischehen“
  • 4.1.2.1. Resolution betreffend die Mischehen, 8. Mai 1912: Staatssekretär Solf stellte sie vor
  • 4.1.2.2. Die Debatte
  • Fazit zur Mischehendebatte
  • Zusammenfassung „Rassenfrage“
  • 4.2. Die soziale Frage – die Gewerkschaften, die Arbeiterfrage, das Arbeitsrecht
  • 4.2.1. Die Gewerkschaften und die Reform der Gewerbeordnung
  • 4.2.2. Wilhelm von Kardorff und die alte Elite
  • 4.2.3. Arbeiterkämpfe in den USA – Beispiele
  • 4.2.4. Arbeitsrechte als Kampf um Demokratisierung und Parlamentarisierung
  • 4.3. Die Migration
  • 4.3.1. Die Rückwanderung aus den USA als wirtschaftliches und gesellschaftliches Problem
  • 4.3.2. Auswanderung eindämmen zum Nutzen der Nation
  • 4.4. Die Frage der Reichs- und Staatsangehörigkeit
  • 4.4.1. Der lange Weg zu einem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz
  • 4.4.1.1. Das Erschweren der Einwanderung in den USA
  • 4.4.2. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913
  • 4.4.2.1. Sollen Ausländer die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten können?
  • 4.4.2.2. Die Sicht der Sozialdemokratie und der Linken
  • 4.4.2.3. Die konservative Sicht
  • 4.5. Die Frauenfrage
  • 4.5.1. Die Gleichstellung der Frau als Gradmesser der Demokratisierung
  • 4.5.2. Das Frauenstudium
  • 4.5.3. Das Frauenwahlrecht: Ein bis zum Ende des Kaiserreichs ungeklärtes Thema
  • Zusammenfassung Gesellschaft
  • Fazit
  • Danksagung
  • Literaturverzeichnis
  • Quellen:
  • Literatur:
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

Abkürzungen

AA

Auswärtiges Amt

BdI

Bund der Industriellen

BdL

Bund der Landwirte

BHStA

Bayerisches Hauptstaatsarchiv

CDI

Centralverband deutscher Industrieller

DHPG

Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft

DK

Deutschkonservative Partei

FVg

Freisinnige Vereinigung

FVp

Freisinnige Volkspartei

FVP

Fortschrittliche Volkspartei

GP

Die Große Politik der Europäischen Kabinette

Leg.-Periode

Legislaturperiode

NLP

Nationalliberale Partei

RV

Reichsverfassung

Stg. Berichte

Stenografische Berichte

Z

Zentrum

“A German writer [Hans Delbrück] has said recently, In Germany we hold a strong independent Government, assisted by a democratic Parliament, to be a better scheme than the continual change of party rule customary in England.”

T. Mahan

1. Einleitung

Zu Ende des 19. Jahrhunderts entstanden auf beiden Seiten des Atlantiks zwei neue Großmächte: Die Vereinigten Staaten von Amerika und das Deutsche Reich (1871–1918, dessen Geschichte offiziell am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles ihren Anfang genommen hatte). Während es in der Bismarckzeit zwischen Deutschland und den USA noch relativ wenig Reibeflächen gab, änderte sich dies im Laufe der Wilhelminischen Epoche.1

Als Zäsur in den bilateralen Beziehungen zu den USA kann man die Jahre ab dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 18982 bis zur zweiten Venezuelakrise 1902/03 sehen. Wenn man die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in den USA und im Deutschen Reich in den Jahren nach 1890 betrachtet, kann man somit sowohl einen „Wettlauf um die Moderne“3 dieser Entwicklungen als auch Annäherungsversuche auf Grund der Parallelitäten erkennen.4 Der amerikanische Journalist und Historiker Henry Adams machte dazu in einem Brief folgende Beobachtung: „Nothing is more curious to me than the sudden change of our national susceptibilities. Down to 1898 our bête noire was England. Now we pay little or no attention to England, we seem to regard her as our property; but we are ridiculous about Germany. The idea of a wretched little power like Germany, with no coast, no colonies and no coal, attacking us, seems to me too absurd for a thought, but Cabot and Theodore and the Senate and Moody seem to have it on brain.“5

In einer wichtigen Studie hat Marek Czaja6 die Sicht der Reichstagsparteien zwischen 1898 und 1903 auf die USA untersucht. Er hat dabei den Schwerpunkt auf die wirtschaftlichen und imperialistischen Fragen gelegt. Ziel seiner Arbeit war es, eine Bestandsaufnahme der Sichtweisen der verschiedenen Reichstagsparteien auf die USA zu erstellen, kurz gesagt, eine Geschichte der Wahrnehmungen.

In der vorliegenden Arbeit ist das Ziel nun ein wesentlich anderes. Themen, die die Vereinigten Staaten im Allgemeinen und die Beziehungen des Kaiserreichs zu den Vereinigten Staaten von Amerika im Besonderen betrafen, standen zwischen der Außen- und Innenpolitik und stellten einen „geeigneten Ansatzpunkt zu parlamentarischen Eingriffen“7 und zu dem damit verbundenen Versuch des Reichstags dar, seine verfassungsmäßig begrenzten Kompetenzen auszuweiten. Durch eine Analyse der Art und Weise also, wie sich der Reichstag das Thema der Beziehungen des Reiches zu den Vereinigten Staaten zu eigen machte, soll ein besseres Verständnis erreicht werden, wie es ihm gelang, einen immer wichtigeren Platz in der institutionellen Funktionsweise – zumindest als Korrektiv des Regierungshandelns – sowie in den Überlegungen kommerzieller und wirtschaftlicher Art und in den politischen Debatten einzunehmen. Es geht in der Arbeit also nicht darum, eine Geschichte der Beziehungen zwischen dem Kaiserreich und den Vereinigten Staaten zu schreiben oder gar eine Geschichte der USA zu verfassen, sondern es soll versucht werden, einen Beitrag zur Parlamentsgeschichte zu leisten, indem Aspekte der Verflechtung von Innen- und Außenpolitik und die Instrumentalisierung dieser Beziehung und Fragen durch die Parlamentarier aufgezeigt werden.8 Diese Auseinandersetzung der Parlamentarier mit Fragen also, die die Vereinigten Staaten und/oder ihre Beziehungen mit dem Kaiserreich betrafen, trugen zu einer Transformation des Deutschen Reiches bei, das den Tendenzen der Zeit entsprechend in die Dynamiken der Demokratisierung, der Parlamentarisierung und der Erweiterung der öffentlichen Sphäre, die insbesondere mit dem Aufschwung der Presse verbunden war, einbezogen war. Und obwohl das Parlament keine formelle Kompetenzausweitung in außenpolitischen Fragen erreichte, so wurde doch informell eine größere parlamentarische Mitwirkung an außenpolitischen Entscheidungen erzielt. Der Abgeordnete und Vorsitzende der linksliberalen Freisinnigen Volkspartei Eugen Richter hatte dazu in Bezug auf die Kolonialpolitik erklärt, dass die Möglichkeit, im Reichstag Kritik zu äußern, „abschreckend wirken kann auf Exzesse und Rechtswidrigkeiten.“9 Um nun diese Entwicklungen genauer zu verstehen, ist es zunächst notwendig, sich mit einer Reihe von Vorannahmen auseinanderzusetzen, die nach wie vor auf der Geschichtsschreibung dieses Reiches lasten, nämlich mit seinen verfassungsrechtlichen Grundlagen und mit seiner Fähigkeit – oder gar Unfähigkeit –, an der Wende zur „Moderne“ teilzunehmen. An dieser Stelle ist es dem Verfasser wichtig zu betonen, dass weder eine Anklage noch eine Verteidigung des Kaiserreichs im erkenntnistheoretischen Interesse dieser Untersuchung liegt und dass der Verfasser sich der Gefahren, der möglichen Missverständnisse und der zu erwartenden polemischen Angriffe angesichts eines weiterhin so emotionalisierten Themas bewusst ist.10

Die verfassungsrechtliche Bezeichnung Deutsches Reich war gemeinsam vom Reichstag des Norddeutschen Bundes und mit den süddeutschen Staaten am 10./11. Dezember 1870 beschlossen worden, und die Geschichte dieses Gebildes nahm offiziell am 18. Januar 1871 durch die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles ihren Anfang, nachdem der bayerische König Ludwig II. Im Namen der deutschen Fürsten am 18. Dezember 1870 dem preußischen König die deutsche Kaiserwürde angetragen hatte. Der preußische König sollte als „Deutscher Kaiser“ oberstes Organ dieses Gebildes sein.11 Dieses Gebilde bestand aus 25 Mitgliedstaaten, die sich im Bundesrat 58 Stimmen teilten. Allerdings verfügte Preußen mit 17 Stimmen über eine große Entscheidungsmacht, der gegenüber vor allem die 17 Kleinstaaten mit nur einer Stimme deutlich unterlegen waren. Im Vergleich zum Alten Reich12 war die Verfassung Deutschlands, das sich nun auf seinen deutschsprachigen Kern konzentrierte, also weit zentralistischer angelegt, wenngleich auch das Deutsche Reich stark föderalistisch geprägt blieb. Am 26. April 1871 hatte der im März 1871 gewählte erste Reichstag schließlich diese neue Verfassung angenommen. Damit war der Staatsbildungsprozess abgeschlossen.

In der folgenden Studie soll nun der Reichstag, dem Historiker Hans Fenske zufolge eine weit unterschätzte Institution des Kaiserreiches,13 diese beinahe „vergessene Institutionen,“14 die jedoch bei der rationalen und systemisch evolutionären15 informellen Entwicklung und Veränderung der Verfassung hin zu einem Parlamentarismus im Laufe des Kaiserreichs wesentlich beteiligt war, in den Fokus gerückt werden. Denn „wie stark auch immer in Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit des Bismarckschen Reichs die traditionellen Momente geblieben sein mögen. […]. Das eigentlich epochemachende war doch der Übergang zum bürgerlichen Repräsentativsystem.“16 In der Tat lässt sich in der jüngsten Forschungsliteratur ein erwachtes Interesse am Parlament feststellen. Oliver Haardt etwa widmet in seinem Werk Bismarcks ewiger Bund dem „Aufstieg des Reichstags“ ein ausführliches Unterkapitel.17 Die genaue Untersuchung der Reichstagsdebatten zu Themen mit USA-Bezug lässt die Zeit nach 1895 in einem gewissen Kontinuum in Hinblick zunehmender Demokratisierung und Parlamentarisierung escheinen, welche im Grunde mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. und dem „Neuen Kurs“ eingeschlagen wurde und wohl eingeschlagen werden musste. Ein vom Historiker Wolfram Pyta anlässlich des 30. Jahrstages der Entscheidung, den Sitz des Parlaments und der Regierung des wiedervereinigten Deutschlands in Berlin anzusiedeln, in der FAZ veröffentlichte Artikel, welcher dafür eintrat, die parlamentarischen Traditionslinien Deutschlands bis ins Kaiserreich zurückzuverfolgen und den Parlamentarismus Deutschlands dort grundgelegt zu sehen, bezeugt die Aktualität und auch Brisanz der Fragestellung: Sie ist in der Historiographie weiterhin ein Streitpunkt.18

Marcus Kreuzer hatte nach vielen Jahrzehnten einer, wie es Haardt schreibt, „ziemlich undurchsichtigen Debatte über die Parlamentarisierung des Reichs […] etwas Ordnung in dieses Wirrwarr gebracht“19. Kreuzer teilte die Historiker dabei in drei Gruppen ein: die Optimisten, die Pessimisten und die Skeptiker. Zu ersteren zählte er Manfred Rauh, Thomas Nipperdey, Christoph Schönberger oder Ernst-Wolfgang Böckenförde. Auch Paul Nolte kann man wohl dazu zählen.20 Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler und Volker R. Berghahn ordnete er den Pessimisten zu und Gerhard A. Ritter oder David Blackbourn den Skeptikern.21 Insgesamt lässt sich jedoch eine erhebliche Unbeweglichkeit der historischen Debatte feststellen, die weiterhin fortzuwirken scheint. So gehen selbst eher optimistische Historiker wie Eckhart Conze, wie es Ewald Frie in seiner Rezension schrieb, über bereits von ihnen gemachte Erkenntnisse wieder zurück, um schließlich doch ihre pessimistische Sichtweise zu vertreten.22 Die Beiträge der Historikerin Hedwig Richter23 hingegen werden als viel zu optimistisch betrachtet und von weiten Teilen der etablierten Zunft grundsätzlich abgelehnt. Auch Christoph Nonn kommt trotz einer im allgemeinen recht optimistischen Sicht auf die sozialen und politischen Verhältnisse im Kaiserreich im Vergleich zu Großbritannien, Frankreich oder den USA24 letztendlich wieder zu einem negativen Schluss aufgrund der fehlenden Parlamentarisierung, wie wir sie uns heute vorstellen. Der Prozesscharakter der Parlamentarisierung, wie es bereits das Suffix ausdrückt, wird immer wieder vergessen, nicht beachtet und es scheint eine Obsession für einen nicht vorhanden Status quo zu geben, die im Grunde auf eine Verkennung historischer Abläufe gründet. Verlaufen geschichtliche Veränderungen denn nicht meist nach dem Prinzip eines Aufbauens von Druck in eine bestimmte Richtung, der sich erst im günstigen Moment, im Kairos entladen kann?25 Und verlief die Geschichte des Kaiserreichs nicht so? Statt den Prozesscharakter zu sehen, das Aufbauen von Druck, das Aufstauen bestimmter demokratisch-parlamentarischer Erregungen wird ceterum censeo gleich am Schluss der meisten Studien und Beiträge zum Kaiserreich das Mantra wiederholt: Und eine parlamentarische Demokratie war es nicht. Dies führt zu einer relativen Verkrustung der Debatte und sie mag zurückgehen auf eine seit den 1970er Jahren bis erst in die jüngste Zeit weitgehende Einstellung empirischer Forschung zum Reichstag und zur Parlamentarisierung. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, wenn sich die Forschung nun für das Leben der Reichstagsabgeordneten eingehender interessieren, um dadurch besser einordnen zu können, wie der Umgang der Parlamentarier untereinander war, welche informellen Beziehungen es gab, wie sich die Gruppe der Reichstagsabgeordneten herausbildete. Denn noch herrscht zumindest außerhalb eines relativ kleinen Zirkels weiterhin eine „pessimistische“ Sicht auf den persönlichen Umgang der Parlamentarier untereinander vor. Diese Forschung würde mithin stark helfen, genauer zu verstehen, welche Rolle das Parlament trotz der Verfassung spielte. Wenngleich nun die vorliegende Studie wohl eher einer optimistischen Sichtweise zugeneigt erscheint, so war es doch das Hauptanliegen, die Debatten im Reichstag eingehender zu untersuchen, sie unvoreingenommen und objektiv zu analysieren. Es sollte sozusagen in den Maschinenraum der Legislative geblickt werden, um zu sehen, wie gesprochen wurde, welche Themen auf welche Weise behandelt wurden, wer sprach, wie der Ton war, wie die Abgeordneten auf Redebeiträge reagierten und wie sie sich gegenüber den Vertretern der Exekutive verhielten. Die Studie interessiert sich somit nicht nur für den Sprechtext, sondern auch für den vom Protokoll notierten Paratext (Zwischenrufe, Reaktionen des Parlaments, spontane Reaktionen der Redner).

Grundsätzlich stehen zu dem Themenkomplex Parlamentarisierung und Demokratisierung häufig zwei antagonistische Positionen gegenüber: Einmal der Gedanke, dass die Demokratie und der Parlamentarismus im modernen Sinne aus dem Wechselspiel von Gewaltandrohung von unten und deren reformistischen Einhegen von oben resultieren. Dann die Sichtweise, dass demokratische Teilhabe nicht von außen und über Druck auf die Herrschenden erzeugt worden ist, sondern von den Herrschenden wegen innerer Zwänge eines parlamentarischen Systems aus utilitaristischen, herrschaftspraktischen Überlegungen und konkreten Notwendigkeiten ausgeweitet wurde.26 Aus den Untersuchungen der vorliegenden Studie ergab sich hingegen die Einsicht, dass sich Demokratisierung und Parlamentarisierung gegenseitig verstärkten, beeinflussten und bedingten. Ohne das Fazit der Studie vorwegnehmen zu wollen, ergab sich das Bild der Geschichte des Deutschen Reichs als einer Staatsform auf dem langen Weg einer „informellen“ Parlamentarisierung – die Wahl des Attributs soll weiter unten genauer erklärt werden ̶ vor dem Hintergrund der voranschreitenden Demokratisierung. Es soll also, um noch einmal mit Haardt zu sprechen, untersucht werden, „wie sich die Rolle des Reichstags im Zuge […] des allgemeinen Wandels […] veränderte“27. Es handelt sich hier somit um eine Institutionengeschichte, die jedoch die Rolle der individuellen Akteure und ihre Integration und Einbettung in die Zeit nicht vernachlässigen möchte. Die Studie versucht dabei eine Verbindung von strukturgeschichtlicher mit einer kulturgeschichtlichen, ethnografischen und mikrogeschichtlichen Herangehensweise28. Sie folgt der Überlegung, dass sich für die Forschung „ein überaus interessantes Arbeitsfeld“ öffnen würde, „würde sie versuchen, auch die Schaltzentralen der Macht – Regierung, Parlament, Fraktionen u.a. – der kulturgeschichtlichen Erweiterung des Faches zu öffnen“.29

1.1. Die historiographische Sicht auf das Kaiserreich

Das Kaiserreich, wie es hier abwechselnd mit Deutsches Reich bezeichnet werden soll, stellt für die neuere deutsche Geschichte seit dem Ende des Alten Reichs im Jahre 1806 eine sehr wichtige und einschneidende Epoche dar, denn es „war im Übergang vom frühmodernen zum hochmodernen Staat begriffen.“30 Die beiden Fundamentalprozesse des 19. Jahrhunderts in Deutschland waren Nationalisierung und Demokratisierung bzw. Konstitutionalisierung. Diese beiden Prozesse waren die Triebfedern für die weitere politische Entwicklung Deutschlands, die im Grunde bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 und eigentlich bis zur Wiedervereinigung 1990 andauerten. Diesen Prozessen gemäß strebten die Deutschen nach der Französischen Revolution und den Niederlagen in den Napoleonischen Kriegen einen konstitutionellen, national geeinten Staat an. Dieser erschien vielen Zeitgenossen nur in einem starken Nationalstaat nach französischem oder britischem Muster, die das Ideal darstellten, verwirklichbar. Das aus der Durchsetzung der kleindeutschen Lösung über den Norddeutschen Bund im Jahr 1871 gegründete Deutsche Reich sollte im Laufe der Jahrzehnte versuchen, eine immer stärkere nationale Identität zu entwickeln und die Zentralisierung voranzutreiben. Die Herstellung nationaler Einheit war eine der Voraussetzungen für die Errichtung eines zentralisierten Nationalstaates. Im Deutschen Reich erwies sich dies jedoch wegen seiner multiethnischen Zusammensetzung, der gewachsenen föderalistischen Struktur mit starken regionalen Loyalitäten und Identifikationen und bis tief in die lange Geschichte des Alten Reiches zurückreichenden Traditionen, Denkmustern, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen als schwierig. Die nationalen Eliten, wie eben die Reichstagsabgeordneten, Akademiker, Journalisten, hohe Beamte, Generäle und Unternehmer, zumal diejenigen preußischer Herkunft, stießen immer wieder an eine gewisse nationale Indifferenz31 und Opposition. Um diese zu überwinden, brauchte es nationaler Institutionen (Kaiser, Reichstag) und Unternehmungen (Flotte, Kolonien). Wenngleich das Jahr 1918 im Rückblick als die große Zäsur erscheint und das Deutsche Reich mit der Abdankung Kaiser Wilhelms II. und der Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann am 9. November 1918 unterging, sahen die Jahre 1871 bis 1914/18 doch nur eine unvollständige Realisierung dieses Ideals und der Kampf um das richtige Austarieren der nationalen und der regionalen Identitäten und Kompetenzen. Der im Kaiserreich geschaffene oder ausgebaute rechtlich-institutionelle Unterbau der modernen Gesellschaft sowie die damals entwickelten Beteiligungsmechanismen der im Entstehen befindlichen Zivilgesellschaft32 sind zum guten Teil noch bis in die heutige Bundesrepublik gültig.33 In dieser Sicht erscheint das Deutsche Reich als Wegbereiter von politischer und gesellschaftlicher Modernität,34 wenngleich die ebenso im Kaiserreich sich auszubilden beginnenden nationalistischen, chauvinistischen und rassistischen Tendenzen und Gedanken, die im Dritten Reich ihren katastrophalen und tragischen Höhepunkt erreichten und zum Teil bis in die Gegenwart nachwirken, nicht ausgeblendet werden können und dürfen.

Für die Geschichte des Deutschen Reichs wird in der Regel von einer Zweiteilung ausgegangen:35 Die ersten Jahrzehnte von der Reichsgründung bis zur Entlassung des Reichskanzlers Otto von Bismarck 1890 bzw. bis zur Kanzlerschaft Leo von Caprivis (1890–1895) stellen einen ersten Epochenabschnitt dar. Die Zeit nach 1890/95 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird als zweiter Epochenabschnitt verstanden.36 Trotz aller Kritik vor allem an ihren sozialen und gesellschaftlichen Härten und ihren Demokratiedefiziten, die in der Sozialistengesetzgebung und im Kulturkampf deutlich sichtbar wurden, versuchen jüngere Darstellungen, die Leistungen und Mängel von Bismarcks Politik ausgeglichen zu betrachten.37 So werden Bismarcks Bündnispolitik und sein Heraushalten des Reichs aus den europäischen weltpolitischen Ambitionen und Kolonialbestrebungen eher als positiver Beitrag zur Beibehaltung des bestehenden Mächtegleichgewichts und der daraus folgenden Abwesenheit von Konflikten und Kriegen, zumindest zwischen europäischen Mächten, bewertet.38

Der zweite Abschnitt, die sog. Wilhelminische Epoche, die nun für unsere Untersuchung relevant ist, wird in der Historiographie hingegen kontrovers beurteilt. Die ersten Jahre der Regierungszeit Wilhelms II., in der die Politik des „Neuen Kurses“ eingeleitet und verfolgt wurde, gelten in der Historiografie als Zeit der Hoffnung. Mit Hilfe von Reformen im Bereich der Finanzpolitik- und Innenpolitik, der Sozialpolitik und Handelspolitik sollten die Stagnation und die inneren Spannungen der letzten Jahre der Bismarckzeit überwunden werden. Die Reformen zumal in der Sozialpolitik und auch der Handelspolitik werden durchaus als gewisser Erfolg und Fortschritt bewertet, obschon sie nicht weit genug gingen, um Deutschland im heutigen Sinne zu demokratisieren und zu parlamentarisieren.39 Allein mit dem Einbringen der Umsturzvorlage im Dezember 1894 im Reichstag, die zwar von diesem im Mai 1895 zurückgewiesen wurde,40 und der Absetzung Caprivis schienen sich die eher reaktionären Vertreter der alten Elite durchgesetzt zu haben. Und so werden die Regierungsjahre Wilhelms II. vor 1895 als in gewisser Weise einer anderen Epoche angehörig betrachtet, als die Zeit nach 1895. Im Lichte der Tatsache, dass der Nationalsozialismus weiterhin den Dreh- und Angelpunkt der Historiographie zum 19. und 20. Jahrhundert darstellt41 und das Deutsche Reich lange Zeit Bezugspunkt nationaler und staatlicher Selbstbeschreibung der Deutschen war,42 wurde zunächst das Erstarken weltpolitischer, kolonialer und auch hegemonialer Ambitionen und Vorstellungen im Kaiserreich nach etwa 1895 und die Politik der freien Hand, also das Losgelöstsein von Bündnisverpflichtungen, als einer der Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Zerstörung des bis dahin herrschenden europäischen Mächtegleichgewichts gesehen. Bestimmte in der Wilhelminischen Epoche wurzelnde gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklungen wurden sodann als grundlegend für den Aufstieg und die Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur und für die in seinem Namen ausgeführten Verbrechen gesehen.

Nun waren allerdings das Deutsche Reich im Allgemeinen und die Regierungszeit Wilhelms II., hier wiederum vor allem die Jahre nach 1895, im Besonderen für Deutschland eine Zeit höchster wirtschaftlicher und demografischer Dynamik. Die Historiographie zum Kaiserreich bewegt sich demnach im Wesentlich an zwei Narrativen entlang: Zum einen untersucht sie das Verhältnis des ersten deutschen Nationalstaats zur national nicht geeinten Geschichte vor 1871 und zur katastrophischen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zweitens wurde das Kaiserreich als eine in sich faszinierende Wandlungsepoche beschrieben, in der Deutschland vom Agrar- zum Industriestaat wurde, sich die Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft vollzog, der Interventions- und Wohlfahrtsstaat ausgebaut wurden und der Moderne in Kunst, Literatur, Musik der Durchbruch gelang.43 Nach den Jahren der durch die Gründerkrise 1873 ausgelösten „Großen Depression“, welche jedoch heute eher als eine Zeit der Stagnation und der Absorption der bis dahin tiefgreifenden Wandlungen beschrieben wird, kam es zu einem beschleunigten Aufschwung, der vor allem von den damaligen Hochtechnologien der Elektro- und Chemieindustrie und des Maschinenbaus getragen wurde.44 Berlin, die neue Reichshauptstadt, wurde zum Sinnbild dieser Modernität und zum steigenden Reichtum zumal der Mittelschicht.45

Nicht zuletzt auf Grund eben dieser wirtschaftlichen und kulturellen Stärke46 formulierte das Reich ab den 1890er Jahren seine weltpolitischen, militärischen und kolonialen Ambitionen auch zunehmend vehementer, was ihm in bürgerlichen Kreisen Großbritanniens etwa durchaus zugestanden wurde.47 So hatte Deutschland bis 1913 die zweitstärkste Marine der Welt aufgebaut und verfügte über das größte Landheer.48 Mithin hat sich die Forschung mit den Jahren nach 1895 und den in diesen Jahren vollzogenen umwälzenden Entwicklungen und Ereignissen in Gesellschaft und Wirtschaft des Deutschen Reichs eingehend beschäftigt. Den internationalen Beziehungen und der Außenpolitik und der Diplomatie des Kaiserreichs, seinen staatlichen Beziehungen zu fremden Mächten, seinen gegenseitigen Abhängigkeiten, Handlungsverschränkungen und Beziehungsgeflechten wurden ebenso zahlreiche Forschungen gewidmet.49 Eingehend untersucht wurden dabei vor allem die Beziehungen Deutschlands zu England und Russland und die Bündnispolitik des Deutschen Reichs und der anderen Mächte.50 Russland und Großbritannien galten dabei neben Frankreich als die wichtigsten Konkurrenten und auch potentiellen Gegner des aufstrebenden Deutschen Reichs. Allerdings wurden für die deutsche Außenpolitik in der Wilhelminischen Epoche zumeist nur drei Akteure ausgemacht, nämlich Kaiser, Reichskanzler und Auswärtiges Amt (AA). Die von der Neuen Diplomatiegeschichte definierten nicht-professionellen, nur zeitweise außenpolitisch relevanten Akteure wie Geschäftsleute, Reisende oder Wissenschaftler und Gelehrte wurden zwar untersucht, zumal im Rahmen des kulturgeschichtlichen Ansatzes betont werden sollte, dass „Außenpolitik immer das Resultat eines Mehrebenenprozesses ist: einerseits von vertikalen Interaktionsprozessen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren im internationalen Raum und andererseits von horizontalen Verhandlungsprozessen zwischen staatlichen Akteuren und gesellschaftlichen Gruppen innerhalb eines politischen Systems oder zwischen mehreren politischen Systemen.“51

Ein institutioneller Akteur in den Außenbeziehungen wurde aber meist nicht er- und anerkannt: der Reichstag.52 In der vorliegenden Arbeit soll mithin neben anderen Politikfeldern, wie gesellschaftlichen Fragen und Handels- und Wirtschaftsfragen die Rolle des Reichstags auch in diesem Politikfeld genauer untersucht und interpretiert werden.

Insbesondere Kaiser Wilhelm II.53 und seine Politik, vor allem seine Außenpolitik, standen im Fokus des historischen Interesses. Die komplexe Persönlichkeit des Kaisers, der „mal schwülstig, dann wieder nachdenklich, brutal, naiv, eloquent, berechnend oder auch taktlos auftreten“54 konnte, seine oft marktschreierisch mit Geistesgestörtheit in Verbindung gebrachte persönliche Tragik55 haben auf die Forschung immer eine gewisse Faszination ausgeübt. „An seiner Persönlichkeit [scheiden] sich die Geister“, wie es Christopher Clark ausdrückte: Die einen, etwa John Röhl, der vielleicht wichtigste Biograph Wilhelm II., sehen diesen als „Nemesis der Weltgeschichte“, als „Vorbote Adolf Hitlers“56. Die Wilhelminische Epoche, verkörpert in der Gestalt des Monarchen, mit all seinen Widersprüchen57 und seiner die Gesellschaft zutiefst verändernden Dynamik wird von diesen Historikern also häufig als das wichtigste Momentum auf den Weg Deutschlands in die Hitler-Diktatur und die Katastrophe des Dritten Reiches mit all seinen Verbrechen ausgemacht.58 Diese Sichtweise wurde inzwischen durch zahlreiche sozialgeschichtliche Forschungen relativiert.59 Denn andere Historiker, wie Hans Rall60 oder Nicolaus Sombart, betonen die moderne, wohlwollende und die Verfassung respektierende Seite des Monarchen.61 Die „scharfen Konturen zwischen den beiden Lagern“ haben sich aber nach Ansicht von Christopher Clark mittlerweile ein wenig abgestumpft. Und dennoch: Der letzte deutsche Kaiser bleibt weiterhin ein besonders ergiebiges Thema, der „als Symbolfigur größerer, historischer Zwänge“62 erscheint und über dem man die Spannungsfelder wie Monarchie und Demokratie, Eliten und Massen untersucht.63

Über die umstrittene Persönlichkeit Wilhelm II. hinweg hatte das politische System des Kaiserreichs selbst aber bereits seit seiner Gründung Kontroversen unter Historikern ausgelöst. Diese wurden nach dem Zweiten Weltkrieg dann sehr virulent. Das kam etwa in der Fischer-Kontroverse, die mit Fritz Fischers Buch von 1961 Griff nach der Weltmacht über die Frage nach der deutschen Schuld am Beginn des Ersten Weltkriegs diskutiert wurde,64 und in der Sonderweg-Debatte am Stärksten zum Ausdruck.65 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war ein Ereignis so weitreichender Bedeutung, dass er weiterhin Monographien und Sammelbände hervorbringt. Bereits in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde das Interesse für Wilhelm II. und den Ersten Weltkrieg noch durch die Sonderweg-Debatte verstärkt, die ja so eigentlich bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begonnen hat.66 Sowohl deutsche als auch alliierte Historiker suchten seit 1914 nach den deutschen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten im Vergleich zu den kapitalistischen Demokratien des Westens und der autokratischen Zarenherrschaft im Osten. Der diagnostizierte deutsche Sonderweg sollte dann in der Debatte um das Kaiserreich – positiv oder negativ gewendet – eine herausragende Rolle spielen.67 Denn in der Tat wurde vor allem von Historikern der Deutschen Historischen Sozialwissenschaft der 1970er und 1980er Jahre, allen voran Hans-Ulrich Wehler, das Dritte Reich teleologisch68 aus eben seiner in den Tiefen der Geschichte angelegten Fehlentwicklungen heraus zu interpretieren versucht, welche man im Wesentlichen auf das Kaiserreich zurückzuführen suchte. Dabei wurden wichtige und interessante Forschungen angestoßen und Begriffe, wie Modernisierung, Sozialimperialismus, Imperialismus, Primat der Innenpolitik und Deutscher Sonderweg spielten herausragende Rollen. Ende der 1980er und 1990er Jahre mündeten diese Diskussionen in bedeutenden Monographien zum Kaiserreich, etwa von Michael Stürmer (Das ruhelose Reich, 1983), Wolfgang J. Mommsen (Der autoritäre Nationalstaat, 1992), Hans-Ulrich Wehler (Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 1995) Thomas Nipperdey (Deutsche Geschichte 1866–1918, 1992) oder Volker Ullrich (Die nervöse Großmacht, 1997).69 Insbesondere die englischen Historiker Geoff Eley und David Blackbourn (Mythen deutscher Geschichteschreibung, 1980) stellten jedoch die sehr kritische Sichtweise auf das Kaiserreich der deutschen Historischen Sozialwissenschaft in Frage und lösten damit heftige Widersprüche aus. Beide hatten das Kaiserreich als Epoche des schnellen wirtschaftlichen Aufstiegs und der sozialen und kulturellen Lebendigkeit dargestellt.70 Diese Perspektive machten sich auch deutsche Historiker ab Ende der 1990er Jahre vermehrt zu eigen.

Wenn man also die Wilhelminische Epoche nicht von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs her denkt, von einer Perspektive der analytischen Problematisierung vom Ende her, sondern in ihr einen Prozesscharakter mit identifizierbaren Einzelphasen der Gesamtepoche erkennt, wie etwa die von Magnus Brechtken als Scharnierzeit definierten Jahre 1895 bis 1907, so war diese Epoche eine Zeit überdurchschnittlicher Entwicklungen in allen Bereichen71 mit einer Vielzahl denkbarer Weiterentwicklungen. Dies führt mithin weg vom Versuch einer endgültigen Deutung des Kaiserreichs, und insbesondere der Wilhelminischen Epoche, hin zu einem Versuch, ein verfeinertes Verständnis der „polyformen Veränderungsprozesse“72 zu gewinnen. In den letzten Jahren hat der als besonders bedeutsame, die globalen zeitgeschichtlichen Entwicklungen spiegelnde globalgeschichtliche Ansatz, wie etwa der von Jürgen Osterhammel oder Christopher Bayly, den nationalen Rahmen als nicht mehr zeitgemäß beschrieben und stattdessen nach den weltweiten Verflechtungen und Interdependenzen gefragt. Der Nationalstaat gilt in diesem Ansatz als eine von mehreren Identifikations- und politischen Handlungsräumen.73 Die vorliegende Arbeit kommt auf Grund der Quellenlektüre zu einem Ansatz, der den globalgeschichtlichen Gedanken mit demjenigen verbindet, dass der Nationalstaat weiterhin einen wirkmächtigen Bezugs- und Orientierungsrahmen darstellt.

1.2. Die Reichstagsdebatten: Angewandte Interpretationsmethoden

In der vorliegenden Arbeit sollen die Reichstagsprotokolle, oder die „Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des Reichstags“, so ihre genaue Bezeichnung, im Spannungsfeld zwischen Parlamentarisierung und Demokratisierung untersucht werden. Denn gerade der Reichstag verkörperte zum einen das in der Wilhelminischen Epoche immer weiter voranschreitende Erodieren der Klassenunterschiede und damit die Demokratisierung vieler bisher der Oberschicht und Aristokratie vorbehaltenen Lebens- und Ausdrucksformen.74 Zudem spiegeln die Verhandlungen des Reichstags die beiden widersprüchlichen sowohl globalen als auch nationalen Entwicklungstendenzen der zunehmenden Internationalisierung und Globalisierung auf der einen Seite und der Steigerung nationalistischen, chauvinistischen und rassistischen Denkens und Zurückziehens in engere Identifikationsräume auf der anderen Seite wider.

Die Analyse der Reichstagsdebatten soll hier also zum einen im Geiste des New Historicism75 auf die Textquellen beschränkt bleiben und geht von der ontologischen Verbundenheit von Text und Kontext, Dokument und gesellschaftlicher Situation aus. Es handelt sich also eher um eine sozialwissenschaftliche Diskursanalyse im Sinne Foucaults76: Sie interessiert sich für das „Wissen“ und wie das jeweils gültige Wissen zustande kommt und welche Funktion es für die Konstituierung von Subjekten (hier die Reichstagsabgeordneten, die Institution des Reichstags) und die Gesellschaft hat. Sie interessiert sich weiter für die Regeln und Regelmäßigkeiten des Diskurses, seine Kraft zur Wirklichkeitskonstruktion und seine gesellschaftliche Verankerung.

Zum anderen aber und ungleich wichtiger ist für die Analyse der Debatten John L. Austins Sprechakttheorie.77 In der der Sprachwissenschaft würde man sie zur Pragmatik rechnen. Austin hat dabei drei Sprechakte definiert: den lokutionären, Akt, den illokutionären Akt und den perlokutionären oder perlokutiven Akt. Der Untersuchung des letzteren kommt dabei in unserer Arbeit eine gewichtige Rolle zu. Der perlokutive Akt ist ein Sprechakt, der mit der Absicht geäußert wird, beim Hörer zu einem perlokutiven Effekt zu führen. Wenn etwa ein Abgeordneter der Regierung sagt, er vertraue auf ein bestimmtes Verhalten dieser, so erhofft er sich, dadurch eine bestimmte Handlung auszulösen, einen bestimmten perlokutiven Effekt zu erzielen. Neben perlokutiven Akten spielt in den Reden die nach Austin zu den illokutionären Akten zählende Performativität eine wichtige Rolle, etwa, wenn ein Abgeordneter in seiner Rede über Entscheidungen der Regierung urteilt oder vor bestimmten Entscheidungen warnt. Dies zielte darauf ab, eine bestimmte Sicht der Dinge, eine bestimmte (politische) vom Abgeordneten gewünschte Realität zu schaffen. Perlokutive Akte und Performativität wurden also in den Reden eingesetzt, um die Politik in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen und mithin – bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich – die Kompetenzen des Reichstags über informellen Einfluss auszuweiten.

Eine weitere für die vorliegende Arbeit bedeutsame Theorie ist Erving Goffmans Theorie des symbolischen Interaktionismus. Die Theorie des symbolischen Interaktionismus erhellt einmal das Verhalten und die Rede von Reichstagsabgeordneten, hilft aber auch die gruppendynamischen Prozesse im Reichstag besser zu verstehen. Für die Vertreter des symbolischen Interaktionismus ist „das menschliche Zusammenleben ein Prozess, in dem Objekte geschaffen, bestätigt, umgeformt und verworfen werden. Das Leben und Handeln von Menschen wandelt sich notwendigerweise in Übereinstimmung mit den Wandlungen, die in ihrer Objektwelt vor sich gehen.“78

Im Zusammenhang mit der Theorie des symbolischen Interaktionismus und der Analyse der Sprechakte, der Wörter, des Paratextes (Zwischenrufe, Reaktionen, Applaus) soll zudem weder von einer gegenseitigen Bedingung beider Phänomene, Demokratisierung und Parlamentarisierung, ausgegangen werden, noch der Interpretation Christoph Schönbergers gefolgt werden, der beide Abläufe sich immer weiter trennen sah und gar davon ausging, dass auf Grund der populistischen, militaristischen und rassistisch-chauvinistischen Tendenzen „die fortschreitende Demokratisierung einer Parlamentarisierung des Kaiserreichs entgegengewirkt habe“.79 Es soll also keineswegs eine idealistische Sicht der Demokratisierung und Parlamentarisierung eingenommen werden.

Beispielhaft mag hier die Flottenrüstung stehen: Die durch außerparlamentarische Lobbygruppen, wie dem Flottenverein und der Rüstungsindustrie,80 aber auch durch Teile der Presse immer weiter angeheizte Flottenbegeisterung der Bevölkerung trieb ab 1907 die Reichsleitung beinahe vor sich her. Obwohl bereits ab Herbst 1907 sowohl ehemalige flottenbegeisterte Professoren als auch die Reichsleitung, nicht zuletzt das Reichsmarineamt und das Nachrichtenbüro unter Tirpitz selbst die Gefahr der finanziellen Überforderung und zunehmenden Isolierung des Reiches durch einen immer weiteren Ausbaus einer Schlachtflotte erkannt hatten,81 stimmten die Reichstagsabgeordneten, ebenfalls (an)getrieben durch die Flottenbegeisterung82 der Bevölkerung, am 27. März 1908 einer Flottennovelle und somit einer Beschleunigung des Flottenbaus zu.83 Derartige Überlegungen zur Sinnhaftigkeit des weiteren Ausbaus der Flotte gab es im Übrigen auch in Großbritannien, wo sich die Regierung ebenfalls außerparlamentarischer Bedrängnis gegenübersah, etwa mit dem in der Presse verbreiteten Schlachtruf „we want eight [neue Schlachtschiffe pro Jahr] and we won’t wait“84 und einer sich immer weiter ausbreitenden Angst vor einer deutschen Invasion und vor einem Verlust der Seeüberlegenheit.85 Die Nachrichtentransfers ließen sich auch über Landesgrenzen hinweg immer weniger kontrollieren,86 was zu einer zusätzlichen Einschränkung des Wissensmonopols der Regierungen führte. Einer derartigen Sicht auf die Demokratisierung und Parlamentarisierung des Reichs steht jedoch auch die Tendenz gegenüber, die Machtfülle des Kaisers, der Exekutive und der alten Elite gerade für die Zeit Wilhelms II. stark zu betonen87 und den demokratischen, bürgerlichen und konstitutionellen Seiten dementsprechend weniger Bedeutung zu schenken.

Begleitend zu den o.g. Theorien wurde Hartmut Rosas Resonanztheorie88 und der von Elisabeth Schüssler Fiorenza geprägte Begriff des Kyriarchats89, der die Tatsache ausdrücken soll, dass ein und dieselbe Person in einem Kontext unterdrückt in einem anderen Kontext Unterdrücker sein kann, zur Analyse der Debatten herangezogen. Daneben dienen die Systemtheorie Niklas Luhmanns90 sowie Überlegungen zu korrespondenter und kohärenter Wahrheit91 der besseren Einordnung des von den Abgeordneten in ihren Redebeiträgen Gesagten.

Die „Verhandlungen des Reichstags“ wurden bisher meist lediglich als eine Art Quellenreservoir zur Unterstützung von Thesen und Geschichtsinterpretationen genutzt, die man aus anderen, „wirklich bedeutenden und ernsthaften Quellen“, wie Zeitungen außerparlamentarischen Diskursen, Verbands- und Vereinsschriften, Parteitagsreden oder auch literarischen Quellen erarbeitet hatte.

Im vorliegenden Falle aber werden die Verhandlungen des Reichstags dezidiert als ein eigenständiges, eigenwertiges Korpus betrachtet. Dieses erlaubt es, über eine Betrachtung der moyenne longue durée im Sinne Fernand Braudels – in unserem Fall etwa 25 Jahre – nicht nur die Geschichte der Parlamentarisierung und Demokratisierung des Deutschen Reichs, sondern über diesen Teilabschnitt (1895–1914) der neuesten deutschen Geschichte seit dem Ende des Alten Reichs die deutsche Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und neue Facetten hinzuzufügen. Die Ambition und der Wille des Verfassers war es dabei, dies ohne, wie es zu betonen gilt, „political agenda“ zu unternehmen. Die Studie wurde weder aus einer teleologischen noch einer gleichwie gearteten voreingenommenen Sicht auf die Zeit verfasst, sondern mit dem Anspruch, möglichst objektiv die Zeitläufte zu verstehen. Dabei soll, um es noch einmal zu betonen, nicht kontrafaktisch, post-faktisch, dekonstruktiv vorgegangen werden. Vielmehr soll davon ausgegangen werden, dass die historische Wirklichkeit hermeneutisch fassbar und erkennbar ist. Das eigentliche Ziel ist demnach der Versuch, über den Ansatz der kritischen Theorie und den Rekurs auf o.g. geeignete theoretische Ansätze, etwa aus dem Bereich der Soziologie, die eigentlichen historischen unterschwelligen Dominanzen und Oppressionen und deren Veränderungen herauszuarbeiten und den historiografischen zeitgenössischen, in der Hauptsache pessimistischen Diskurs über das Kaiserreich, so nötig, neu zu bewerten. Die „Verhandlungen des Reichstags“ wurden mithin unter der Prämisse von Objektivität – wenngleich diese im Sinne von Hayden White92 immer auch eine Illusion ist ̶ interpretiert, analysiert und betrachtet. Mit der Betrachtung der Debatten über den relativ langen Zeitraum der moyenne durée wurde also versucht, der historischen Wirklichkeit der Geschichte des Deutschen Reichs näher zu kommen und unser Verständnis der Zeit zu verfeinern.

Die Besonderheit der Reichstagsprotokolle, eine Art hybride Form zwischen schriftlicher und oraler Quelle darzustellen, bietet dabei eine faszinierende und ganz außerordentlich ertragreiche historische Ausbeute. Aus diesem Grunde werden der Paratext, die stenographisch festgehaltenen Reaktionen des Reichstags auf Äußerungen und Reden zur Interpretation herangezogen (Zwischenrufe, Reaktionen, wie Bravo, Sehr richtig usw.). Und genauso werden die benutzten rhetorischen Stilmittel, allen voran die Tropen, wie Ironie, Sarkasmus, Metonymie, Synekdoche und Metapher zur Analyse als integrale Bestandteile der Verhandlungen berücksichtigt.

Es werden zudem sehr viele Redebeiträge sehr ausführlich zitiert, denn nur so können deren Wirkungen auf den Reichstag, ihr Ton und ihre unterschwelligen Intentionen recht genau erfasst werden. Auch werden dadurch die im Reichstag herrschende Atmosphäre, der Umgangston und die Stimmung erst wirklich spürbar und fassbar. Allerdings gilt es natürlich immer auch zu berücksichtigen, dass es sich bei den „Verhandlungen des Reichstags“ um Quellen einer Scharnierzeit handelt. Diese Quellen scheinen einerseits über die von Franz Xaver Gabelsberger seit 1834 entwickelten Möglichkeiten der Stenographie93 den oralen Diskurs hörbar zu machen. Andererseits aber tragen sie doch durch das Fehlen von Audioaufzeichnungen eine gewisse Willkürlichkeit und Lückenhaftigkeit der Aufzeichnungen in sich.

Alte versus neue Elite: Der Reichstag als Labor und zentraler Ort dieses Konflikts

In der Arbeit wird häufig die Bezeichnung „alte Elite“ in Abgrenzung zur „neuen Elite“ benutzen. Die Reichstagsabgeordneten als Gruppe formten eine neue Elite, wie etwa Journalisten, Akademiker, Künstler, Gewerkschaftsführer, Ingenieure, Unternehmer aus den neuen industriellen Sektoren. Bei der alten Elite handelte es sich natürlich einerseits um die vorkapitalistische Herrschaftsschicht des Adels, der den allergrößten Teil der Offiziere, hohen Beamten und Diplomaten stellte, aber auch um die Vertreter des Junkertums und des großindustriellen und schwerindustriellen Sektors, die sich ab den 1895er Jahren mit der vorkapitalistischen Herrschaftsschicht zu einem agrarisch-industriellen Kondominium verbanden. Das Ziel dieser alten Elite war es, die aus dem nach Emanzipation strebenden proletarischen und liberalen Milieus, darunter die Vertreter der exportorientierten Industrie aus den Hochtechnologiesektoren, von der Erlangung politischer Macht abzuhalten und den gesellschaftlichen Status quo zu stabilisieren und zu verteidigen.94 Allerdings konnten die Vertreter der alten Elite über ihre gesellschaftliche Aufgabe als Parlamentarier etwa durchaus Interessenvertreter der neuen Elite werden. Ein interessantes Beispiel dafür sind etwa die Reichstagspräsidenten oder die Repräsentanten der alten Elite im Reichstag, wie zum Beispiel Junker oder ehemalige hohe Beamte. Dies alles trug zur gesellschaftlichen Dynamik des Kaiserreichs und den tiefgreifenden Veränderungen bei, die nicht immer an der Oberfläche sichtbar wurden. Denn trotz aller Veränderungen suchten auch große Teile der neuen Eliten weiterhin häufig, ihren sozialen Aufstieg und ihren Bedeutungsgewinn über die Teilnahme an der überkommenen feudalen Prestigehierarchie zu manifestieren. Dazu gehörten etwa der Erwerb von Rittergütern oder die Einrichtung des Titels des Reserveoffiziers, der zur Satisfaktionsfähigkeit führte.95 Ausländische Beobachter analysierten diese gesellschaftliche Dynamik oft als Fehlen klarer Kompetenzzuweisungen. Bereits der englische Kriegsminister Richard Haldane, der ein ausgezeichneter Kenner Deutschlands war und sich vor allem in der Kriegszeit germanophiler Verdächtigungen erwehren musste, beklagte „the extraordinary ignorance which exists even among educated people in this country [Großbritannien] of the language and literature of Germany and the changing character of her constitution.“96 Viele ausländische Diplomaten und Beobachter verstanden das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Akteure, etwa im internationalen und transnationalen Bereich, sowie das in der Reichsverfasstheit seit dem Alten Reich angelegte beständige Aushandeln von Kompetenzen nur schlecht. Diese Aushandlungsprozesse wurden durch den gesellschaftlichen Wandlungsprozess und das dadurch hervorgerufenen Entstehen einer neuen Elite, die der mangelnden Synchronisation von politischer und wirtschaftlicher Macht97 entgegenzuwirken trachtete, zusätzlich verstärk. So zitierte Haldane einen Diplomaten mit folgenden Worten; „In this highly organized nation, when you have ascendend to the very top story you find not only confusion but chaos.“98 Die Zusammenführung der „zwei Schienen“99 der Sichtweise auf das Kaiserreich scheint nun ein vielversprechenderer Ansatz zu dessen besserem Verständnis zu sein.

1.3. Das demokratisch-parlamentarische System in der Wilhelminischen Epoche im Vergleich

Es gab zu den anderen wichtigen Staaten, wie Großbritannien, Frankreich oder den USA, in der vergleichenden Perspektive kein – jedenfalls kein gravierendes – „Demokratiedefizit“ und lediglich ein „formelles“ Parlamentarismusdefizit. Der Weg des Kaiserreichs war keineswegs vorgezeichnet im Sinne einer tragischen Unausweichlichkeit, sondern durchaus offen, wenngleich Deutschlands Stellung in der westlichen und zumal europäischen Mächtekonstellation im betrachteten Zeitraum immer isolierter wurde und dies im Deutschen Reich als Ausgrenzung wahrgenommen wurde. Zum einen zielten wohl maßgebliche Teile in Deutschland, darunter Bernhard von Bülow, auf die Errichtung eines Weltreiches und auf die Hegemonie in Europa ab. Diese Ziele standen in Einklang mit den damals in ganz Europa gängigen Weltreichsvorstellungen und den immer besser akzeptierten und die Gesellschaft durchdringenden sozialdarwinistischen Ideen.100 Die Ausbreitung sozialdarwinistischer und rassenideologischer Ideen wird dabei von manchen Historikern als der „modernen“ Epoche101 gleichsam immanent betrachtet. Für sie ist die Zeit der Hochindustrialisierung, der Kommerzialisierung, der Modernisierung102 des Lebens gleichbedeutend mit zunehmendem gesellschaftlichem Zwang. Eine Zeit der „Dialektik der Ordnung“103, welche In- und Outsider in Bezug auf das gesamtgesellschaftliche System schuf. Die Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft und die sich breiter auffächernde Zivilgesellschaft wären demnach weniger Beispiele für die alles ordnen wollenden, diktatorischen Tendenzen in der Gesellschaft, als der Ausdruck steigender Differenzierung und Liberalität.104 Die hegemonialen Tendenzen Deutschlands wären demnach Teil der, den modernen Gesellschaften innenwohnenden Wesenszügen zum Aussortieren und Ordnen. Allerdings führte dieses Hegemoniestreben auf Grund des allgemeinen Erstarkens Deutschlands auch zu einer sich vergrößernden Isolationsgefahr.105 Diese negative Definition der Modernität in der Wilhelminischen Epoche muss, auch über die genaue Lektüre der Reichstagsakten, um das Erkennen emanzipatorischer und zivilisatorischer Fortschritte und Entwicklungen ergänzt werden. Ohne in die Falle der Uchronie oder der kontrafaktischen Geschichtsschreibung106 tappen zu wollen, lässt sich doch annehmen, dass das Kaiserreich nicht zwingend in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs hätte enden müssen. Es herrschte im Kaiserreich eine recht große Meinungsvielfalt, und in weiten Teilen der Bevölkerung hatten die demokratischen und friedliebenden Meinungen und Haltungen ein zunehmendes Gewicht erlangt. Auch hatte das Bürgertum in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen weitgehend Entscheidungsfreiheit erreicht.107 Der britische Diplomat Spring Rice etwa beschrieb die hochkomplexe und dichotomisch erscheinende innere Verfasstheit des Kaiserreichs als sich zusammensetzend einerseits aus „the monarch with the history of blood and iron and the army of (in theory) absolute slaves“, andererseits aus „all the pople who are liberal, who read, think, work, make money and books.“108 Es zeichnet sich in dieser Beschreibung eine in seinen Tiefenstrukturen liberale, der individuellen Freiheit zugeneigte Gesellschaft ab.109

Diese liberale Tendenz bezeugen die regen Debatten, die sich entfaltende Demokratisierung, die dynamische Gesellschaftsentwicklung und die zahllosen Vereinsgründungen. Wenngleich das Bild der Zeit stark von Romanen, wie etwa Heinrich Manns Der Untertan geprägt wurde, so beschrieben doch viele Zeitgenossen denn auch im Rückblick die Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Jahre des Friedens und der Prosperität. Der Diplomat, Industrielle und Politiker Günter Henle etwa schwärmte von der „unbeschwerten Lebenslust und Daseinsfreude“110 und dem Bankier Hans Fürstenberg erschienen die letzten vier Jahre vor dem Krieg „als eine Zeit fast ununterbrochenen Sonnenscheins“111. Und auch die Romane Theodor Fontanes malen das Bild einer im Großen und Ganzen relativ sorglosen Zeit. In der Nachschau ergab sich so ein erstaunliches Bild von sehr hellen und sehr dunklen Farben. Eine Komposition, die durch den weiteren geschichtlichen Verlauf bis zur Katastrophe und den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs immer krasser ausfiel und der neuen Generation nach dem Krieg als Orientierungshilfe, als Kompass zur Weiterentwicklung der Geschichte diente. Als exemplarisch mögen dafür einerseits Stefan Zweigs Werk Die Welt von Gestern, andererseits etwa Walther Rathenaus Analyse der Zeit vor 1914 stehen: „Ein entseeltes, übermechanisiertes Europa, worin jeder Mensch jedes Menschen Feind war […], wo Begriffe der Vorherrschaft zur See, der Vorherrschaft zu Lande, der Weltherrschaft mit Augenaufschlag besprochen wurden, als ob es sich um ein Schweineauskegeln und nicht um das todeswürdigste Verbrechen handelte: In diesem unglücklichen und nichtswürdigen Europa brach der Krieg am 1. August 1914 aus.“112

Die Verfassung (im Folgenden RV) des Kaiserreichs begründete eine konstitutionelle Monarchie, in der dem Kaiser zwar eine starke und zentrale Stellung zufiel. Allerdings musste er alle Amtshandlungen vom Reichskanzler oder einem Staatssekretär gegenzeichnen lassen. Zudem gab es die Institution des Bundesrates und vor allem die des Reichstages, der das parlamentarische-demokratische Element repräsentierte. Gerade diese Institution und die Ausbildung der deutschen Bevölkerung, die Nutzbarmachung der nationalen Man-Power,113 machten das deutsche System in den Augen vieler ausländischer Beobachter immer interessanter und überzeugender. Alfred Thayer Mahan etwa schrieb in einem Artikel in der Daily Mail: „A German writer [Hans Delbrück] has said recently, ‘In Germany we hold a strong independent Governement, assisted by a democratic Parliament, to be a better scheme than the continual change of party rule customary in England’“.114 Großbritannien stand einem Land gegenüber „one fourth more numerous than themselves, and one more highly organized for the sustainment by force of a national policy. It is so because it has a Government more efficient in the ordering of national life, in that it can be, and is, more consecutive in purpose than one balanced unsteadily upon the shoulders of a shifting popular majority.115 […] „The menacing feature in the future is the apparent indisposition and slackness of the new voters of the last half-century over against the resolute spirit and tremendous faculty for organizing strength evident in Germany.116

Das deutsche konstitutionelle System wurde von angelsächsischen Beobachtern mit steigender wirtschaftlicher Kraft des Deutschen Reichs als oft effizienter als das eigene angesehen und erzeugte in Großbritannien Selbstzweifel, wie es etwa in H.G. Wells in seinem Roman The New Machiavelli thematisierte.117 Vor allem britische Beobachter sahen das deutsche Zivilisationsmodell als zunehmend überlegen und als Gefahr für die Grundlagen des Empire an.118 In der Forschung fanden die Entwicklung der Parteien, so wie weiter oben gezeigt, die Außenpolitik und Diplomatie lebhaftes Interesse der Historiker. Auch einzelne Fragen, wie etwa die Wirtschaftspolitik und soziale und kulturelle Entwicklungen waren häufig das Objekt der Forschung, Dem eigentlichen demokratischen Element der Verfassung des Deutschen Reichs aber, dem Reichstag, wurde bislang nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Immer wieder wurde allen gegenteiligen Forschungserkenntnissen zum Trotz versucht, den Reichstag als ein „pseudodemokratisches Feigenblatt“ darzustellen und „es wird das alte Lied von einem reaktionären System [gesungen], das seine inneren Widersprüche so lange nicht löst, ja sogar eskalieren lässt, bis die Katastrophe unvermeidlich ist.“119

1.4. Der Reichstag und die Vereinigten Staaten

Wir haben bereits weiter oben die Arbeit von Marek Czaja über die Perzeption der Vereinigten Staaten um 1900 durch die verschiedenen Parteien des Kaiserreichs angesprochen. Um zu verstehen, aus welchen Gründen sich der Reichstag zumal in der Wilhelminischen Epoche immer stärker für die Vereinigten Staaten interessierte, wurde jedoch eine Quelle bis lange weder systematisch mobilisiert noch tiefergehend analysiert, nämlich die Stenographischen Berichte des Reichstags. Diese Berichte, die die im Reichstag gehaltenen Debatten widerspiegeln, zeichnen in der Tat aber ein etwas anderes Bild zu der im Allgemeinen akzeptierten zweifachen Sichtweise auf den Reichstag: Dieser spielte demzufolge im politischen System des Kaiserreichs eine eher passive Rolle, und die Beziehungen zwischen dem Kaiserreich und den USA wurde vor allem von einer recht kleinen Gruppe getragen: Diplomaten, Professoren, geflüchtete Sozialdemokraten. Und doch erscheint die Einbeziehung anderer Akteure, nicht zuletzt aus der Wirtschaft, vor allem ab den 1890er Jahren gerade wegen der parallelen Entwicklung auf zahlreichen Feldern beinahe selbstverständlich: Fragen der Flottenrüstung, das weltpolitische Ausgreifen oder die zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung betrafen beide Länder.120

Dies hatte eine Vervielfachung der Kontakt- und auch der Reibungsflächen zwischen beiden Ländern zur Folge Die Beziehungen zwischen dem Kaiserreich und den Vereinigten Staaten hatten also vor dem Ersten Weltkrieg eine weitaus größere Bedeutung und betrafen ein viel weiteres Spektrum an Akteuren, als in der Forschung lange angenommen worden war.121

Die USA wurden in der Tat zunehmend als Konkurrent mit schier unbegrenzten Möglichkeiten wahrgenommen, so Ludwig Max Goldberger,122 und sie wurden zu einer wichtigen Orientierungsgröße deutscher Entwicklungsziele. Daneben wurden die USA langfristig aber auch als eine starke Bedrohung für Deutschlands welt(macht)politische Ambitionen betrachtet.123 Der Aufstieg Amerikas, der als eine „Amerikanisierung der Welt“ wahrgenommen wurde,124 faszinierte und bot zahlreiche, nicht zuletzt finanzielle und wirtschaftliche Chancen, flößte aber auch Furcht ein. In diesem Zusammenhang kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts parallel zur „deutschen Gefahr“ in den Vereinigten Staaten im Deutschen Reich der Begriff der „amerikanischen Gefahr“ auf. So stand etwa in der von Alfred H. Fried in Berlin herausgegebenen Zeitschrift Die Friedens-Warte folgendes: „Die grosse industrielle Krise, die augenblicklich den deutschen Markt bedrückt […] hat das Augenmerk der europäischen Welt neuerdings auf die sogenannte amerikanische Gefahr gelenkt, [die] auch alle Wahrscheinlichkeiten in sich trägt, durch ihr machtvolles Emporwachsen die europäische Industrie auf ihrem ureigenen Boden zu schädigen, diese auf anderen Märkten zu bedrohen. […] Diese Gefahr, die zunächst eine rein wirthschaftliche ist, ist für Europa von grosser politischer Bedeutung, da sie […] die Möglichkeit in sich birgt, die politischen Verhältnisse Europas in absehbarer Zeit einem grossen Wandel zu unterziehen.“125

Dabei erschienen der wirtschaftliche Aufschwung und die zunehmende ökonomische und auch politische Dominanz jedoch nur als die konkreten Ausformungen einer spezifischen amerikanischen Identität, die sich im Laufe der nordamerikanischen Geschichte seit Beginn der europäischen Eroberung herausgebildet hatte. Max Prager etwa betonte, wie sehr der durch keinerlei feudale Gegebenheiten oder moralische Überlegungen gehemmte „kühne Unternehmergeist“126 der Amerikaner und damit einhergehend die Möglichkeit zur beinahe schrankenlosen freien Entfaltung des Individuums bisher ungeahnte Kräfte freizusetzen vermochte. Allein es entwickelte sich ab Ende des 19. Jahrhunderts auf Grund der enormen wirtschaftlichen und nun auch weltmachtpolitischen Erfolge immer stärker auch ein Gefühl des Antiamerikanismus, der „d[en] amerikanischen Geist, die amerikanische Lebensführung, die amerikanische Art, Dinge zu bewerten“ in Frage stellte und als zunehmende Bedrohung empfand, wie es etwa Gustav Friedrich, alias Germanus ausdrückte.127 Während man das technisch-wirtschaftliche System durchaus als vorbildlich betrachtete, wurde das politische System der USA in den meisten Schriften von Beobachtern und Intellektuellen als dem europäischen unterlegen eingeschätzt, da es wegen der Bedeutung des Geldes bei Wahlen, der Wahl etwa von Richtern und Staatsanwälten, und dem Fehlen eines Berufsbeamtentums als sehr korrupt galt.128 Auch im Bereich der Kunst und der Kultur galten die USA bis vor dem Ersten Weltkrieg als Europa nicht ebenbürtig.129 Dies äußerte sich darin, dass die Kultur-Zivilisation-Antithese130 immer stärker auf die USA übertragen wurde.131 Während es in Europa Kultur gab, gab es in Amerika lediglich eine Zivilisation. Allerdings bestand die Gefahr, dass die Kultur auch in Europa durch die amerikanische Massendemokratie und den amerikanischen Kapitalismus zerstört und von einer wie auch immer gearteten, jedoch unterlegenen Zivilisation ersetzt würde.

Sowohl im Kaiserreich als auch in den USA mussten sich die Menschen aber nun an die sich seit der Mitte der 1890er Jahre stark ändernden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten anpassen und den Umgang mit diesen und den daraus sich ergebenden Freiheiten und Möglichkeiten lernen.132 Aus all diesen Gründen ist es äußerst interessant und lohnend, mit Sicht auf den „politischen Wandel“133 des Deutschen Reichs in den Jahren nach 1890 und bis vor dem Ersten Weltkrieg, die im Reichstag geführten Debatten bezüglich der USA im Allgemeinen und des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten im Besonderen genauer zu untersuchen.

Für Magnus Brechtken waren ökonomische Faktoren in den Beziehungen zu Staaten weit weniger bedeutend als die Art und Weise wie, die Eliten „die machtpolitische|] Situation ihrer Mächte“ wahrnahmen und verglichen. Fragen des Prestiges und die Ideologie waren demnach wichtiger als Wirtschaft und Handel.134 Gerade die Sicht des Reichstags auf die USA, also die Sicht von nicht-professionellen Akteuren der Außenbeziehungen, kann vielleicht zu einer Relativierung sowohl dieser Aussage als zur Bedeutung und Wirkmächtigkeit der etablierten Eliten und Institutionen führen. Zum einen nämlich waren die USA „ein Pionier – wenn nicht der Pionier im globalen Maßstab – dieser Moderne“.135 Zum anderen haben zahlreiche neuere Untersuchungen offengelegt, wie sehr die USA und Europa bereits weit vor der Zeit des Kalten Krieges eine „globale[] Verflechtungszone“ bildeten, die „zeitlich und sachlich in viel tiefere Schichten zurückreicht.“136 Die Reichstagsprotokolle bieten somit eine sehr vielversprechende Quelle, diese Verflechtungen nachzuvollziehen, was nicht zuletzt mit den Besonderheiten der Kompetenzen und der Verfassung dieses Organs zusammenhängt.

1.5. Der historische Kontext der Wilhelminischen Epoche

Während die Jahre von 1871 bis 1890 von Reichskanzler Otto von Bismarck geprägt wurden, gelten die Jahre nach Bismarcks Ausscheiden als Wilhelminische Epoche. Obwohl die Reichskanzler dieser Zeit ebenfalls zum Teil starke Persönlichkeiten waren, allen voran Bernhard von Bülow oder Theobald von Bethmann Hollweg, standen sie doch im Schatten Wilhelms II. oder wurden, wie man es parallel zu dem weiter oben erklärten kritisch dekonstruktiven Ansatz zur Stellung des Reichstags formulieren könnte, in der historiografischen Nachschau dorthin gestellt. Diese „Wilhelminische Epoche“ ist insofern bedeutend und auch faszinierend, als sich die deutsche Gesellschaft damals grundlegend veränderte. Für die Wirtschaft lassen sich drei Phasen unterscheiden: Eine erste Phase der Industriellen Revolution (1835/51–1873) mit Wachstumsraten von 4–5 Prozent jährlich; eine zweite Phase der „Großen Depression“, die bis 1895 dauerte und von liberalkapitalistischer Hochindustrialisierung und interventionsstaatlichen Tendenzen geprägt war und immerhin noch 2,6–3 Prozent Wachstum aufwies; schließlich ab 1895 die dritte Phase des organisierten Kapitalismus und der Hochkonjunktur, die mit zwei kurzen Stockungen (1900–1902 und 1907–1909) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs andauerte.137 Diese Hochkonjunkturphase, in der die Gesamtindustrieerzeugung jährlich um 4,5 Prozent anstieg, ging einher mit einschneidenden sozialen und kulturellen Umwälzungen. Die Jahre zwischen 1895 und 1914 kann man wohl als „Goldene Jahre einer Dauerprosperität“ bezeichnen.138 Deutschland rückte bis 1913 hinter den Vereinigten Staaten (32 Prozent) und noch vor Großbritannien (13,6 Prozent) mit einem Anteil von 14,8 Prozent an der weltweiten Industrieproduktion zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht auf.139 Frankreich hingegen etwa hatte 1913 nur noch einen Anteil von 6,1 Prozent, Italien von 2,4 Prozent und Österreich-Ungarn von 4,4 Prozent.140 Bei der Produktion von Eisen und Stahl stand Deutschland 1913 ebenso an zweiter Stelle hinter den USA.141 Allerdings gab es auch innerhalb dieses Zeitraums verschiedene konjunkturelle Phasen mit ihren speziellen politischen Entscheidungserfordernissen. So zeichnete sich Ende 1900 eine Überproduktionskrise der deutschen Exportwirtschaft ab, die der sozialdemokratische Abgeordnete August Bebel142 darauf zurückführte, dass „auf der einen Seite alle Staaten der Welt mehr und mehr große Industriestaaten zu werden trachten-, wie jeder darauf hinausgeht, nicht nur zum eigenen Bedarf seine Industrieerzeugnisse zu schaffen, sondern noch einen Ueberschuß derselben in fremde Welttheile und Länder abzustoßen.“143 Allerdings verschlimmerte sich diese Lage vor allem dadurch, dass „von diesem Wetteifer jetzt auch Amerika in unheimlichem Maße gegenüber dem alten Europa sich entwickeln.“144 Diese Überproduktionskrise mündete zwischen 1901 und 1904 in eine zweite, wenn auch ungleich harmlosere Gründerkrise, welche zu einer stärkeren Schuldenaufnahme des Reiches, zu höheren Getreidezöllen und insgesamt zu protektionistischen Tendenzen führte.145 In der Debatte zum Reichstagshaushalt des Jahres 1903 ging etwa August Bebel deshalb mit der Reichsleitung und dem neuen Bülow-Zolltarif, der, wie er glaubte, die Lebensmittelpreise für die Arbeiter verteuern und die Exportchancen des Reiches vermindern würde, hart ins Gericht.146 Bebel befürchtet dabei vor allem, dass die gegenwärtige Krise auf Nordamerika übergreifen könnte, denn dadurch würde „die Krisis eine sehr bedeutende Verschärfung erfahren […], (Sehr richtig! links).“147 Die Jahre 1895 bis 1914 brachten die verarbeitende Industrie, welche möglichst einen freien Handel mit allgemein niedrigen Zöllen anstrebte, in immer schärferen Gegensatz zum agrarisch-konservativen Komplex.148 Die Gesamtproduktion von Industrie und Handwerk verdoppelte sich nämlich in diesem Zeitraum, die Wertschöpfung der gesamten Volkswirtschaft wies eine Steigerung um 75 % auf.149 Besonders der Export trug zu diesem Wachstum bei. Nicht nur wuchs er schneller als der Welthandel, er stieg auch stärker an als die Wirtschaft des Deutschen Reichs insgesamt.150 Diese Steigerung des Exports, dessen Zuwachs regelmäßig über dem Zuwachs des BIP lag, löste vor allem in England, aber auch Frankreich Ängste aus, dass die eigene Industrie deswegen immer mehr geschwächt werden würde und zunehmend ins Hintertreffen geraten könnte. Auch die Bevölkerung wuchs stark an, und zwar von 49,4 Millionen Einwohnern im Jahre 1890 auf 66,9 Millionen im Jahre 1913,151 was wiederum eine starke Verstädterung und eine Zunahme von Großstädten zur Folge hatte. Es kam dadurch zu einem Erstarken sowohl der Sozialdemokratie als auch der nationalistischen und liberalen Kräfte. Ab den 1895er Jahren lässt sich überdies beobachten, dass das wirtschaftliche Element stetig an Gewicht zunahm und wirtschaftliche Interessen in das Zentrum des Staatsinteresses rückten. Über die wirtschaftliche Frage wurde aber im Grunde ein viel tiefer sitzender Konflikt ausgetragen, nämlich der zwischen den alten agrarisch-konservativen Eliten der Gesellschaft und den neuen Eliten des liberalen Wirtschaftsbürgertums. Die gesellschaftlichen Spannungen und Veränderungen schlugen sich in der zu führenden Politik nieder und verstärkten sich gegenseitig. Die starken Veränderungen im Inland wie auf internationaler Ebene erhöhten beständig den Druck auf die Reichsleitung, Deutschland zu einem weltweiten Machtfaktor auszubauen. Deutschland wollte und musste – so schien es jedenfalls einem Großteil des maßgeblichen Teils der Bevölkerung – zu einer weltweit agierenden Großmacht werden. Bernhard von Bülow, der im Oktober 1897 zum Staatssekretär des Äußeren ernannt worden war, forderte schließlich in seiner Antrittsrede im Reichstag am 6. Dezember 1897 für das so erstarkende Deutschland einen Platz an der Sonne. Am 17.10.1900 war er Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst als Reichskanzler nachgefolgt.152 Er war Jurist, erfahrener Diplomat und galt als gewandter Redner. Allerdings trug er mit manchen seiner Entscheidungen und Reden zur zunehmenden außenpolitische Isolation Deutschlands bei. So etwa in seiner „Granitbeißerrede“ vom 08.01.1902153 oder in seiner als Reaktion auf die Bildung der Entente zwischen Frankreich und Großbritannien am 14.11.1906 gehaltenen Reichstagsrede, in der er von einer „Einkreisung“ Deutschlands sprach. Damit hatte er ein Schlagwort vorgegeben, welches im weiteren Verlauf von nationalistischen Kreisen benutzt werden sollte, um eine aggressivere Außenpolitik Deutschlands zu fordern.

Im Jahr 1903 verdeutlichte er im Zuge der Reichstagsdebatten zu Venezuela sein Verständnis von Außenpolitik: „Die auswärtige Politik […] soll den bleibenden Bedürfnissen des betreffenden Volkes, des betreffenden Staates dienen. Wenn diese Interessen Weltinteressen geworden sind, so wird die Politik des betreffenden Landes und Volkes ganz von selbst eine Weltpolitik werden.“154 Zum einen beinhaltete dies weltpolitische und koloniale Ansprüche, die sich auf vier Räume außerhalb Europas konzentrierten: An erster Stelle sind zu nennen Kleinasien und China. Des Weiteren zielten die deutschen weltpolitischen Interessen auf Südamerika und Marokko.155 Marokko, dessen Verfall sich nach dem Tod des Sultans Mulai al-Hassan I. noch beschleunigte, spielte für Deutschland wirtschaftlich eine eher untergeordnete Rolle und man wollte sich politisch dort nicht allzu sehr engagieren, da es vor allem in Blickfeld Frankreichs und Englands lag. Allerdings dachte man daran, über die Marokkofrage seine wachsenden weltpolitischen Ambitionen zum Ausdruck bringen zu können, was in der Ersten Marokkokrise (1904–1906) dann umgesetzt wurde. Anders als in Marokko besaß das wirtschaftliche Element in Bezug auf Südamerika herausragende Bedeutung. So hatte der Export nach Lateinamerika von 1895 bis 1905 von 219 Millionen Mark auf 389 Millionen Mark zugenommen. Deutschland war damit hinter England, aber vor Frankreich und den USA zweitwichtigster Exporteur in dieser Region, vor allem in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko156. Das führte zu einigen Reibungspunkten mit den USA, die Lateinamerika seit den 1890er Jahren immer stärker als ihren Hinterhof zu betrachten begannen und die Monroe-Doktrin konsequent anzuwenden gedachten. Vor allem in der Venezuela-Krise sollte das deutlich werden.

In der vorliegenden Untersuchung werden deshalb im Kapitel zur Außenpolitik auch in der Hauptsache Südamerika (Spanisch-Amerikanischer Krieg, Venezuelakrise) und der pazifische Raum (Samoa, Philippinen) eine Rolle spielen, da es dort mit den USA zu Interessenkonflikten, aber auch zu Annäherungsversuchen kam. Zur Absicherung der Weltpolitik sollte eine starke Flotte aufgebaut werden. Zudem war es seit der Reichskanzlerschaft Caprivis zu einer tiefgreifenden Veränderung der von Bismarck präzise ausbalancierten Bündnispolitik gekommen, wofür die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland 1890 exemplarisch steht.157 Wilhelm II. und die Regierung des „Neuen Kurses“ glaubten daran, dass Deutschlands Interessen nun besser durch die Politik der freien Hand und Bündnisfreiheit durchzusetzen seien. Der wirtschaftliche und machtpolitische Aufstieg des Kaiserreiches wurde aber international mit großem Misstrauen verfolgt. Sämtliche Großmächte fühlten sich vom ihm in ihren Interessen herausgefordert und befürchteten entweder eine Einschränkung ihres eigenen Aufstiegs, wie etwa Russland und Amerika, oder die Verdrängung, wie vor allem Frankreich und Großbritannien.158 Der bereits erwähnte Henry Adams etwa schrieb 1897:

„Der Prozeß der Gewichtsverlagerung zentriert meiner Meinung nach weder in Rußland noch bei uns; er zentriert in Deutschland. Seit 1865 war Deutschland der große Unruheherd, und solange seine expansive Kraft nicht erschöpft ist, gibt es weder politisches noch wirtschaftliches Gleichgewicht. Rußland kann sich ausdehnen, ohne zu explodieren. Deutschland nicht. Rußland ist in vieler Hinsicht schwach und verrottet. Deutschland ist ungeheuer stark und konzentriert“.159

Der englische Diplomat Cecil Arthur Spring Rice, der von Oktober 1895 bis Juli 1898 in Berlin britischer Botschafter war, schrieb in einem Brief an Henry Adams zur wirtschaftlichen Kraft Deutschlands: Das Kaiserreich „[is] solely occupied with making money. I should think that never since man began to adorne the universe, was a whole nation so entirely and exclusively engaged in the occupation of money making. To call the Americans and the English dollar-worshippers! An occasional flirtation in face of a constant and unswerving devotion!160 Obwohl das Deutsche Reich als konstitutionelle Monarchie verfasst war und sowohl die Reichsleitung als auch das demokratische-parlamentarische Element, mithin der Reichstag, und die Zivilgesellschaft, wie Presse und Interessengruppen, eine immer bedeutendere Rolle spielten, wurde Wilhelm II. in den Jahren 1895–1914 im allgemeinen Bewusstsein und nicht zuletzt im Ausland als zentrale Figur wahrgenommen. Für einen Diplomaten wie Spring Rice schien es schwierig, das Funktionieren des deutschen Staates zu erfassen. So schrieb er an Theodore Roosevelt: „The odd thing is, that this Governement which is entirely carried on by the anti-commercial class is the most frankly commercial Governement in the world.161

Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, den historischen Ort des Kaiserreichs nur mit Blick auf die durch eine starke autoritäre Überformung gekennzeichnete Struktur des politischen Systems zu charakterisieren. Eine solche Argumentation nimmt einen besonders sichtbaren Teil der Gesellschaft, den Kaiser, das Militär, die offizielle Politik, für das Ganze, ohne damit der Multiperspektivität gerecht zu werden, die nötig ist, um die komplexe Gesellschaft des Deutschen Reichs zu beschreiben.162 Denn die Dekomposition oder, positiv gewendet, Demokratisierung Deutschlands war in vollem Gange. Thomas Nipperdey stellt heraus, „die Wilhelminische Gesellschaft war auch politisch eine kritische Gesellschaft“.163 Die Presse war relativ frei, kritische Literatur, oftmals gegen den Kaiser gerichtete, wie Ludwig Quiddes Caligula, und Satire, wie der Simplicissimus, der Kladderadatsch oder auch Der Wahre Jakob blühten.164 Darüber hinaus entstanden immer mehr bürgerliche Interessenvereinigungen,165 die auf die verschiedensten Politikfelder Einfluss zu nehmen versuchten und häufig über eigene Presseorgane verfügten. „Die deutsche Gesellschaft war vor 1914 […] eine Gesellschaft des Rechts, der relativen Liberalität und der Arbeit. […] Sie war eine Gesellschaft der Reformen […], [die] aus sich auch das wachsende Potential einer kommenden Demokratie [entwickelte]“.166 Bereits Caprivi hatte die Bedeutung der öffentlichen Meinung und die Macht der Presse erkannt.167 Und im Jahre 1890 etwa schrieb der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Herbert von Bismarck, an Paul von Hatzfeld,168 dass die Regierung wegen ihrer Nachgiebigkeit gegenüber England in kolonialen Fragen in Afrika „in Presse und Interessenkreisen großen Vorwürfen ausgesetzt [sei]“ und die deutsche Regierung deshalb entgegen ihrer Meinung in Afrika auf „Gegenseitigkeit“ seitens Englands drängen müsse.169 Das Bewusstsein, auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen zu müssen, wuchs in der Regierungszeit vor allem Bülows stark. So versuchte man durch gezielte Pressearbeit, z.B. über den Ausbau von Presseabteilungen in den Staatssekretariaten, und durch zahlreiche Interventionen bei den der Regierung nahe stehenden Zeitungen die öffentliche Meinung zu lenken.170 Allerdings überschätzte die Exekutive wohl auch ihre Möglichkeiten, diese zu beeinflussen oder gar zu beherrschen und sie konnten wohl nie „mit dem Problem der Öffentlichkeit fertigwerden.“171 Berlin war am Ende des Kaiserreichs zur Stadt mit der größten Tageszeitungsdichte Europas geworden, was zu einer Art Verdoppelung der sozialen Welt geführt hatte.172

1.6. Der Reichstag im Verfassungsgefüge: Seine politische Bedeutung

Der Reichstag stellte einen wichtigen Ort für die Regierung zur Außendarstellung und zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung dar, wie nicht zuletzt die Reden des Reichskanzlers im Parlament bezeugen. Denn zwar war der Reichstag von Bismarck bei der Reichsgründung als relativ einflussarmes Zugeständnis an die fortschrittlichen Kräfte gedacht worden war. Im Grunde aber entsprach seine Konzipierung wohl weit höher den gesellschaftlichen Interessen der verschiedenen Gruppen der damaligen deutschen Gesellschaft als vielfach behauptet und angenommen wurde.173 Auch spiegelte er immer genauer die „segmentierte Gesellschaft“174 der Wilhelminischen Epoche in Form seiner ausdifferenzierten Parteienlandschaft sehr gut wider. Das Spektrum reichte in der untersuchten Zeit von den Deutschkonservativen und Freikonservativen, den Nationalliberalen und Linksliberalen (Freisinnige Vereinigung, Freisinnige Volkspartei, Deutsche Volkspartei, seit 1910 Fortschrittliche Volkspartei175) über das Zentrum und die Sozialdemokraten bis zu Minderheitenparteien und antisemitischen Parteien.

So „kam diesem Parlament im kaiserlichen Deutschland ein sehr erheblicher, im Zeitablauf erkennbar zunehmender Einfluss auf die Gestaltung der Politik zu“.176 In der Historiographie zum Kaiserreich wurden die Abgeordneten oft – in Ausdehnung des Begriffs ̶ wie Subalterne betrachtet, die zwar eine Sprache hatten, und am Diskurs offiziell teilnehmen konnten, jedoch nur unzureichend gehört wurden.177 Nicht zuletzt Max Webers Unterscheidung zwischen einem „redenden“ und mithin kraftlosen Parlament und einem „arbeitenden“, kraftvollen Parlament178 trug stark zur abwertenden Sicht auf den Reichstag des Kaiserreichs und der nachfolgenden historiografischen Taubheit – wir benutzen hier das Wort mit Bedacht, denn es handelte sich bei den Reichstagsprotokollen um eine hybride Quelle zwischen Schriftlichkeit und Oralität – diesem gegenüber bei. Allerdings nahm auch Deutschland am „säkularen Trend zu populären, wenn nicht demokratischen Regierungsformen“ teil, was sich „nicht zuletzt in einem gesteigerten Selbstbewusstsein des Reichstags ausdrückte.“179 Die Abgeordneten entwickelten sich zu spezifischen Wissens- und Kompetenzträgern, wie etwa in Hinblick auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in den USA, und gar zu außenpolitischen Akteuren, und zwar über die Aneignung diplomatischer Themen oder die kontinuierliche Entwicklung eigener Wissenskompetenzen und internationaler wie transnationaler180 Expertisen zu innenpolitisch relevanten Fragen. Es kam mithin zu einer kompetenz- und wissensbasierten „Professionalisierung“ der Abgeordneten und zur Herausbildung des Berufspolitikers. So hatte sich im Laufe der Wilhelminischen Epoche immer mehr die Ansicht durchgesetzt, dass ein modernes Parlament ohne einen erheblichen Prozentsatz an Berufspolitikern nicht möglich war181.

In der Verfassung des Kaiserreichs stellte der Reichstag eine zwar unterschätzte, aber zukunftsreiche182, und fortschrittliche Institution dar, wenngleich man vielleicht eher von einer „Institutionalisierung“ dieser Institution sprechen sollte.183 Eine ähnliche Feststellung gilt auch für andere Institutionen184 des Deutschen Reichs, etwa das Reichsgericht oder die verschiedenen Staatssekretariate. Zum einen weist der Name des Reichstags zurück in die Epoche des Alten Reiches, in welcher der die verschiedenen Fürsten und Städte des Reiches repräsentierende „Reichstag“ neben dem Kaiser und den verschiedenen Reichsgerichten zu den politischen Machtzentren des Reiches gehört hatte. In gewisser Weise und mit großen Einschränkungen stellte der „alte“ Reichstag im Machtgefüge der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches ein vor-demokratisches Element dar. An diese Tradition wurde mit dem „Reichstag“ des Deutschen Reiches, wie mit dem Namen des neuen Gebildes insgesamt – Reich – angeknüpft.185 Friedrich Naumann etwa schrieb dazu im Jahre 1915 in seiner Schrift Mitteleuropa: „Aus allen Teilen Mitteleuropas fuhr und ritt man weite Wege zu den Reichstagen. […] Es gab eine besondere mittelalterliche mitteleuropäische Lebens- und Kulturgemeinschaft […]. Dieses Alte Reich ruckt und stößt jetzt im Weltkriege unter der Erde, denn es will nach langem Schlafe gern wieder kommen.“186 Zum anderen entwickelte sich die Institution Reichstag sowie auch die anderen Institutionen, wie etwa das Reichsgericht oder der Bundesrat, im Laufe des Kaiserreichs weiter. Die Verfassung des Reiches passte sich also der „Verfassungswirklichkeit“187, wenn nicht immer de jure, so doch de facto an: „Die in Deutschland bis 1918 vorherrschende Form des Konstitutionalismus kannte zwar keine Gleichberechtigung monarchischer und parlamentarischer Gewalt, aber seine aus freien, direkten, gleichartigen und geheimen Wahlen hervorgegangene parlamentarische Institution, der Reichstag, realisierte in seinen Debatten, auch ohne Regierungsverantwortung der Parteien, bereits wichtige Prinzipien wie Öffentlichkeit, Kontrolle der Exekutive und Diskussion.“188 Der Reichstag war eine politische Institution, also ein „Regelsystem der Herstellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlicher relevanter Entscheidungen“ und besaß damit durchaus eine wirklichkeitskonstituierende Kraft.189 Er war aber auch eine soziale Institution, für welche die „einzelne[n] Personen als Träger des Institutionellen weniger bedeutend“ sind, denn Symbolisierungssysteme und „Leitideen, die von den Mitgliedern der Institution geteilt werden“.190 Für den Reichstag des Kaiserreichs entspräche in diesem Sinne also die Entwicklung des reichstagsinternen Zeremonielles, der Geschäftsordnung und auch der sprachlichen Konventionen für Reichstagsreden und Reaktionen aus dem Plenum der Symbolisierung. Die Aneignung und Ausweitung von Kompetenzen, etwa im Bereich der Außenpolitik, über die Sprache und den Inhalt der Reden der Abgeordneten kommen perlokutiven Akten gleich, welche sowohl die Institution des Reichstags selbst als auch die Gewalt- und Machtausübung im Reich insgesamt umformten. Darüber hinaus spricht, wer zu einem anderen spricht, auch immer zu sich selbst. Das Sprechen zu anderen kann somit nicht nur perlokutiv auf jene, sondern auch auf den Sprecher selbst zurückwirken. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass der Sprechende durch die Rezeption des Diskurses (durch seine Wortwahl) jenen verinnerlicht und sich zu eigen macht.191 Über die Reichstagsreden wird denn auch deutlich, wie sich im Laufe des Kaiserreichs die spezifische Gruppe der Reichstagsabgeordneten mit einer eigenen, nationalen Identität und einem gemeinsamen, identitären Interesse herausbildete. Die Reichsleitung und die Abgeordneten selbst waren sich der Tendenz des Reichstags, seine Kompetenzen auszuweiten, durchaus bewusst. So erinnerte der Abgeordnete Ferdinand von Radziwill von der Polenpartei den Reichstag anlässlich der Debatten zum Vereinsgesetz 1908 an die Ermahnung Reichskanzler Bülows an den Reichstag, „über seine Kompetenzen wegzuschreiten;“192 Als eine die Institution entwickelnde Leitidee kann man dann sehr wohl Artikel 29 der Verfassung betrachten: „Die Mitglieder des Reichstags sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden“. Diese Idee wurde von den Abgeordneten denn auch immer wieder als Argument angeführt und war für die Entwicklung des Reichstags und auch der nationalen Identität des Kaiserreichs von ganz außerordentlicher Bedeutung. So wies der sozialdemokratische Abgeordnete Carl Legien193 während der scharf und kontrovers geführten Debatten zum genannten Vereinsgesetz auf diese Tatsache hin, als er der Freisinnigen Volkspartei vorwarf, es sei

„die alte Praxis der rechtsstehenden Parteien, in allen Fragen, bei denen es sich um Volksrechte handelt, unbesehen anzunehmen, was die Regierung vorschlägt […]. Zu dieser Praxis scheinen die Liberalen auch gekommen zu sein. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten). Sonst müssten sie von ihrem Recht als Volksvertreter, als zweiter mitbestimmender Faktor der Reichsgesetzgebung Gebrauch machen und der Regierung erklären: wenn euch etwas, was wir vorschlagen, nicht annehmbar ist, dann ist das, was ihr vorschlagt, uns auch nicht annehmbar. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten). Diese Stellung hätte ein Volksvertreter einzunehmen.“194

Auch der linksliberale Abgeordnete Georg von Siemens wies die ihm im Zuge der Debatte der zweiten Flottennovelle gemachte Vorhaltung, er sei gegen eine Finanzierung dieser über die Börse, weil er selbst Bankier sei, mit dem Argument zurück: „Ich habe die Kandidatur zum Reichstag nicht angetreten, um meine persönlichen Interessen zu vertreten, sondern um die Allgemeininteressen zu vertreten. (Sehr gut! links.).“195 Eines der Merkmale sozialer Institutionen ist ihre „kontinuierliche[n] Tätigkeitsstruktur, das „Auf-Dauer-Stellen“ der Norm- und Wertesysteme, [diese] bilden einen Aspekt erfolgreicher Institutionalisierungsleistungen.“196 Der Sprachphilosoph John Searle meinte dazu: „Weil Institutionen auf der Basis von Anerkennung überleben, wird in vielen Fällen ein komplizierter Apparat von Prestige und Ehre beschworen, um die Anerkennung zu sichern und die Akzeptanz aufrecht zu erhalten.“197 Die Eröffnung des Reichstags im Weißen Saal des Stadtschlosses in Berlin durch Kaiser Wilhelm II. und seine Anrede der Abgeordneten als „Geehrte Herren“, die Anwesenheit von zahlreichen Mitgliedern der kaiserlichen Familie, des diplomatischen Corps und von ausländischen Fürsten, wie etwa 1898 Prinz Mirza von Persien, bezeugt diese Ehrerbietung deutlich.198 Searle zufolge sind „vornehmlich drei Elemente bei der Formierung von Institutionen zu identifizieren: „Die anfängliche Schaffung einer institutionellen Tatsache, ihre fortdauernde Existenz und ihre offizielle (gewöhnlich sprachliche) Repräsentation in Form von Statusindikatoren.“199 Von allen Institutionen war daher der Reichstag wie eingangs gesagt die zukunftsreichste, denn er sollte nicht nur das Ende der Monarchie überdauern, sondern in seinen Debatten auch der modernen Gesellschaft Platz und Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Im Lauf der Zeit entwickelte der Reichstag dabei ein eigenständiges politisches Zeremoniell mit bestimmten Sprechkonventionen,200 welches zu einer Demokratisierung der politischen Handlungen beitragen sollte.

1.7. Der Reichstag: Kompetenzen und Wahl

In einem letzten Unterkapitel der Einleitung scheint es für die vorliegende Untersuchung nicht unerheblich, die Stellung und den Einfluss des Reichstags auf die allgemeine politische Organisation des Kaiserreichs kurz darzustellen und sich zunächst ein Bild der konkreten Kompetenzen dieser Institution im Rahmen der Reichsverfassung (RV) zu machen. Neben der Entwicklung eines eigenständigen Zeremoniells und eines bestimmten gruppeninternen Vokabulars und authentischer Sprachkonventionen gab der dem Reichstag durch die Verfassung zugewiesene Platz im Verfassungsgefüge in der Tat einen Trumpf in die Hand, den die Abgeordneten über die Behandlungen von Fragen, die die USA betrafen, auszuspielen wussten.

Obwohl mithin der Bundesrat, dem der Reichskanzler vorstand, zum einen die Gesetzesvorlagen an den Reichstag feststellen sollte und die Beschlüsse des Reichstages an- oder abzulehnen hatte sowie für die Ausführung der Gesetze zuständig war, hatte Bismarck dem Reichstag dennoch eine große Bedeutung zugestanden, da sein Ziel der Gründung eines starken deutschen Reiches, das mit den anderen europäischen Großmächten auf einer Ebene stehen sollte, nur durch die „nationale Kraft des deutschen Volkes“201 erreicht werden konnte und der ebendieses Volk repräsentierende Reichstag durch die „freie Kritik in der Volksvertretung […] ein notwendiges Gegengewicht gegen überspannte monarchische Tendenzen [sein sollte]“202. Der Reichstag mit seinen Abgeordneten, die in einer allgemeinen Wahl durch das männliche Wahlvolk gewählt worden waren, repräsentierte das nationale und demokratische Element der Reichsverfassung und stand dem föderalen Bundesrat und der monarchischen Exekutive mit Reichsleitung und Kaiser gegenüber. Während aber der Bundesrat, der nach Bismarck eigentlich „das Bollwerk gegen die Parlamentarisierung“203 hätte bilden sollen, im Laufe der Zeit auf Grund einer immer stärkeren Vereinheitlichung von Gesetzgebung und Verwaltung im Reich an Gewicht verlor204 und auch der autonome Handlungsspielraum der Exekutive enger wurde, nahmen die Bedeutung und die Mitgestaltungsmacht des Reichstags kontinuierlich zu. Betrachten wir deshalb kurz die Stellung des Reichstags im Verfassungsgefüge.

Das Wahlrecht zum Reichstag war relativ modern.205 Die Wahl war geheim, allgemein, gleich und direkt, wenn auch auf den männlichen Teil der Bevölkerung beschränkt. Das stellte im Vergleich zu den meisten Landtagswahlen, die oftmals nicht direkt waren und an deren Teilnahme zahlreiche Bedingungen geknüpft waren, einen großen Fortschritt dar. Jedoch kam es bei den Wahlen immer wieder zu Problemen, namentlich, weil die Wahl nur selten wirklich geheim war. Zu dieser waren alle männlichen Bürger ab 25 Jahren zugelassen, im Jahre 1912 zum Beispiel waren 22 % der Menschen wahlberechtigt, was weit mehr war als in den meisten Teilstaaten des Reiches.206 Die Abgeordneten mussten in ihrem Wahlkreis (397 Wahlkreise zu etwa 100.000 Einwohnern) die absolute Mehrheit erringen, was dem einzelnen Abgeordneten ein relativ großes Gewicht und auch Selbstvertrauen gab. Dieses Selbstvertrauen spiegelte sich in den Debatten wider; viele Abgeordnete traten selbstsicher auf, legten deutlich ihre Meinung dar und debattierten frei. Dieses Selbstbewusstsein wurde darüber hinaus noch dadurch verstärkt, dass die Abgeordneten als Vertreter des gesamten Reichsvolkes Immunität und Indemnität genossen und mithin eine relativ große Meinungsäußerungsfreiheit hatten. Selbst beamtete Abgeordnete konnte man nicht belangen.

Es herrschte eine strikte Trennung zwischen Exekutive und Parlament, die Abgeordneten konnten kein exekutives Amt ausfüllen. Bis ins Jahr 1906 wurden entsprechend Artikel 32 RV keine Diäten gezahlt.207 Die Abgeordneten sollten finanziell unabhängig sein, um die Schaffung von Berufspolitikern zu vermeiden, was allerdings wie oben gesehen ein Misserfolg war. Ein Nebeneffekt war allerdings, dass so viele Wahlberechtigte de facto von der passiven Wahl ausgeschlossen blieben. Das Gros der Abgeordneten stellten denn auch bis in die 1890er Jahre Beamte, Junker, Anwälte, Großindustrielle. Das Zentrum entsandte viele Geistliche in den Reichstag, die von der katholischen Kirche unterhalten wurden. Die SPD versuchte ihren Abgeordneten ein Gehalt zu zahlen oder sie bei der Partei zu beschäftigen, etwa in den zahlreichen Presseorganen der Partei. Das waren die sog. „Journalisten mit Mandat“.208 Die Maßnahmen der SPD eröffneten im Laufe der Reichstagswahlen einer wachsenden Zahl Arbeitern die Möglichkeit, gewählt zu werden.

Der Reichstag wurde seit 1888 alle 5 Jahren neu gewählt und kam in den sog. Sessionen zusammen. Insgesamt gab es im Kaiserreich 13 Legislaturperioden mit 42 Sessionen. Diese Sessionen konnten mehrere Monate und sogar Jahre dauern. Während bis zur 9. Legislaturperiode (1893–1897) jeweils etwa 4–5 Sessionen pro Legislaturperiode zu je 1–4 Monate stattfanden, gab es ab der 10. Legislaturperiode (1898) nur noch zwei Sessionen, die sich aber zum Teil über mehrere Jahre erstreckten.209 Die Masse an Protokollseiten wuchs dabei stark an, wie ein Blick in den Index der stenografischen Berichte zeigt. Auch daraus lässt sich folgern, dass dem Reichstag immer mehr Aufgaben zufielen und der Diskussionsbedarf zunahm, was mit der Tendenz zu steigender Verrechtlichung einherging und zusammenhing.

Allerdings hatte der Reichstag kein Selbstversammlungsrecht, sondern wurde vom Kaiser nach Artikel 12 RV einberufen. Es war mithin der Kaiser, der auch die Sessionen eröffnete und beendete.210 Die Sitzungen waren öffentlich, und sie wurden dank der recht freien Presse mit großer Bandbreite und stetig steigenden Auflagen im Deutschen Reich breit diskutiert.

Dem Reichstag stand nach Artikel 23 RV das Recht der Gesetzesinitiative zu, doch bedurfte jedes Gesetz der Zustimmung des Bundesrates, der nach Artikel 16 RV ebenfalls Gesetze im Reichstag einbringen konnte. Die Kernkompetenz des Reichstages war das Budgetrecht (Artikel 69 RV). Über den Haushalt musste jedes Jahr abgestimmt werden, der größte Teil freilich, der Militärhaushalt, kam lediglich alle 5 Jahre zur Abstimmung. Während sich die erste Beratung auf eine allgemeine Debatte beschränkte, folgte in der zweiten Beratung eine Diskussion des zur Abstimmung stehenden Gesetzes. Die dritte Beratung, welche manchmal auch ohne Debatte stattfand, brachte schließlich eine Synthese der Diskussionen und es wurde zur Abstimmung geschritten. Der Reichstag konnte sich im Grunde mit allen Themen beschäftigen, auch mit der Außenpolitik. Diese Themenbreite wurde namentlich durch das Budgetrecht des Reichstags ermöglicht, da im Zuge der Verhandlungen der verschiedenen Etats alle möglichen Fragen behandelt werden konnten und wurden. Diplomatische, außenpolitische oder internationale Fragen und Themen, welche in der vorliegenden Arbeit naturgemäß eine hervorragende Stellung einnehmen, konnten nicht zuletzt deshalb thematisiert werden, da alle Verträge mit fremden Staaten, die die Zoll- oder Handelspolitik berührten, der Zustimmung des Reichstages bedurften. Diese recht weitgehenden Kompetenzen eröffneten dem Reichstag den Zugang zu dem sich stetig vergrößernden öffentlichen Raum, der eines der charakteristischen gesellschaftlichen Entwicklungsmerkmale auf beiden Seiten des Atlantiks war.

Der Reichstag war sehr debattierfreudig und die Debatten wurden intensiv von der Presse beobachtet und verfolgt. Über die Debatten des Reichstags ließen sich somit „am stärksten die Hauptströmungen der Epoche: Sozialintervention, Nationalismus, Massendemokratie“ nachvollziehen.211 Die allgemeinen, sehr offenen und oft auch langen Aussprachen – wie gesagt drei Beratungen – ließen darüber hinaus vielfältigen Themen und Meinungen Raum. Dabei lassen sich die Debatten selbst durchaus als performative und perlokutive Akte sehen, die mit Hilfe eines kulturgeschichtlichen212 Ansatzes, der seit den 1980er Jahren verstärkt zur historischen Analyse zum Einsatz kommt, gedeutet werden können, zumal gerade durch die Sprache religiöse, ethnische, mentale oder ideologische und politische Faktoren und damit kulturelle oder auch soziale und politische Hintergründe der Abgeordneten hervorgehoben und erkennbar wurden.213 Die Abgeordneten kann man zumindest in ihrer Ausgangssituation durchaus als subalterne Gruppe betrachten, die mit den traditionell „Mächtigen“, also den Vertretern der alten Elite in den bisher staatstragenden Institutionen, wie Armee, Bürokratie und Exekutive, neue Arten der Kooperation und des Zusammenlebens aufbauen mussten214 und dabei gleichzeitig ihre Stellung stärken wollte und über den demokratischen Druck der Wahl auch musste. Für die Abgeordneten – und auch für die Reichsleitung ̶ stellte der Reichstag zudem eine Bühne dar, auf der sie dem Wahlvolk, welches diese Debatten über die zunehmende Mediatisierung rege verfolgte, ein Schauspiel boten. So wurden demokratische Akte, demokratisches Handeln und Miteinander-Umgehen gleichsam sowohl seitens der Abgeordneten vorbildhaft dargestellt. Die Rezeption dieser „Inszenierung“ seitens der Bürger wirkte jedoch selbst wiederum auf die Abgeordneten und ihr Auftreten im Reichstag zurück. Es kam so zu einem wechselseitigen Bedingungsgeflecht, wodurch sich die Gewöhnung an die Ausübung demokratischer Macht und Verhaltensweisen gegenseitig verstärkten und intensivierten.215 Das „politische Ritual [glich also einer] Art von Aufführung, welche der Selbstdarstellung und Selbstverständigung bzw. der Stiftung oder Bestätigung von Gemeinschaft unter Anwendung spezifischer Inszenierungsstrategien und -regeln dient[e].“216

Da der Reichskanzler vom Kaiser ernannt wurde und die Staatssekretäre dem Reichskanzler unterstanden, hatte der Reichstag nur wenig direkte Einwirkungsmöglichkeiten auf die Zusammensetzung der Reichsleitung. So blieben auch die verschiedenen Bereiche der Exekutive hauptsächlich mit Vertretern der vorindustriellen Herrschaftsgruppen oder der alten Elite besetzt.217 Die Bedeutung des Reichstages nahm im Laufe der Zeit auf Grund der „allgemeinen Tendenz zum Interventionsstaat“ und der daraus folgenden Ausweitung der öffentlichen Haushalte immer weiter zu.218 Durch die steigende Verrechtlichung und der allgemeinen Entwicklung des Rechtes, wie etwa die Durchsetzung des Rechtspositivismus219 und des Gesetzesvorbehalts, musste der Reichstag vermehrt an den Gesetzesvorhaben beteiligt werden. Man kann zweifellos von der, wie von Manfred Rauh so bezeichneten, „stillen“ Parlamentarisierung220 des Kaiserreichs sprechen. Allerdings lief diese Parlamentarisierung wohl weniger still denn informell ab. Zwar wurden die offiziellen Befugnisse und Kompetenzen des Reichstags im untersuchten Zeitraum nur wenig legalisiert und durch Gesetze offiziell gemacht. Nichtsdestoweniger kann man die Kompetenzausweitung, den immer stärkeren Zwang zur Implikation und Beteiligung des Reichstags gerade bei Debatten zu internationalen Themen sehr gut nachvollziehen.221 Die Abgeordneten selbst waren sich dieser Parlamentarisierung durchaus bewusst, wie es in zahlreichen Reichstagsdebatten zum Ausdruck kam. Deshalb scheint der Ausdruck „informelle“ Parlamentarisierung treffender zu sein als der der „stille“ Parlamentarisierung und wird in der vorliegenden Arbeit durchgehend bevorzugt.

Im Einklang mit der Feststellung einer informellen Parlamentarisierung steht die Beobachtung, dass dem Reichstag im Laufe der Zeit ein anwachsendes Interesse seitens des Wahlvolkes entgegengebracht wurde. Die Wahlbeteiligung stieg von 51 % im Jahre 1871 auf 84,9 % im Jahre 1912.222 Diese Steigerung war Ausdruck einer von der Wissenssoziologie so bezeichneten „Fundamentalpolitisierung“ der Bevölkerung223 ab dem Jahr 1890224, dem Jahr von Bismarcks Entlassung also. Die Menschen erlebten die Wahlen als ein nationales Ereignis, was zu einer zunehmenden Identifikation mit dem Reich führte. So „boten die Reichstagswahlkämpfe und Reichstagswahlen die Möglichkeit, die Einheit der politischen Nation zu erfahren.“225 Obwohl die Verfassung des Kaiserreichs im Gegensatz zu anderen Verfassungen, wie etwa der amerikanischen, den Begriff der Volkssouveränität nicht kannte226 und obwohl sie dem Reichstag nur beschränkte Kompetenzen zuwies, konnte er durch die Zunahme der Wahlbeteiligung und dem starken Interesse an den Wahlkämpfen227 seine „laterale Macht“228 steigern, d.h. „eine Macht, die aus der Beziehung zwischen Menschen erwächst“. Dass die Abgeordneten immer stärker versuchten, ihre Macht zu steigern und so die Politik ihres Landes mitzugestalten, lässt sich auch in anderen Ländern beobachten.229 Die Zunahme dieser „lateralen Macht“ wurde sicher auch dadurch erreicht, dass die Reichstagsabgeordneten sich mehr und mehr als einen Körper wahrnahmen, dessen einzelne Mitglieder sich auch immer stärker gegenseitig über Parteigrenzen hinweg respektierten.230 Diesen „gegenseitigen Respekt“ kann man sehr wohl in den Debatten und der Debattenkultur zu Themen mit USA-Bezug erkennen.231 Die Beobachtung, dass die Abgeordneten im Reichstag relativ leidenschaftslos sprachen, im Gegensatz zu etwa ihren französischen Kollegen, kann auf den Unterschied Republik ̶ konstitutionelle Monarchie verweisen, oder aber eben auch Ausdruck des sich als Gruppe-Fühlens bedeuten. Diese Feststellung steht wie viele andere auch in Bezug auf die Forschung zum Kaiserreich der oft betonten Zersplittertheit des Reichstages entgegen.232 Sebastian Dieckmann etwa schrieb beispielhaft für derartige Meinungen dazu:

„Für den heutigen Betrachter auffällig ist das Auseinanderklaffen zwischen verbalem Ton und politischen Konsequenzen bei den Debatten im Reichstag. Ein genaues Studium zeigt, daß nicht nur die „Reichsfeinde“ SPD und Zentrum sehr scharfe Töne im politischen Gespräch fanden, sondern alle Beteiligten sowohl untereinander, mit der Exekutive sowie dem Staat an sich scharf ins Gericht gingen. Dafür war im Falle der SPD etwa natürlich die programmatische Kluft zwischen revolutionärer Theorie und zunehmend reformorientierter Revisionismuspraxis mitverantwortlich. Aus solchen äußerst erregt geführten Debatten erwuchsen nun aber kaum praktische Ergebnisse. Dies lag einerseits an der fehlenden Regierungsverantwortung der Abgeordneten, denn für verbalem Schlagabtausch folgende Kompromisskoalitionen fehlte ihnen der Anteil an der Macht, ohne Verantwortung der Zwang zur Integration. Damit blieben die Parteien reaktiv und auf verbale Kritik beschränkt. Die konstatierte mangelnde Einigkeit der im Reichstag vertretenen Parteien war also systembedingt. Die in der Reichsverfassung des konstitutionalistischen Deutschlands festgelegte ausschließliche Positionierung der Parteien in den Bereich der Legislative war für ihre Haltung gegenüber Staat und Politik mitverantwortlich.“233

Diese pessimistische und apodiktisch verurteilende Sicht auf den Reichstag lässt sich nach einer intensiven und extensiven Lektüre der Verhandlungen des Reichstags so nicht halten. Vielmehr stellt man den unaufhaltsamen, wenn auch langsamen Prozess der „informellen“ Parlamentarisierung und Festigung des „repräsentativen“ Charakters fest, in der das Parlament als institutionell geschlossener Körper sowohl gegenüber der Exekutive als auch dem „Volk“, oder anders ausgedrückt, dem plebiszitären Element der Verfassung234 an Gewicht beständig zunahm. Auch der Ton der Debatten war, wie man sehen wird, im Übrigen gar nicht so scharf oder gar aggressiv, wie hier behauptet. Vielmehr war der benutzte Ton oft sehr sachlich oder aber ironisch-sarkastisch. Dass im Übrigen der Ton in den Verhandlungen des Reichstags 100 Jahre später als oft scharf interpretiert wurde, zeugt von einer Aufgeregtheit und ideologisch-systemischen Unsicherheit unserer Zeit. Ob heute noch ein „Bützower Hoftag“ möglich wäre, ist dabei fraglich. Die zwischen 1895 und 1914 von Rostocker Corpsstudenten durchgeführte Persiflage auf Wilhelm II. und dessen Hofstatt nahm ab Kriegsbeginn ein jähes Ende.235

In der Untersuchung soll der an Selbstbewusstsein gewinnenden, jedoch tendenziell weniger im Deutschen Reich als in der Historiographie als subaltern behandelten Gruppe der Reichstagsabgeordneten „zugehört“ werden.236 Darüber soll besser verstanden werden, wie sie eine „informelle“ Parlamentarisierung vorantrieben, welche letztlich zu jener eigentümlichen Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie237 des Grundgesetzes führen sollte.

Details

Seiten
616
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631909720
ISBN (ePUB)
9783631909737
ISBN (Hardcover)
9783631902530
DOI
10.3726/b21263
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (April)
Schlagworte
Informelle Parlamentarisierung Demokratisierung Diplomatie Wirtschaftsbeziehungen Gesellschaftliche Themen
Erschienen
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2023. 616 p.

Biographische Angaben

Markus Hiltl (Autor:in)

Markus Hiltl ist professeur agrége für Deutsch in Paris. Er hat an der Universität Regensburg, der Philipps-Universität Marburg und an der Sorbonne in Paris Geschichte und Anglistik/ Amerikanistik studiert. Er hat an der Ludwig-Maximilians-Universität in amerikanischer Kulturgeschichte promoviert und ist freiberuflich als Übersetzer für geisteswissenschaftliche Werke vom Französischen ins Deutsche tätig.

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Titel: Der Reichstag und die Vereinigten Staaten in der Wilhelminischen Epoche (1895-1914)