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Die «kleinsten Nebentexte»: Namensdiminutive, Benennungsdifferenzen und charakterisierende Namen weiblicher Figuren in tragischen Dramen der Goethezeit

von Ricarda Sonnenschein (Autor:in)
©2024 Dissertation 364 Seiten

Zusammenfassung

«Name ist Schall und Rauch», heißt es in Goethes Faust I. Diese Studie zeigt, dass Figurennamen allerdings viel mehr sind. Insbesondere die sprechenden Namen modellieren den Charakter und weisen Identität zu, was die Untersuchung maßgeblich anhand der Protagonistinnen in Faust, Egmont und Das Käthchen von Heilbronn zeigt. Unter Rückgriff auf die literarische Onomastik widmet sich das Buch diesen kleinsten Nebentexten und legt den Schwerpunkt auf die Namenswechsel der Frauenfiguren, die einerseits mit, andererseits ohne Diminutiv benannt werden. Vordergründig stellt sich dabei die Frage, in welcher Abhängigkeit die Benennungsdifferenz zum Gesamtdramenkontext und zur Figurenkonstellation steht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Methodisches Vorgehen
  • 1.2 Die kleinsten Nebentexte im Drama
  • 2 Name ist Schall und Rauch? Figurennamen als identitätsgebendes Merkmal
  • 3 Die Bedeutung der Benennungsdifferenz bei jungen Protagonistinnen mit und ohne Namensdiminutiv für das Figuren-/ Dramenkonzept
  • 3.1 Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel: Lessings Miß Sara Sampson
  • 3.1.1 Merkmale der neuen Gattung
  • 3.1.2 Der tragische Verlauf der Sara-Handlung unter Berücksichtigung der Namensnennung der Protagonistin
  • 3.2 Der Namenswechsel der bürgerlichen Geliebten in Faust
  • 3.2.1 Die Bedeutung des Namens und mögliche Vorlagen
  • 3.2.2 Die Namensgebung vor der Liebesvereinigung
  • 3.2.3 Die Namensgebung nach der Liebesvereinigung
  • 3.2.4 Die Protagonistin als hingebungsvoll Liebende
  • 3.3 Der Namenswechsel bei der bürgerlichen Geliebten in Egmont
  • 3.3.1 Die Bedeutung des sprechenden Namens
  • 3.3.2 Die Klärchen-Handlung: Das Scheitern des Bürgersmädchens in der Öffentlichkeit
  • 3.3.3 Die Protagonistin als Allegorie der Freiheit
  • 3.4 Der Namenswechsel in Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe
  • 3.4.1 Die Namensbedeutung der Titelheldin
  • 3.4.2 Der figurale Kontrast: Die Protagonistin als bürgerliches Mädchen und adlige Kaisertochter
  • 3.4.3 Natürlichkeit und Künstlichkeit – Die charakterlichen und räumlichen Zuordnungen der Antagonistinnen
  • 3.5 Das Namensdiminutiv der Protagonistin in Die Kindermörderin
  • 3.5.1 Die Namensbedeutung von Evchen
  • 3.5.2 Evchen als gefallene Bürgerstochter
  • 3.6 Die weibliche diminuierte Anrede in Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung
  • 3.6.1 Gustchens Namensbedeutung
  • 3.6.2 Die adlige Protagonistin als gefallenes Mädchen?
  • 4 Ausblick: Diminuierte Mädchennamen in Lustspielen des 18. Jahrhunderts
  • 5 Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • Series Index

1 Einleitung

„Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen / Gewöhnlich aus dem Namen lesen“.

(Faust I, V. 1331 f.)1

Anhand dieser Aussage, die Faust im Studierzimmer trifft, als er Mephistopheles’ Namen erfragt, lassen sich die forschungsrelevanten Fragen für die vorliegende Arbeit ableiten: Wie steht der Eigenname einer Dramenfigur in Verbindung zu seinem Träger? Welche Bedeutungen impliziert ein Name und inwieweit werden diese bei der Namenswahl berücksichtigt? Inwiefern lassen sich über den Eigennamen Aussagen zum Charakter einer Person ableiten?

Fausts Auffassung zufolge macht der Name das Wesen eines Menschen identifizierbar und veranschaulicht dessen Charakter sowie Eigenschaften. Das Wissen um Namen bildet demnach ein entscheidendes Kriterium, um Rückschlüsse auf eine Figur ziehen zu können, da der Eigenname ein sprachliches Zeichen ist, das sowohl eine Ausdrucks- als auch Inhaltsseite hat und deshalb eine Bedeutung in sich trägt.2 Dabei gibt sich jedoch nicht die Person selbst einen Namen, sondern erhält ihn von jemand anderem; so werden Figuren von Dichtern mit Namen benannt, die zuweilen mit dem Wesen der Figur übereinstimmen, insofern sind sie nicht zufällig gewählt. Folglich dient der Name dazu, einen Charakter zu modellieren und sich durch diesen mitzuteilen, so dass sich der Name als ein identitätsgebendes Merkmal auffassen lässt. Schließlich besteht die Aufgabe der literarischen Namen darin, Assoziationen und Bedeutungen zu vermitteln, die im Zusammenhang mit seinen Referenten stehen, womit deutlich wird, dass Autoren keine willkürliche Namenswahl treffen.3 Vielmehr sagen Namen etwas über ihre Träger aus und verweisen auf deren Charaktereigenschaften, diesbezüglich hält Friedhelm Debus in seiner ausführlichen Darstellung über Namen in literarischen Werken pointiert fest: „Die Grundfunktion des Namens, gleich welcher Art, ist in Namensgebung und Namenverwendung die der Identifizierung.“4 Mit dieser Deutung schließt er an Ernst Cassirers Überlegung an, dass der Eigenname „mit geheimnisvollen Banden an die Eigenheit des Wesens geknüpft ist“5, der nicht bloß etwas über den Menschen aussagt, sondern direkt zu ihm gehört, so dass der Name und die Persönlichkeit ineinanderfließen. Dieser prägt und kennzeichnet demnach das menschliche Wesen, außerdem weist er ihm Identität zu, womit der Name zum einen die Funktion der Identifikation sowie Individuation erfüllt, zum anderen die der Charakterisierung, die insbesondere mit sprechenden Namen zusammenhängt.6

Dies lässt sich gleichermaßen in Dramen feststellen: Bevor sich im Drama überhaupt die Handlung in Akt und Szene entfaltet, macht der dramatische Text schon erkennbar, wie seine Figuren durch ihre Namen organisiert sind. Die dramatis personae präsentieren – zumindest im Trauer- oder Schauspiel bis zum Ende der Frühen Neuzeit – die stratifikatorische Differenz zwischen Figuren, indem Standesbezeichnungen dem Figurennamen hinzugesellt, darüber hinaus Figurenkonstellationen notiert oder angedeutet werden, dadurch markieren sie die Figur mit einer Eigenschaft. Zugleich deuten die dramatis personae auf das Konfliktpotential der aufeinandertreffenden gesellschaftlichen Stände, womit das Personenverzeichnis zu einem Teil der Exposition wird.7 Figuren erhalten zudem – diesseits ihrer ständischen Zuordnung – allein durch ihre Namen und deren Bedeutung Identität, deshalb fällt die Wahl der Figurennamen im Drama nicht zufällig aus, sondern konstruiert die Figuren mit ihren entsprechenden Charaktereigenschaften, so dass sie (im Einzelfall) unmittelbar im Zusammenhang mit der jeweiligen Bedeutung oder Übersetzung ihrer Namen stehen.

Bei genauerer Betrachtung von bürgerlich-tragischen Dramen der Goethezeit, die junge Frauen auf die Bühne stellen, die aufgrund der starren Gesellschaftsnormen am Ende scheitern, fällt hinsichtlich des für die Protagonistin gewählten Namens im Dramenverlauf vereinzelt eine Benennungsdifferenz durch Diminutive sowohl im Nebentext als auch in der Figurenrede auf. Dass diese Beobachtung in erster Linie weibliche Figuren betrifft, weist auf den Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts zurück, denn obwohl der Ursprung von Diminutiven nicht in Gänze geklärt zu sein scheint8, lassen sich nichtsdestoweniger zu dieser Zeit überwiegend Diminuierungen bei Substantiven und insbesondere bei Eigennamen feststellen.9 Dies schlägt sich demgemäß in den tragischen Dramen der Goethezeit nieder, die für den Namen des bürgerlichen Mädchens die Gutturalvariation -chen verwenden, welche hauptsächlich zu Beginn und in der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Schriftsprache vorherrschen.10

Johann Christoph Gottsched (1700–1766) bestimmt in der Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst, Nach Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts hierzu: „Mit besserem Rechte gehöret die Verkleinerungs-Endung -chen [in die Schrift].“11 Während des Sturm und Drang dominiert das Gutturalsuffix die Prosa – sowohl die Sachprosa wie auch die Prosadichtung, die das bürgerliche Trauerspiel kennzeichnet –, allerdings bevorzugen die Dichter für die Poesie zu dieser Zeit das Liquidsuffix -lein, das als das Edlere bezeichnet wird.12 Zusätzlich zeigt sich hinsichtlich der diminuiert gebrauchten Namen innerhalb der Familie ein Anstieg bei weiblichen Verwandten, der sich ab dem 18. Jahrhundert abzeichnet und sich bis ins 19. Jahrhundert verstärkt.13 Da in den bürgerlichen Trauerspielen die Familie, das Volkstümliche und der familiäre Privatraum im Mittelpunkt stehen, passt sich dahingehend konsequenterweise die Sprache an, indem die intimen, vertrauten Beziehungen z.B. durch hypokoristische Anreden dargelegt werden, demnach übernimmt das bürgerliche Trauerspiel die natürliche Ausdrucksweise des Bürgertums. Bei der Sprachwandeluntersuchung ist bezüglich der Verkleinerungsform außerdem zu beobachten, dass sich bis ins 19. Jahrhundert Diminuierungen bei der Benennung von Töchtern entwickeln, wohingegen diejenigen der Söhne seit Beginn des 17. Jahrhunderts zurückgehen.14 Folglich tragen die Protagonistinnen vermehrt in den bürgerlichen Dramen diminuierte Eigennamen, um die Sprache des Bürgertums auf natürliche Weise nachzuahmen. Bei genauerer Untersuchung von bürgerlichen Trauerspielen, genauso wie von Dramen, die sich aufgrund des thematischen Schwerpunkts und der Beziehungskonstellationen dieser Gattung angleichen, zeigt sich, dass nicht bloß die Dramenfiguren auf diese Verkleinerungsform des Namens zurückgreifen, sondern sowohl die dramatis personae als auch der dramatische Nebentext die Protagonistinnen mit ihren diminuierten Namen aufführen, wobei der Nebentext vereinzelt zwischen der entlehnten und der ursprünglichen Namensvariante changiert. Dieser Auffälligkeit wurde in der Forschung bisher nicht umfassend nachgegangen, daher ist es Ziel dieser Arbeit, zu untersuchen, wie sich ein solcher Namenswechsel auf die weiblichen Figuren in tragischen Dramen der Goethezeit und deren Wahrnehmung auswirkt.

Neben der Nachahmung der natürlichen Alltagssprache haben die bürgerlichen Trauerspiele im Allgemeinen den Anspruch, die Natur des Menschen hervorzuheben. Dies liegt in der Poetik von Gotthold Ephraim Lessing begründet, die Frau in dieser neuartigen Gattung in ihrer Natürlichkeit darzustellen, denn laut Lessing rüstet „[d]ie Natur […] das weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zärtlichkeit, nicht Furcht erwecken, nur seine Reize sollen es mächtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen.“15 Die Weiblichkeitsvorstellung sowie das Weiblichkeitsideal beruhen folglich auf Reinheit, Hingabe und Emotionalität; zusätzlich ordnet die gesellschaftliche Geschlechterordnung des 18. Jahrhunderts den Frauen den häuslich-familiären Bereich zu, wohingegen der aktive Mann in der Öffentlichkeit agiert.16

Das bürgerliche Trauerspiel setzt an die Stelle des Hofes, der großen politischen Bühne, des Handlungs- und Konfliktraums des Trauerspiels im Barock bzw. in der Frühaufklärung die Familie, überdies das (private) Haus, wobei sich dieses tragische Genre im 18. Jahrhundert grundsätzlich in zwei Phasen gruppieren lässt. Anfänglich überwiegt der Empfindsamkeitsethos, jedoch verlagert sich der Schwerpunkt während der Sturm und Drang-Periode, in der nicht mehr bloß die bürgerliche Tugend sowie der geschlossene Familienkreis zu den Hauptthemen zählen, sondern der Ständekonflikt problematisiert wird.17 Zu der ersten Phase gehört Lessings Drama Miß Sara Sampson (1755), das im Untertitel die neuartige literarische Gattungsbezeichnung trägt18, die aus semantischer Perspektive mit dem Attribut bürgerlich die private, im Sinne der häuslich-familiären, nicht-öffentlichen Sphäre akzentuiert.19 Die Probleme des häuslichen Lebens und des moralischen Verhaltens des Privatmenschen stehen im Vordergrund, nicht mehr der politische, adlige Held, der das heroische Trauerspiel beherrscht, folglich bildet das Familieninteresse einen elementaren Bestandteil der dramatischen Gattung, so dass bürgerlich nicht lediglich den Stand bezeichnet, dem das Bühnenpersonal angehört, sondern darüber hinaus die dargestellte Lebensweise und Gesinnung der Figuren.20

Gleichwohl beruht der tragische Konflikt in den Trauerspielen auf dem Gegensatz der sozialen Stände. Demnach wird die Ständeklausel hinsichtlich der Liebe sowie der Verführung in den späteren bürgerlichen Trauerspielen zur Ursache des Tragischen, so dass sich die Genrebezeichnung unverkennbar auf die gesellschaftliche Ständekritik bezieht21, die sich ebenfalls in den für die vorliegende Arbeit wichtigen Dramen wiederfindet, welche jedoch laut Gattungsdefinition nicht allesamt zu den bürgerlichen Trauerspielen zählen, angesichts des gleichen Konfliktpotentials dennoch geeignete Referenzen für das Forschungsvorhaben im Blick auf die Namenswechsel junger Bürgersmädchen darstellen. Johann Gottlob Benjamin Pfeil betont diesbezüglich in seinen Abhandlungen Vom bürgerlichen Trauerspiele Mitte des 18. Jahrhunderts, dass sich diese Art des Trauerspiels von dem lyrischen und heroischen abgrenze, da „allein das bürgerliche [Trauerspiel] sich bloß in die Schranken des bürgerlichen Standes ein[schränkt].“22 Weiterhin legt er diese Gattung als eine Nachahmung einer Handlung fest, die eine Person aus dem bürgerlichen Stand unglücklich darstelle; zudem erkennt er, in Anlehnung an Lessing, die grundsätzliche Absicht des Trauerspiels darin, Schrecken und Mitleid zu erwecken23, wobei Lessing die aristotelischen Tragödienbegriffe eleos (Jammer) und phobos (Schauder) in seiner Dramentheorie mit Mitleid und Furcht übersetzt.24 Das bürgerliche Trauerspiel bedient sich letztlich der Rührung zur Besserung, nutzt also nicht die Furcht zur Abschreckung.25 Dadurch, dass nun eine bürgerliche Privatperson im Mittelpunkt des Geschehens steht, bietet das Drama dem Publikum eine größere Identifikationsmöglichkeit als mit den weitentfernten königlichen Helden der Tragödie, die mit ihrem Schicksal das Gemüt des Zuschauers minder anregen, da ihre Leidenserfahrungen nicht denjenigen des Publikums entsprechen.26 Erst die dramatische Nachahmung des Leidens eines bürgerlichen Protagonisten löst Empfindungen beim Zuschauer aus und erzielt dessen Mitleid.27 Lessing führt in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767) hierzu aus:

Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stück Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen […].28

Somit verwendet das bürgerliche Trauerspiel für seine Figuren alltägliche, für das Bürgertum typisch diminuierte Namen, die ihrem Stand entsprechen, anstelle auf Namen zurückzugreifen, die „Pomp und Majestät“29 evozieren. Auf diese Weise erscheint die Figur authentisch, mithin für das Publikum greifbar, so dass das Drama sein Ziel erfüllt, Mitleid empfinden zu können; schließlich besteht laut Lessing die dramatische Bestimmung darin, „nicht bloß [zu] lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß.“30 Dies ist nur durch Identifikation mit demselben möglich, die eine moralisch bessernde Wirkung erreicht, darüber hinaus häufig an die Rührung des Herzens gekoppelt ist31, die letztlich erzielt wird, wenn sich der Zuschauer in den Handelnden hineinversetzen kann und ihm dementsprechend nahesteht.

Lessings Dramentheorie leistet zusammengefasst eine Entdeckung des bürgerlichen Menschen, der nicht bloß aufgrund seines Standes definiert, sondern dem eine Innerlichkeit beigemessen wird, die Aufschluss über seinen individuellen Charakter gibt, jenseits der Normen des öffentlichen Lebens.32 Die Protagonisten des bürgerlichen Trauerspiels sind daher zwar durch ihre Gesellschaftszugehörigkeit gekennzeichnet, aber die Herausarbeitung ihres Wesens, ihrer intimen Gedanken und dessen, was sie als Individuum auszeichnet, steht im Fokus des Dramas. Infolgedessen liegt die Aufgabe eines Dichters nicht bloß darin, zu rühren, vielmehr müssen die Figuren auch gemalt werden.33 Dies geschieht bereits, wenn die gewählten Eigennamen Eigenschaften einer Figur beschreiben, die derart mit ihrem Wesen verknüpft sind.

In den zu analysierenden Dramen, die jeweils ihre Protagonistinnen aufgrund von sozial-gesellschaftlichen Normen scheitern lassen, richtet sich der Blick auf die weiblichen Namensdiminutive, die insbesondere in diesen Werken gebraucht werden, um die weiblichen Hauptfiguren in ihren vorgegebenen bürgerlichen Standeszugehörigkeiten sowie Geschlechterrollen zu zeigen, die durch Intimisierung und Familisierung markiert sind.34 Außerdem bildet das soziale Kommunikationsgefüge einen notwendigen Beobachtungsschwerpunkt, da sich anhand dessen die zwischenmenschlichen Beziehungen ermitteln lassen, so kann erstens erarbeitet werden, welche Figuren die diminuierte Anrede gebrauchen, zweitens, welche Implikationen damit verbunden sind, wodurch der Namensgebrauch in der Figurenrede einer Fremdcharakterisierung gleichkommt. Der Leser erfährt auf diese Weise, in welchem Beziehungsgeflecht die Protagonistinnen stehen und mit welcher Haltung ihnen ihr soziales Umfeld gegenübertritt. Die eingängige Betrachtung des Kommunikationszusammenhangs sowie die Perspektive von außen auf die Mädchen bilden deswegen eine wichtige Grundlage für die Arbeit, denn dadurch kann der Frage nachgegangen werden, welchen (Wahrnehmungs-)Unterschied die Benennungsdifferenz beinhaltet, schließlich bleibt der Eigenname in seiner Grundbedeutung respektive seiner Übersetzung gleich; unabhängig davon, ob er diminuiert wird.

Werden für die Frauen die Verkleinerungsformen als Hypokoristika verwendet, erscheinen sie im Allgemeinen liebevoll, so dass der Rezipient die Gefühlsintensität zwischen zwei Figuren besser begreifen und die inszenierte Liebe, Leidenschaft, aber genauso Verzweiflung oder Trauer mitfühlen kann.35 Folglich geben diminuierte Anreden Aufschluss über Beziehungen. Außerdem treten sie vermehrt in den bürgerlichen Trauerspielen auf, damit die dramatische Konzeption Lessings Definition von Mitleiden realisiert und unter Rückgriff auf Kosenamen für die Liebhaberin die Intimität innerhalb des Privatraumes gezeigt werden kann.

In diesem Zusammenhang darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass diminuierte Namen mit zwei wesentlich differenten Implikationen verbunden sind, da sie zum einen, wie die Koseformen, einer Person schmeicheln, zum anderen eine erhebliche Abwertung ausdrücken.36 Dieser Feststellung schließt sich Michael Lohde in seiner Ausarbeitung zu der deutschen Wortbildung an, denn es gebe sowohl Diminutive, die eine meliorative als auch solche, die eine pejorative Konnotation einschließen37, daher lässt sich nicht im Vornhinein bestimmen, welche Bedeutung das Namensdiminutiv der Protagonistin beinhaltet, so dass der kontextuelle wie situative Rahmen zu untersuchen bleibt, in dem es geäußert wird, denn nur dieser „entscheidet bei einer Diminutivform darüber, ob sie als Ironie, Abneigung […], Kosen, [oder] Zärtlichkeit […] ‚feinverstanden‘ werden muß.“38 Daher bedarf neben der Haltung des sozialen Gefüges gegenüber dem Mädchen die Kommunikationssituation im Drama einer dezidierten Analyse, um zu beurteilen, was die jeweilige Diminution impliziert und wie die Figuren insgesamt emotional zueinanderstehen. Sogleich stellt sich vordergründig die Frage, inwiefern sich das Figurenkonzept der Protagonistin in den ausgewählten Dramen durch die unterschiedliche Benennung (mit oder ohne Namensdiminutiv) im Nebentext zugleich in der Figurenrede verändert39, womit sich ein weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld eröffnet. Der Frage wird unter Berücksichtigung der These nachgegangen, dass der Figurenname eine charakterisierende Funktion übernimmt. Seine Variation, etwa als Diminutiv, mag entscheidende Implikationen für die Anlagen der Figuren haben. Darüber hinaus bleibt auszuwerten, wie diese Namenswechsel in Beziehung zu den Nebentexten wie Regiebemerkungen40 und den jeweiligen dramatischen Räumen stehen. Erst durch die Bühnenanweisungen ist ersichtlich, in welcher Situation welcher Name für die Protagonistin gewählt wird. Die Schauplätze geben darüber Aufschluss, ob sich die Figur in einem privaten oder öffentlichen Raum aufhält, so kann sich je nach Räumlichkeit das Verhalten ändern, was mit dem Namenswechsel einherzugehen vermag und deshalb einen Untersuchungsgegenstand darstellt.

Somit zielt die Arbeit darauf, aufzuzeigen, inwieweit der weibliche Figurenname mit der Individualität der Hauptfigur zusammenhängt, die sich in den jeweiligen dramatischen Situationen widerspiegelt. Diese Situationen ereignen sich in Räumen, die ihrerseits abhängig von der Örtlichkeit Beziehungen unterschiedlich gestalten, gleichsam Einfluss auf das Innere einer Figur, ihr Verhalten und ihre Äußerungen nehmen. Die Bühnenanweisungen ergänzen nicht allein das Handeln der Figuren, womit sie ihren Charakter ausformen, sondern beschreiben vielfach den Ort des Geschehens, weshalb sich die Namensauswertung auf Räumlichkeiten, die durch Regiebemerkungen vermittelt werden, beruft.

Hauptgegenstand der Analyse bilden Dramen der Goethezeit, in denen die Protagonistinnen einerseits mit dem Gutturalsuffix, andererseits ohne Namensdiminutiv benannt werden und deren Benennungsdifferenz sowohl im Nebentext als auch in der Figurenrede, zum Teil lediglich in der Figurenrede, vorliegt. Dabei beschränkt sich die Arbeit auf das tragische Genre, insofern die im Mittelpunkt stehenden Frauen einen quälenden Konflikt, basierend auf den gesellschaftlich-sozialen Einschränkungen, auszutragen haben, der zu einem unglücklichen Ausgang führt.

Nach einer grundlegenden Zusammenfassung zu den charakterisierenden und identitätsgebenden literarischen Figurennamen erfolgt eine Untersuchung von Lessings Miß Sara Sampson41 (1755). Das Drama ist insofern für die Forschungsarbeit interessant, als sich in dem ersten bürgerlichen Trauerspiel Deutschlands42 schon eine Namensvariation bei der Titelheldin feststellen lässt; allerdings wird die Protagonistin lediglich an zwei Stellen von ihrem engvertrauten Erzieher mit der Verkleinerungsform benannt, ansonsten heißt sie in der Figurenrede konsequent Sara, womit Lessings Trauerspiel einen maßgeblichen Grundstein für das tragische Genre legt, für die Forschungsarbeit hingegen nicht ausschlaggebend ist, um den Wechsel von dem Namensdiminutiv zum unveränderten Namen umfassend zu ergründen, zumal in Miß Sara Sampson keine Benennungsdifferenz im Nebentext vorliegt. Anders als in Johann Wolfgang Goethes Dramen Faust. Der Tragödie erster Teil (1808) und Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen43 (1788), in denen die Protagonistinnen im Nebentext einerseits mit unveränderten, andererseits mit diminuierten Namen aufgeführt werden; daher stehen die beiden Werke im Blick auf die wechselnden Namensgebungen von Margarete/Gretchen und Klare/Klärchen im Fokus. In einem ersten Schritt wird jeweils ergründet, welche kontextuellen Namensbezüge sich für die Dramen finden lassen und hinterfragt, welche Übersetzungen sich hinter den Namen verbergen, damit erarbeitet werden kann, inwiefern die Namensbedeutung mit ihren Eigenschaften, Haltungen sowie Handlungen übereinstimmt.

Daraufhin rückt die Frage in den Mittelpunkt, an welchem Punkt der Handlung, ferner, wo die Protagonistinnen mit welchem Namen auftreten respektive angeredet werden, um anschließend zu untersuchen, wie sich die Namensänderung auf den dramatischen Fortgang und das Figurenkonzept auswirkt. Um diese Fragen zu beantworten, konzentriert sich die Analyse erstens auf das Verhältnis der weiblichen Figuren zu dem jeweiligen Geliebten und ihren engsten Bezugspersonen, zweitens auf die Entwicklung der Liebesbeziehung, drittens auf die Fremdcharaktersierungen und viertens auf mögliche Veränderungen der Denk-/ Verhaltensmuster.

Margarete erscheint in der Faust-Tragödie als weibliches Pendant zum Protagonisten, der sich in seinem Menschsein begrenzt fühlt, sich stattdessen Göttliches aneignen möchte.44 Sie hingegen ist sittsam, christlich-religiös und gehört dem Kleinbürgertum an. Der ihr zugeordnete Handlungsstrang lässt sich mit wenigen Sätzen skizzieren: Margarete trifft auf den Gelehrten Faust, der sie nach der ersten flüchtigen Begegnung unmittelbar begehrt und sie letztlich mit Hilfe von Mephistopheles verführt. Nach der Liebesvereinigung bringt Margarete ein Kind zur Welt, das sie sogleich tötet, wofür sie mit der Todesstrafe einstehen muss. In der abschließenden Kerker-Szene nimmt sie sämtliche Schuld auf sich und eine Stimme von oben verkündet ihre Rettung.45 Auffällig ist im Laufe des Dramas der Namenswechsel im Nebentext von Margarete zu Gretchen46, jedoch lässt sich bei der Auseinandersetzung zur Namenswahl der Protagonistin in der Faust-Sekundärliteratur lediglich vereinzelt Überlegungen zu ihrer Namensübersetzung sowie deren Namensvariationen finden, so dass zu der Benennungsdifferenz keine einschlägigen Ergebnisse vorliegen.

Hinsichtlich der Namensbedeutung sind wenige Ansätze festzuhalten, die auf unterschiedlichen Interpretationen basieren, sowohl historische47 als auch autobiographische48 Anhaltspunkte einbeziehen oder sich auf ihre lateinische Namensübersetzung49 stützen. Warum und nach welchem Muster sich ihr Name ändert, betrachtet in der Forschung allein Bernhard Greiner näher. Auf seine Theorie bezieht sich das entsprechende Kapitel im Hauptteil, an dieser Stelle sei lediglich sein prinzipieller Ansatz dargelegt, dass der Namenswechsel erfolgt, um hervorzuheben, dass Margarete nicht eine Figur darstelle und die Namenswahl in Abhängigkeit zu der glücklichen bzw. unglücklichen Liebesbeziehung stehe.50 Greiners zweites Argument gründet darauf, dass bei Margarete ein konkreter Namenswechsel vor und nach der Liebesvereinigung mit Faust festzustellen sei.51 Der Begriff Liebesbeziehung wird in der Arbeit als sexuelle Vereinigung zwischen Faust und Margarete verstanden, die seitens Margaretes aus selbstloser Hingabe erfolgt. Da sich das Forschungsvorhaben hauptsächlich auf die Perspektive der Protagonistin bezieht, die aus Liebe für Faust alles tut, lässt sich insofern von einer gefühlsinnigen Beziehung sprechen, die jedoch – entgegen Greiners These – einseitig und unglücklich ist. So ist insgesamt im Wesentlichen zu beobachten, dass sich die Faust-Forschung darauf fokussiert, verschiedene Ansätze zu ermitteln, um die Namenswahl der Protagonistin zu begründen; jedoch liegt eine allumfängliche Untersuchung der Verbindung zwischen Margaretes Namensbedeutung, ihrem Charakter sowie Handlungsmotiven lediglich fragmentarisch vor. Darüber hinaus fehlt bei diesen vereinzelten Betrachtungen eine umfassende Erarbeitung ihres Wesens, Denkens und Verhaltens, das – wie ergründet werden soll – durch ihre Namensbedeutung bedingt ist, im Zusammenhang zu unterschiedlichen Räumen steht, ferner von Regiebemerkungen vermittelt wird. Des Weiteren scheint bei der Namensauswertung der Schluss von Faust. Der Tragödie zweiter Teil52 (1831) in Vergessenheit zu geraten. Wenngleich der Tragödienteil vielmehr von ökonomischen, geschichtlichen wie ästhetischen Konzepten geprägt ist, demnach nicht mehr das Einzelschicksal des kleinbürgerlichen Mädchens thematisiert53, erscheint die Protagonistin in der abschließenden Bergschluchten-Szene als „Una Poenitentium sonst Gretchen genannt“ (Faust II, vor V. 12069), womit sie noch einmal namentlich auftritt. Letztlich stellt sie sich als Erhabene heraus, die Fausts Unsterbliches in die Ewigkeit führen kann, so dass ihr insbesondere an dieser Stelle eine entscheidende Bedeutung zukommt, die bei der Analyse ihrer Namenswahl nicht zu kurz kommen darf.

Auch in Goethes Trauerspiel Egmont, das 1788 in fünf Aufzügen veröffentlicht wird, steht eine Liebesbeziehung im Mittelpunkt; jedoch greift das Drama hauptsächlich auf einen historischen Stoff zurück, der sich auf die spanische Besetzung der Niederlande bezieht und den Grafen Egmont von Gaure zum Titelhelden macht.54 Den problematischen politischen Machtverhältnissen fügt Goethe eine Liebesgeschichte hinzu: Zwischen Klärchen, einem kleinbürgerlichen Mädchen, und dem adligen Egmont besteht eine einvernehmliche, allerdings heimliche Liebesbeziehung, die demnach ein weiteres Konfliktpotential darstellt.55

In Egmont wird die bürgerliche Geliebte beinah durchgängig Klärchen genannt. Bei ihrer Anrede fällt im gesamten Trauerspiel lediglich eine Abweichung auf56, die innerhalb der Forschungsliteratur weder erwähnt noch ansatzweise entschlüsselt ist, was einen neuen Untersuchungsschwerpunkt eröffnet. Zum Teil ist lediglich vermerkt worden, dass eine erkennbare Parallele zwischen dem Wesen der Protagonistin und der Bedeutung ihres sprechenden Namens besteht.57 Bisweilen lassen sich außerdem Vergleiche von Margarete und Klärchen finden, die ihre Denk-/ Verhaltensmuster ausdifferenzieren; diesen Ausführungen zufolge übersteige die Geliebte in Egmont Gretchen aufgrund ihrer Stärke.58 Ob diese These tatsächlich stichhaltig ist, bleibt zu prüfen, überdies fällt beim Dramenvergleich eine enge Verbindung zwischen Klärchen und Margarete auf, insofern beide als hingebungsvolle Geliebte auftreten, die am Dramenende erlösend für ihren Geliebten erscheinen. Zudem kommt den Regiebemerkungen bei beiden Schlussakten eine bezeichnende Rolle zu, die wesentlich zum Verständnis der jeweiligen Szene beitragen. Demnach dienen Nebentexte nicht nur der Unterstreichung von Wesensmerkmalen, Raumdimensionen und atmosphärischer Darstellung, sondern sind für die Dichtung genauso wie für das Verständnis der Dramenhandlung unerlässlich. Dies gilt gleichermaßen für Kleists Ritterschauspiel Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe59 (1810), das der Protagonistin schon im Dramentitel das Diminutiv zuordnet und ihr, so wie Goethe seiner Klärchen, einen sprechenden Namen gibt. Die Titelheldin zeichnet sich in Übereinstimmung zu ihrem charakterisierenden Namen geradezu durch ihre natürliche Reinheit aus, allerdings handelt dieses Drama von einer völlig anderen Art der Liebe: Sowohl Käthchen, eine Bürgerstochter aus Heilbronn, als auch dem adligen Grafen Wetter vom Strahl begegnet während der Silvesternacht im Traum ein Cherub, der beiden verkündet, dass sie sich vermählen werden. Dieser Vision vertrauend folgt Käthchen dem Grafen unaufhörlich, gibt sich dabei aber nicht aufopfernd dem geliebten Mann hin, sondern dem im Traum erscheinenden Bild60, wohingegen der Graf in Käthchen nicht seine verheißene Braut erkennt, da ihm eine Kaisertochter versprochen wird.

In Kleists Drama lässt sich insgesamt eine Differenzierung zwischen der Namensgebung für das bürgerliche Mädchen, dessen Volkstümlichkeit das Gutturalsuffix ausweist61, sowie der am Ende emporgehobenen Kaisertochter Katharina von Schwaben erkennen. Herausgearbeitet wird daher, inwiefern sich das Figurenkonzept parallel zum Namenswechsel ändert, der ausschließlich in der Figurenrede erfolgt und in der Forschung keine nähere Betrachtung findet. So richtet sich der Blick verstärkt auf die Namensnennung der Figuren, die Käthchen einerseits diminuierend, andererseits mit Katharine anreden.62 Die Analyse bezieht sich dabei entsprechend auf den charakterisierenden Namen, der Käthchens Eigenschaften hervorhebt, die der Künstlichkeit ihrer Antagonistin, Kunigunde, entgegengestellt sind. Die Polarität zeigt sich sowohl in den Wesenszügen der beiden Frauen wie auch in den Schauplätzen, was die Arbeit ausführen wird, da sie sich den kleinsten Nebentexten, damit ebenfalls den Regieangaben von Schauplätzen, widmet.

Die Reinheit gilt auch als Merkmal der jungen Protagonistinnen von Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin63 (1775) und von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Komödie Der Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung64 (1774), die genauso wie Käthchen im Nebentext durchgängig die Verkleinerungsform erhalten und größtenteils mit der diminuierten Namensgebung angesprochen werden. Der Hauptteil fokussiert diese beiden Dramen, um festzustellen, wie sich die Namensänderung bei diesen Mädchen verhält, außerdem bildet Wagners Trauerspiel einerseits thematisch einen wesentlichen Bezugsrahmen zu Faust, weil Die Kindermörderin ebenso die gesellschaftlichen Missstände des Bürgertums Ende des 18. Jahrhunderts aufgreift, andererseits das Schicksal einer Kleinbürgerin zeigt, die von einem höhergestellten Mann verführt wird und letztlich Kindsmord begeht. In Abgrenzung zu Goethes Margarete heißt Wagners Protagonistin im Nebentext durchweg diminuiert Evchen und erhält lediglich wenige Male die Anrede Eve.

Diese Gewichtung der Namensverteilung lässt sich ebenfalls in Lenz’ Der Hofmeister beobachten, so dass dieses Drama in Bezug auf seine Benennungsdifferenz in der Figurenrede von Gustchen/Augustchen zu Gustel einen weiteren Arbeitsgegenstand bildet, denn obwohl es sich in Bezug auf das Genre wesentlich von den anderen Dramen unterscheidet, da es mit Komödie tituliert ist, weist es sehr wohl tragische Momente auf, wodurch es im weitesten Sinne zu den tragischen Dramen der Goethezeit gezählt werden kann. Im Gegensatz zu den vorherigen Frauenfiguren gehört Gustchen nicht dem (Klein-)Bürgertum an, sondern dem Adel; nichtsdestoweniger wird das Sujet der sexuellen Begierde und außerehelichen Vereinigung aufgegriffen, so dass sich die Komödie mit den Inhalten der bereits aufgeführten Dramen vergleichen lässt. Sowohl in Wagners als auch in Lenz’ Drama bleiben in der Forschung die Namenswechsel in der Figurenrede unergründet, darüber hinaus werden die Namensübersetzungen der Protagonistinnen Evchen sowie Gustchen weder in Beziehung zu der jeweiligen Namensträgerin gebracht noch hinsichtlich der Dramenhandlung herausgearbeitet, was sich daher die folgende Untersuchung zum Ziel setzt. Insgesamt bleibt die Arbeitsfrage nach dem Zusammenhang zwischen der Namensbedeutung, der diminuierten Benennungsdifferenz, den sozialen Räumen und der Figurenkonzeption im Blick auf die ausgewählten Dramen in der Forschung unbeantwortet und eröffnet so ein neues Forschungsthema.

Im Anschluss an den Hauptteil gibt die Arbeit, ehe die Schlussbetrachtung folgt, einen Ausblick auf die bürgerlichen Lustspiele, um zu prüfen, inwieweit die bürgerlichen Töchter schon dort mit Namensdiminutiv benannt werden, ob Namenswechsel vorliegen und ob die bürgerlichen Trauerspiele möglicherweise in Anlehnung an das komische Pendant die Namen ihrer Bürgersmädchen diminuieren. Denn die bürgerlichen Lustspiele weisen eine frühere Verbreitung im 18. Jahrhundert auf, grenzen sich jedoch maßgeblich durch den glücklichen Ausgang vom tragischen Genre ab.

1.1 Methodisches Vorgehen

Die Ausarbeitung orientiert sich methodisch an den Konzepten der Komparatistik, literarischen Onomastik, den Gender Studies und Cultural Studies sowie an den Überlegungen, die im Kontext des spatial turns entstehen. Zuvörderst richtet sich der Blick auf die Komparatistik, die etymologisch auf das lateinische Verb comparare (= vergleichen) zurückzuführen ist, womit sie sich vordergründig dem Vergleich als Arbeitsweise und zum Ergebniserwerb bedient.65 Dieses Fach zählt zu der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, da es sich bei seinem Vorhaben auf mindestens zwei Vergleichselemente bezieht: Zum einen auf das comparandum, das zu Vergleichende, zum anderen auf das comparatum, die neben- oder gegeneinanderzustellenden Vergleichsglieder, die dem tertium comparationis, der gemeinsamen Bezugsgröße, zugrunde liegen.66 Hieraus ergibt sich eine Similaritätsbeziehung zwischen den Vergleichsgliedern, die bei sämtlichen Vergleichen bestehen sollte.67 Hinsichtlich der Forschungsarbeit wird dieses Verfahren auf die Verwendung von Namensdiminutiven angewandt, um deren Unterschiedlichkeit sowie Gleichheit ausfindig zu machen, da, wie Carsten Zelle in seinem Aufsatz über die Grundsätze der Komparatistik festhält,

[d]er Vergleich […] zu Einsichten [führt] (a) auf der Ebene allgemeiner Gesetzmäßigkeiten der Literatur, (b) auf der Ebene der je besonderen Eigenart einer bestimmten Epoche, eines Stils oder Werks und (c) auf der Metaebene methodologischer Aussagen, z.B. im Blick auf die Austauschbarkeit der Beobachtungsperspektiven.68

Dies bedeutet schließlich für die Komparatistik, einen Text explizit unter formalen, gattungsspezifischen und rhetorischen Aspekten zu untersuchen, mittels derer ihre grundlegende Bestimmung – die des Vergleichens – ausgeführt werden kann. Deshalb gehört die Analyse des Kontextes zu ihren Kernelementen und erfolgt ebenso in der vorliegenden Arbeit, die sich kontinuierlich auf den literarhistorischen Bezugsrahmen stützt, da sich somit einerseits die literarisch-typologischen Parallelen herausstellen lassen, die auf eine Gesetzmäßigkeit binnen der literarischen Entwicklung verweisen wie beispielsweise auf die Stilpräferenzen bestimmter Epochen oder Strömungen69, was sich im Folgenden vordergründig auf den Sturm und Drang bezieht. Andererseits lenkt die Komparatistik ihren Blick auf die psychologisch-typologischen Analogien, die zwischen der mentalen Neigung und historischer Begebenheit entstehen.70 Das Konzept der Komparatistik entspricht demnach einem „dialektischen Vorgang“71, zudem gründet es auf insgesamt fünf Vergleichstypen, die Zelle in Anlehnung an Dionýz Durišins in den monokausalen, kausalen, kontextanalogischen, strukturalistischen sowie literarkritischen Vergleich unterteilt.72 Für die vorliegende Untersuchung ist insbesondere die zweite Klassifikation zu berücksichtigen, da mithilfe des kausalen Vergleichstyps nicht bloß die Vergleichsglieder in Beziehung gesetzt werden, sondern eine außerliterarische Dimension, wie der historische Prozess, hinzugezogen wird73, der die bürgerlichen Trauerspiele prägt.

Die Komparatistik dient zusammenfassend einer konkreten Gegenüberstellung, die „idealiter aus drei Teilen [besteht]: Der Darstellung von A, der Darstellung von B, der zusammenfassenden Vergleichung von A und B“74, welche die Figurenanalyse der verschiedenen Protagonistinnen in den ausgewählten Dramen nutzt. Bei dieser Prinzipienlehre soll letztlich eine Erkenntnis von Gemeinsamkeiten, Kausalitätsgesetzen und Allgemeingültigkeit erzielt werden, womit sich eine Regelmäßigkeit festlegen lässt75, die ebenfalls im Resümee der Arbeit hinsichtlich der Benennungsdifferenz sowie des Gebrauchs der Namensdiminutive für die Protagonistinnen dargelegt werden soll.

Um zum einen die Bedeutung der Eigennamen der Protagonistinnen, zum anderen die allgemeingültige Funktion der diminuierten Namensform festzustellen, bildet die literarische Onomastik einen weiteren grundlegenden Bestandteil, da dieses Fach als Namenforschung gilt und die Sprachwissenschaft mit der Literaturwissenschaft verbindet. Ihrer Auffassung zufolge beginnt mit dem Benennen im Namensgebungsakt die Existenz des Menschen76, schließlich wird ihm so eine Identität gegeben, dementsprechend setzt sich die Onomastik traditionell mit Personennamen (Anthroponomastik), aber auch mit Namen von Städten (Toponomastik) auseinander, bezieht sich überdies auf deren geschichtliche Entwicklung sowie Verbreitung.77 Das Forschungsfeld der literarischen Namenkunde umfasst daher insbesondere die Analyse einzelner Werke zu auffälligen Namen, die Untersuchung der Eigenart von Eigennamen, ferner die Zusammenführung beider Erkenntnisse.78 Diese Arbeitsschritte werden mithin im Fortgang einbezogen neben den Fragen von Dieter Lamping, unter welchen Bedingungen, zudem, in welchen Zusammenhängen der jeweilige Name in der Erzählung auftritt, denn obgleich der Name lediglich ein Detail im literarischen Werk darstellt, ist er bedeutsam als dichterischer individueller Ausdruck, der einen wichtigen Moment der Komposition bildet.79 Die eingangs aufgestellte These, Figuren werden mithilfe von Namen sowohl individualisiert als auch identifiziert, lässt sich folglich mit der literarischen Onomastik begründen. Wie letztlich die Identität einer Figur in Verbindung zu ihrem Eigennamen steht und was das Diminutiv in den jeweiligen Zusammenhängen aussagt, gilt es im Nachgang zu erarbeiten, vorher wird jedoch im anschließenden Kapitel auf die Forschungsergebnisse von Dieter Lamping zurückgegriffen, der in seiner Monographie Der Name in der Erzählung (1983) verschiedene Funktionstypen des Namens festlegt, überdies auf Rolf Selbmanns Untersuchung Nomen est Omen (2013), die sich neben den Funktionen von Eigennamen ebenfalls deren Sinnbedeutungen widmet. Selbmann verweist in seiner Arbeit wiederholt auf Stefan Sondereggers Überlegungen über Die Bedeutsamkeit der Namen (1987), die weiterhin vertieft werden, da die Grundsätze dieser Forscher zur Namensgebung und deren Bedeutung für das vorliegende Forschungsvorhaben elementar sind, genauso wie Hendrik Birus’ Auseinandersetzung Poetische Namensgebung (1978) über die Klassifikation von literarischen Namen, welche eine weitreichende Grundlage für die darauffolgende Analyse darstellt.

Die Ausführungen zu den Figurenkonstellationen und gleichermaßen zu den weiblichen Figurenkonzepten orientiert sich ebenfalls an den Gender Studies, um die Bedeutungen der Geschlechter in den kulturellen sowie gesellschaftlichen Bereich des 18. Jahrhunderts einerseits zu ergründen, andererseits in Beziehung zu dem jeweiligen Drama zu setzen.

Die Gender Studies, als Erweiterung zu den feministischen Theorien, folgen dem Grundsatz, dass jegliche gesellschaftlich-kulturellen Akte wie Literatur, Film oder Riten etwas über das vorherrschende Geschlechterverhältnis aussagen80, daher enthält die Forschungsrichtung vordergründig Gesellschaftskritik, wodurch sie politische Relevanz erhält, um ihr Ziel zu verfolgen, eine Gesellschaftsveränderung zu bewirken.81 Insgesamt richtet sich der Blick auf die Ungleichheit/ -stellung von Frauen und Männern, wie sie um 1800 strukturell überwiegt, die sich außerdem auf der vordefinierten, naturgegebenen Kausalbeziehung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht gründet, wobei die gesellschaftlichen Strukturen ein geschlechterspezifisches Machtverhältnis institutionalisieren, was sich letztlich auf die Hierarchie der Geschlechterverhältnisse auswirkt.82 Auf diesen Aspekt stützt sich die Literaturwissenschaft, um die im literarischen Text dargelegten Beziehungen von Mann und Frau sowie deren sozialen Stände, die sich durch kontextuelle Einflüsse etablieren, zu ermitteln.83 Im 18. Jahrhundert wird den Individuen gesellschaftliche wie auch politische Macht aufgrund ihres Standes zugeschrieben, so gelten Frauen wegen ihrer geschlechtlichen Ausstattung für öffentliche, politische und wirtschaftliche Aufgaben als ungeeignet, weshalb ihnen gleichsam eine Passivität beigemessen wird.84 Diese Auffassung schließt an dem bereits erwähnten Frauenbild an, das die Weiblichkeit mit Reinheit, hingebungsvoller Liebe, sogleich mit familiärer Häuslichkeit ausstaffiert, so dass sie mit den Überlegungen der Gender Studies zusammenhängt, die ihrerseits für die Untersuchungen der tragischen Dramen genutzt werden, weil somit das sozialhistorische Material mit einbezogen werden kann, welches weitere Rückschlüsse für die Figurenkonstellation zulässt.85 Denn gerade die durch den Sozialkontext geprägten geschlechterspezifischen Bestimmungen, die auferlegten Rollen sowie die bürgerliche Tugend führen die jungen Mädchen der Dramen in ihr Verderben. Da die Arbeit allerdings grundlegend literaturwissenschaftlich geprägt ist, wird kein Rückbezug auf die Gender Studies genommen, um den Geschlechterdiskurs oder seine Entwicklung aus soziologischer Sicht auszubreiten, vielmehr dienen die Gender Studies dazu, die Geschlechterrollen im 18. Jahrhundert zu beleuchten, damit anhand derer die Einschränkungen auf den häuslich-familiären Bereich der Protagonistinnen nachvollzogen und die Haltungen gegenüber bürgerlichen Mädchen, die nicht als eigenständige Frauen, sondern bloß als Hausfrauen wahrgenommen werden, herausgearbeitet werden können.

Des Weiteren lassen sich die Gender Studies mit der Kulturwissenschaft verbinden, die mit ihrem Ansatz der Cultural Studies einen weiteren methodischen Ausgangspunkt für das Forschungsvorhaben bilden. Das kulturwissenschaftliche Forschungsgebiet beschäftigt sich grundsätzlich mit dem Zusammenleben von Menschen, wobei die lebenspraktischen, historischen Umstände berücksichtigt werden, die sich mit anderen Bereichen wie der Sprache, Religion, Musik oder Literatur verbinden lassen und zielt darauf, den jeweiligen Untersuchungsgegenstand einer geschichtlichen, rezeptiven, interpretativen bzw. kritischen Reflexion zu unterziehen.86 So bezeichnet der Begriff Kultur in diesem Fach sowohl gesellschaftliche Praktiken als auch literarische Produkte, womit die Kultur auch imaginäre Identitätskonzepte eröffnet.87

Die Kulturwissenschaft bietet der Literaturwissenschaft zum einen die textorientierte Methode, die auf der Inhalts-/ Stilebene erfolgt, zum anderen die kontextorientierte Analyse, die neben Rezeptionsästhetik zeitgeschichtliche Diskurse einbezieht88, folglich stellt sie eine nützliche methodische Vorgehensweise für die Analyse der ausgewählten Dramen dar, schließlich gilt der Text laut kulturwissenschaftlicher Auffassung als „Medium der Verständigung […], um die heterogenen, hochspezialisierten, gegeneinander abgeschotteten Ergebnisse der Wissenschaften zu ‚dialogisieren‘, [und] strukturelle Gemeinsamkeiten […] transparent zu machen.“89 Dementsprechend muss der literarische Text einerseits fortwährend in Beziehung zu der gelebten Kultur, andererseits zu ihrem Kontext gesetzt werden, um Gesellschaftsnormen und das daraus resultierende Verhalten der Figuren begreifen zu können. Das in der Kulturwissenschaft etablierte Konzept der Cultural Studies versteht die Kultur als eigenständigen Bereich des Sozialen, wobei sie als Lebensweise im gesellschaftlichen Prozess verankert ist.90 Die Cultural Studies setzen sich dementsprechend mit den spezifischen Lebensformen und Praktiken auseinander, um die kommunikativen Prozesse mit den kulturellen differenziert zu analysieren91, so dass sie bei ihrer Arbeit verschiedene Perspektiven einnehmen. In diesem Zusammenhang bildet die Konstruktion der Kontexte menschlichen Lebens unterschiedliche Machtmilieus, die sich in den kulturellen Praktiken widerspiegeln, zum anderen über einen begrenzten sozialen Raum verteilt sind, darüber hinaus Beziehungskonstellationen präsentieren.92 Ebendeswegen greift die vorliegende Untersuchung bei der Analyse auf die Cultural Studies zurück, um die sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen einzubeziehen, denn so lässt sich erstens die Sicht auf die gesellschaftskritische Perspektive der Stürmer und Dränger in den zu analysierenden Dramen erörtern, zweitens die Frage, wie Literatur neben den Geschlechtern soziale Klassen anlegt. Schließlich werden hierdurch die Figuren geprägt, außerdem ist deren Verhalten durch ihre jeweiligen Stände, deren Moralvorstellungen sowie den Standesdünkel beeinflusst.

Details

Seiten
364
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631907795
ISBN (ePUB)
9783631907801
ISBN (Hardcover)
9783631907788
DOI
10.3726/b21308
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Dezember)
Schlagworte
Bürgerliches Trauerspiel Literarische Onomastik Namensforschung Namensgebung Sprechender Name Regiebemerkung 18. Jahrhundert Figurennamen
Erschienen
Peter Lang – Berlin · Bruxelles · Chennai · Lausanne · New York · Oxford, 2024. 364 S., 3 S/W-Abb., 9 Tab.

Biographische Angaben

Ricarda Sonnenschein (Autor:in)

Ricarda Sonnenschein studierte katholische Theologie und Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie an der Fakultät für Philologie auch promovierte. Sie arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft im Bereich Öffentlichkeitsarbeit für den Lehrstuhl Arbeit, Personal und Führung sowie für das Germanistische Institut der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und auf der Goethezeit.

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Titel: Die «kleinsten Nebentexte»: Namensdiminutive, Benennungsdifferenzen und charakterisierende Namen weiblicher Figuren in tragischen Dramen der Goethezeit