Lade Inhalt...

Ethik. Reinterpretation

von Jacek Filek (Autor:in)
©2024 Monographie 220 Seiten
Reihe: Dia-Logos, Band 32

Zusammenfassung

Der Autor untersucht verschiedene Antworten auf die grundlegende existentiell-ethische Frage, wie man über sein eigenes Leben bestimmen soll. Dabei werden drei grundlegende Denkparadigmen betrachtet. Im aristotelischen Paradigma steht die Wahrheit als grundlegendes Kriterium im Vordergrund, und es geht darum, im Einklang mit einem angenommenen Maßstab zu leben. Im cartesianischen Paradigma hingegen, das eher subjektbezogen ist, ist Freiheit das zentrale Kriterium. Hier geht es darum, das Leben als vollkommen eigenes Unternehmen zu betrachten. Im Subjekt-Subjekt-Paradigma, das dialogorientiert ist, wird Verantwortung als grundlegendes Kriterium angesehen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • EINLEITENDER TEIL
  • I. Einleitung
  • II Die Fundamentale ethische Frage
  • 1. Der Vorrang der Frage
  • 2. Die Kontingenz und fundamentale Voraussetzung der ethischen Frage
  • 3. Die Inhaltsanalyse der Frage
  • 4. Der Status der Frage und Antwort
  • HAUPTTEIL
  • Einleitung
  • ERSTER ABSCHNITT 
DAS LEBEN IM HORIZONT DER WAHRHEIT
  • I Sokrates – Erkenne und tue was du willst
  • 1. Die Entdeckung einer neuen Wirklichkeit
  • 2. Der eigentliche Ausgangspunkt und das Stellen der ethischen Frage
  • 3. Das apriorische Verlangen des Guten und der verhängnisvolle Fehler der Erkenntnis
  • 4. Paradox des Ethiklehrers und des Lehrens der Ethik
  • II Platon – (Des Menschen ist die Schuld, Gott ist schuldlos)
  • 1. Hierarchie des Seienden
  • 2. Der Mensch und seine Wahl
  • 3. „Du musst dein Leben ändern“
  • 4. Ethik als Versuchung
  • III Aristoteles – Das Leben in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Tugenden
  • 1. Jenseits einer Theorie der Tugenden
  • 2. Einleitende methodologische Bemerkungen
  • 3. Ethik und Metaphysik
  • A. Das Gute
  • B. Akt und Potenz
  • C. Telos, ergon – eigentümliche Aufgabe
  • 4. Glückseligkeit
  • 5. Entschluss – προαίρεσις
  • 6. Leben „in Übereinstimmung mit…“ als das sich Einfügen in die Wahrheitsstruktur
  • IV Ein neuer Ethos: Liebe und tue was du willst
  • 1. Eine Ordnung der Liebe anstatt der Ordnung der Vernunft
  • 2. Ein neuer Lehrer, ein neuer Ethos
  • 3. Der neue Mensch und sein schwacher freier Wille
  • 4. Neue alte Wahrheit
  • 5. Das Böse wegen der Freiheit, die Freiheit wegen des Bösen
  • 6. Freiheit statt Liebe
  • ZWEITER ABSCHNITT 
DAS LEBEN IM HORIZONT DER FREIHEIT
  • I Die Freiheit wächst
  • 1. Freiheit eliminiert jegliches Maß
  • 2. Der Wille des Menschen dem göttlichen gleich
  • 3. „Der unendliche Abstand der Geister von der Liebe“
  • II Kants Ethik – Zwischen der reinen Vernunft und dem Impuls des Willens
  • 1. Idee einer apriorischen Ethik
  • 2. Idee des moralischen Gesetzes
  • 3. Wann ist eine Tat moralisch?
  • 4. Moralisches Gesetz
  • 5. Kann das moralische Gesetz zum Bestimmungsgrund meines Willens werden?
  • 6. Noch einmal: Moralisches Gesetz
  • 7. Freiheit
  • III Werde du selbst und tue was du willst
  • 1. Einleitung
  • 2. Søren Kierkegaard – der „Einzelne“ als Freiheit und seine Verzweiflung. Eine Ethik der Liebe
  • A. Der Einzelne
  • B. Wahl
  • C. Wahrheit
  • D. Verzweiflung
  • E. Verantwortung
  • F. Liebe
  • 3. Friedrich Nietzsche – Freiheit, Verantwortung, Liebe
  • A. Von „schuldig, frei, verantwortlich“ über „unschuldig, unfrei, unverantwortlich“ zu „frei und verantwortlich“ im neuen Verständnis
  • B. „Gottes Tod“, „Übermensch“ und eine neue Dimension der Verantwortung
  • C. Neue Liebe und neue Ewigkeit
  • 4. Wohin führt der Freiheitsweg?
  • DRITTER ABSCHNITT 
DAS LEBEN IM HORIZONT DER VERANTWORTUNG
  • I Einleitung
  • II Phänomenologische Ethik als Antwort auf Werte
  • III Existentielle Ethik als Antwort auf den Zuruf des Seins
  • 1. Einleitung: Ehrfurcht vor dem Leben
  • 2. Ontologische Differenz
  • 3. Das Heideggersche Ideal der Existenz
  • 4. Das Antworten auf den Zuruf des Seins
  • 5. Schlussbemerkung: Kritik der Wertethik
  • IV Dialogethik als Antworten auf den Zuruf des Anderen
  • 1. „Antworten auf“ als „Verantworten für“ am Beispiel der Philosophie des Dialogs Martin Bubers
  • 2. In Richtung von Emmanuel Lévinas: Ethik als Erste Philosophie
  • V Finale: Der Begriff der Verantwortung als neuer fundamentaler Begriff der Ethik und der Philosophie
  • Literaturverzeichnis
  • Namenregister
  • Reihenübersicht

I. Einleitung

Das gegenwärtige Paradigma des ethischen Betriebes ist falsch.

Der Mensch, seiner Freiheit bewusst, wird vor die folgende Frage gestellt: Wie soll ich über mein Leben verfügen? Die Besinnung, die dieser Frage entspringt, soweit es ihr nur nicht an Gewissenhaftigkeit fehlt, heißt Ethik. Ethik ist Philosophie. Sie ist der fundamentale Bereich der Philosophie und manchen zufolge, zum Beispiel Emmanuel Lévinas, ist Ethik sogar die Erste Philosophie1.

Die Ausgliederung der Ethik als eigenständiges Gebiet der philosophischen Forschung ist ein etwas ambivalenter Prozess. Für solche Philosophen wie Sokrates, Platon, Spinoza, Kant, Kierkegaard, Husserl, Heidegger, Lévinas war Philosophie immer schon „ethisch“, sie war geradezu Ethik, und ein echter Philosoph war immer auch ein Ethiker. Deshalb haben die Griechen auf der einen Seite die Ethik zwar von der Physik und Logik unterschieden, auf der anderen Seite jedoch hat schon Heraklit verstanden, dass die Erkenntnis und das Verständnis der Welt sich nicht von der Selbsterkenntnis und des Selbstverständnisses trennen lässt. Die antike delphische Weisheit: „Erkenne dich selbst“ verlangte nicht das Erlangen „objektiven Wissens“, sondern vielmehr eine Erkenntnis ethischen Charakters. Die Einheit der Ethik und der Philosophie hat die Einheit der praktischen und reinen Vernunft zum Korrelat (vgl. Kant, Husserl und andere).

Die gegenwärtige Institutionalisierung der Philosophie und der sie begleitende allgemeine Trend zur Spezialisierung, in deren Rahmen wir die sogenannte akademische Ethik (sowie noch weitere ethische Teilbereiche) vorfinden, führten zur Marginalisierung der Letzteren. Derweilen lässt sich die radikal ethische Frage gar nicht stellen wenn sie von metaphysischen und ontologischen Problemen abstrahiert wird, wie zum Beispiel der Freiheitsproblematik, dem Problem der Endlichkeit und Unendlichkeit, dem Problem der Zeit oder der Seinsweisen. Dies trifft ebenso auf die Wahrheitsproblematik zu. All diese Probleme weisen eine ethische Dimension auf und der Ethiker kann nicht einfach von ihnen absehen.

Der Ausgliederung der Ethik und ihre Verweisung auf das Randgebiet der Philosophie entsprechen auf der Seite des Lebens die Ausgliederung der ethischen Dimension und die Handhabung derselben als etwas Beiläufiges und Zufälliges. Dies wird weiter befördert, indem die Öffentlichkeit mit schockierenden „ethischen“ Problemen erregt wird, obwohl die überwiegende Mehrheit sich niemals in ihrem Leben unmittelbar mit solchen Problemen konfrontiert sieht. Wenn jedoch Ethik ein grundlegender Bereich der Philosophie sein soll, dann lässt sich die Frage nach dem stellen, was sie als solch eigenständigen Bereich konstituiert. Was also macht überhaupt ihre Besonderheit aus? Ethik ist vor allem praktische Philosophie. Was heißt das? Gewisser Lapidarität nicht entbehrend, erklärt Aristoteles dies in seinem methodologischen Credo. Er schreibt: „denn wir betrachten die Tugend nicht, um zu wissen, was sie ist, sondern um tugendhaft zu werden“2. Ziel der ethischen Besinnung ist also weder die alleinige Erkenntnis, noch das Etablieren einer ethischen Theorie. Das Ziel selbst ist nicht theoretisch sondern praktisch. Ziel ist es ethisch zu werden. Darüber hinaus: das Subjekt des ethischen Denkens, das bedenkende Subjekt, ist hier identisch mit dem Werdenden, dem Subjekt, welches ethisch zu werden begehrt. Folglich ist der Gegenstand der Besinnung, der Gegenstand der Untersuchung, welches dem Werden dienen soll, jeweils „mein Leben“ oder „dein Leben“. Ethik ist also immer auch etwas äußerst persönliches, sie betrifft dein Leben, die Art und Weise wie du dich entscheidest zu leben. Und noch etwas: sie geht nur diejenigen etwas an, die den guten Willen besitzen um ethisch zu werden. Wer solch einen Willen nicht hegt, für den hat die ethische Besinnung gar keine Verpflichtungskraft. Es ist demjenigen überhaupt nicht möglich sich auf eine ethische Besinnung einzulassen. Dementsprechend kann die Ethik auch keinen Anspruch auf das Formulieren allgemein gültiger und verpflichtender Thesen erheben.

Die ethische Besinnung ist etwas in dem Maße spezifisches – dies zeigt sich schon in der Sprache, der sie sich bedient – dass manche gewillt sind ihr jegliche Sinnhaftigkeit abzusprechen. Die Spezifität der ethischen Besinnung ist jedoch schon vorentschieden in der Spezifität der Frage, die sie initiiert. Es ist genau diese Frage, welche die Ethik als Gebiet der philosophischen Untersuchung begründet. Die Form dieser Frage ist zwar historisch variabel – bedingt durch die herrschenden Begriffe der jeweiligen Epoche – ihr tieferer Sinn bleibt jedoch derselbe. Der ethisch fragende Mensch, sei es nun, dass er nach dem Guten, der Tugend, der Pflicht, dem moralischen Gesetz, den Werten usw., u. dgl. fragt, fragt immer aus den in Unruhe geratenen Tiefen seiner bewusst gewordenen Freiheit und dem Ernste der Entscheidungsmöglichkeit über sein Leben. Trotz der historischen Variabilität der Formen in denen gefragt und geantwortet wird, können wir von einer Einheit der Ethik sprechen. Diese Einheit ist nämlich in dem Telos der Ethik, in der Richtung, der sie begründenden Frage, entschieden. Entscheidend ist hierbei also nicht die „Absolutheit“ mancher Errungenschaften der Ethik – diese sind immer historisch relativiert – sondern der in ihr intendierte Telos, welcher sich im Horizont jeder Kultur zu erkennen gibt. Hinter den verschiedenen Weisen in denen die ethische Frage artikuliert wird versteckt sich immer der gleiche Sinn und die gleiche Unruhe: Wie soll ich über mein Leben entscheiden?

Die Frage: „Leben! Aber wie?“ ist jedoch eine unwissenschaftliche Frage, eine der Wissenschaft unwürdige Frage, sogar eine „verbotene“ Frage3. Der ihr angemessene Platz scheint eher der Text eines Liedes zu sein, als der einer wissenschaftlichen Untersuchung. Konsequenterweise entpuppt sich die Ethik als etwas Unwissenschaftliches; als solche wird sie von den Universitäten vertrieben und so den Moralisten und Ideologen überlassen. Auf der anderen Seite hat die Ethik doch ihren Platz an der Universität. Wie ist dies möglich? Im wissenschaftlichen Umfeld ist Ethik nur als Wissenschaft möglich. Dies hat dazu geführt, dass sich eine Reihe von Formen die Ethik als Wissenschaft zu betreiben etabliert hat. Ist eine wissenschaftlich betriebene Ethik überhaupt noch Ethik? Meiner Ansicht nach nicht. Die Ethik in dem Sinne, wie sie schon zu Anfängen der Philosophie bestimmt wurde ist ihrem Wesen nach „unwissenschaftlich“ und sollte auch keinerlei Aspirationen auf „Wissenschaftlichkeit“ haben. In der Ära des herrschenden Wissenschaftskultes muss dies selbstverständlich als Niederlage der Ethik erscheinen. Stellen wir deshalb zugleich fest: Ethik ist mehr als Wissenschaft – wenn die letztere im Rahmen des Szientismus des 20ten Jahrhunderts verstanden wird – und das Hineindrängen der Ethik in das Mieder der Wissenschaftlichkeit verläuft auf Kosten ihrer Abschaffung. Auf der anderen Seite jedoch sind die weit verbreiteten Betriebsformen der Ethik als Wissenschaft in jeder Hinsicht lobenswert. Ihre Fehler und die damit verbundenen Missverständnisse beruhen auf der Absicht des Vertreibens der Ethik selbst und dem Versuch ihren Platz einzunehmen.

Was ist Ethik wenn sie als Wissenschaft betrieben wird? Man kann in Versuchung geraten eine wissenschaftliche Schilderung der durch das eigene Leben bestätigten, deklarierten oder auch tatsächlichen moralischen Überzeugungen anzufertigen. Man kann, eine Soziologie der Moralität betreibend, interessante und vor allem verifizierbare wissenschaftliche Ergebnisse erlangen. Solch eine empirische Wissenschaft über bestimmte moralische Tatsachen wird jedoch niemals in der Lage sein radikale ethische Fragen zu stellen oder gar in Erwägung ziehen. Sie wird nie Ethik sein. Man kann auch, mit den der Psychologie zugänglichen Methoden, psychische Phänomene untersuchen, die allgemein als moralische Erlebnisse assoziiert werden, aber auch solch eine Psychologie der Ethik wird noch keine Ethik sein. Die Moralität, vor allem aber bestimmte, tatsächlich vorkommende moralische Verhaltensweisen, können Gegenstand der Wissenschaft werden. Diese Wissenschaft der Moralität wird jedoch niemals Ethik sein4. Das Untersuchen der Moralität ist nämlich nicht der Gegenstand der Ethik.

Man kann ebenfalls mit Erfolg eine Geschichte der Ethik betreiben. Es gibt viele wertvolle Arbeiten aus dem Bereich der Geschichte des ethischen Denkens, aber auch die Geschichte der Ethik kann nicht als Ethik selbst gelten. Das bedeutsamste Auftreten der Ethik als Wissenschaft war jedoch im 20. Jahrhundert die sogenannte Metaethik. Den Gegenstand der Metaethik stellt die spezifische Sprache der Ethik dar, eine Sprache die sich unvermeidlich an Werte, Normen und Werturteile heftet, deren Verifikation unmöglich scheint. Die Metaethik ist voll faszinierender intellektueller Rätsel. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie viele außerordentliche Geister angezogen hat. Die Ethik – die ethische Besinnung und das Bedenken der grundsätzlichen ethischen Frage – hat jedoch nicht den Charakter eines intellektuellen Rätsels. Das authentische Durchleben der Frage: wie soll ich über mein Leben verfügen? und die Faszination des Geistes mit bestimmten intellektuellen Rätseln das sind zwei verschiedene Sachen.5

Das Problem der Begründung wurde zur Obsession der Universitätsethik des 20. Jahrhunderts. Von der Annahme ausgehend, dass die Ethik (ihre prinzipiellen Normen und Werte) in einem Zustand der Grundlosigkeit schwebt, werden Versuche ihrer logischen Begründung unternommen. Sofern im Bereich des formalen Denkens alle sich mit der Tatsache der Annahme von unbegründeten, logischen Axiomen abgefunden haben, um auf ihrer Grundlage begründete Urteile abzuleiten, so hält sich im Bereich des Handelns, des praktischen Lebens, hartnäckig die Vormeinung, dass dessen Ausgangspunkt nicht den Charakter eines Axioms haben kann, sondern notwendigerweise eine weitere Begründung verlangt und von dieser aus erst abgeleitet werden muss. Weil jedoch solch eine Begründung nicht gelingen kann, verstärken diese Versuche nur die Überzeugung der Grundlosigkeit der Ethik.

Wenn das Gute hingegen etwas Erstes ist, dann degradiert jeder Versuch seiner Begründung, schon allein in der Intention, das Gute zu etwas Sekundärem. Wenn das Gute als etwas Grundloses empfunden wird, dann ist jeder Versuch seiner Grundfindung und Grundgebung gleichbedeutend mit dem Versuch der Liquidierung seiner Apriorität. Das bewiesene und belegte Gute kann kein Erstes, kein Axiom, sein, genauso wenig wie ein bewiesener Wert ein Erster, oder gar vielleicht überhaupt ein Wert, sein kann. Seit Descartes wird Gewissheit zu etwas mehr und mehr begehrtem. Wenn jedoch der Handelnde noch Beweise für sein gutes Handeln braucht, weil er sich dessen nicht gewiss ist, dann kann man sein Handeln nicht mehr als ethisch bezeichnen und man wird auch nicht mehr von einem ethischen Verdienst des Handelnden sprechen können. Das Beweisen und Begründen, den guten Willen aufhebend, schafft zugleich auch die Möglichkeit der Ethik selbst ab. Es ist für mich offensichtlich, dass es der wissenschaftlichen Ethik – der Metaethik – nicht gelingen kann eine theoretische Gewalt dieser Art für den Menschen zu erfinden, aber ich bin auch überzeugt, dass unabhängig von dieser theoretischen Unmöglichkeit es ihr, aus einer ethischen Perspektive, nicht gelingen sollte. Die Notwendigkeit des ethischen Daseins lässt sich nicht wissenschaftlich beweisen und man sollte dies auch nicht tun, denn ein ethisches Dasein – das meinige und deinige – ist keine Notwendigkeit, sondern eine Möglichkeit.

Die Ethik ist keine Wissenschaft. Die Ethik ist ein Paradox.


1 Der dem Leser hier vorgelegte Vortrag über die Ethik erhebt keinen Anspruch darauf ein Nachschlagewerk des ethischen Wissens zu sein – verstanden als gegenwärtiges Gebiet der akademischen Forschung. Es geht in ihm um die Rückkehr zur radikalen ethischen Frage, sowie das Bedenken dieser Frage auf dem Grunde des hier nicht zufällig ausgewähltem historischen Materials. Alles was für solch ein Denken keine grundsätzliche Bedeutung hat wird in diesem Vortrag ausgelassen. Um die ethische Besinnung, die sich des Anspruchs auf philosophische Tiefe nicht schämt hervorzuheben, spricht man gelegentlich auch von einer philosophischen Ethik. Eine ursprünglich verstandene Ethik ist jedoch ihres Wesens nach philosophisch, deshalb wird im folgendem auch auf solch eine nähere, adjektivische Bestimmung verzichtet. Es wird als offensichtlich angenommen, dass Ethik philosophisch ist (und nicht zum Beispiel soziologisch, linguistisch oder dergleichen).

2 Aristoteles, Nikomachische Ethik (weiter zitiert als NE), übers. von Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner Verlag, 1995, S. 28, 1103 b 27–28.

3 Vgl. „Wir fragen uns besorgt: wie weit liegt es gerade am Verfahren der Wissenschaften, daß es so viele Fragen gibt, auf die wir Antwort wissen müssen und die sie uns doch verbietet? Sie verbietet sie aber indem sie sie diskreditiert, d. h. für sinnlos erklärt.“, Hans Georg Gadamer, Was ist Wahrheit?, [in:] Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 2, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1993, S. 45.

4 Vgl. die Worte von Tadeusz Kotarbiński über Maria Ossowska: „Sie betreibt keine Ethik, sondern eine Wissenschaft der Moralität“ (T. Kotarbiński, Nowe książki o nauce o moralności, Przegląd Filozoficzny, r. XLV, z. 3–4. S. 427).

5 Das Hauptproblem der Metaethik besteht in der sogenannten Ableitung des Sollen aus dem Seiendem, d. h. dem Finden eines logisch berechtigtem Übergang von verifizierbaren deskriptiven Aussagen zu Urteilen, die geltungspflichtige Normativität formulieren. Um den ethischen Sinn dieses intellektuellen Spiels, welches Sollen aus dem Seienden abzuleiten gedenkt, zu erfassen, möchte ich eine Anekdote heranziehen.

Details

Seiten
220
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631907528
ISBN (ePUB)
9783631907535
ISBN (Hardcover)
9783631906392
DOI
10.3726/b21121
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Dezember)
Schlagworte
Leben Wahrheit Freiheit Verantwortung Andere Ethik. Reinterpretation Jacek Filek
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 220 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Jacek Filek (Autor:in)

Jacek Filek ist Professor für Philosophie an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Seine Forschungen konzentrieren sich auf das Gebiet der philosophischen Ethik. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel und wurde mit dem Tischner-Preis ausgezeichnet.

Zurück

Titel: Ethik. Reinterpretation