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Das Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden

Zugleich eine vergleichende Betrachtung der Annahmeverfahren des Bundesverfassungsgerichts und des US Supreme Court

von Jinhan Kim (Autor:in)
©2023 Dissertation 232 Seiten

Zusammenfassung

Die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens für Verfassungsbeschwerden muss die Gewährung effektiven Grundrechtsschutzes einerseits und die begrenzten Entscheidungskapazitäten des Verfassungsgerichts andererseits in Einklang bringen. In der vorliegenden Arbeit wird aufgezeigt, welche materiellen und prozessualen Regelungen beim Bundesverfassungsgericht und beim US Supreme Court den Zugang zur Verfassungsgerichtsbarkeit steuern. Unter Berücksichtigung eines prozeduralen Überprüfungsansatzes und demokratietheoretischer Erwägungen wird anschließend das Modell eines deliberativen Annahmeverfahrens entwickelt, das die verfassungsgerichtlichen Ressourcen bestmöglich nutzt. Wesentliche Elemente des Verfahrens sind insbesondere die Zuständigkeit des Senats, die Annahme nach Ermessen anhand der verfassungsrechtlichen Relevanz, die Möglichkeit zur Veröffentlichung von Sondervoten sowie besondere Anforderungen an die Formulierung des Beschwerdeantrags nach dem Vorbild der Questions Presented im Writ of Certiorari-Verfahren des US Supreme Court.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Kapitel 1: Hintergrund und Einleitung
  • A. Hintergrund
  • I. Die jüngere Geschichte Koreas
  • II. Juni-Aufstand 1987, Verfassungsänderung und Gründung des Verfassungsgerichts
  • III. Notwendigkeit und Schwierigkeiten einer Reform
  • B. Hinführung zum Thema
  • I. Ein „Haus für jedermann“
  • II. Verfassungsgerichtsbarkeit und fachgerichtliche Urteile in Deutschland
  • III. Die Praktikabilität der Zugangsregelung im Rahmen des Annahmeverfahrens
  • IV. Der US Supreme Court und das Writ of Certiorari-Verfahren
  • V. Eingrenzung des Themas
  • VI. Gang der Untersuchung
  • Kapitel 2: Die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts bei der Urteilsverfassungsbeschwerde
  • A. Die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit
  • B. Die Abgrenzungsproblematik bei der Urteilsverfassungsbeschwerde
  • I. Überblick über die Problematik
  • II. Die Diskussion bei der Einführung der Verfassungsbeschwerde
  • III. Grundregeln zur Abgrenzung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle: Subsidiarität und Grundrechtsverletzung
  • IV. Die Abgrenzung in der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts
  • 1. Elfes-Urteil und Lüth-Urteil
  • 2. Funktioneller Gesichtspunkt und Heck‘sche Formel
  • 3. Schumann’sche Formel
  • 4. Ergänzende Prüfungskriterien
  • 5. Kritik
  • Kapitel 3: Das Annahmeverfahren der Verfassungsbeschwerde
  • A. Einleitung
  • I. Das Annahmeverfahren und seine Funktion
  • II. Einführung und Änderungen des Vorprüfungsverfahrens und des Annahmeverfahrens
  • 1. Einführung der Verfassungsbeschwerde und Denkschrift vom 23. Dezember 1954
  • 2. Einführung des Vorprüfungsverfahrens im Jahr 1956
  • 3. Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz im Jahr 1969
  • 4. Die Novelle des Jahres 1985
  • B. Das Annahmeverfahren de lege lata
  • I. Allgemeines Register: ein Filter vor dem Annahmeverfahren
  • II. Grundlagen des Annahmeverfahrens
  • 1. Die BVerfGG-Novelle des Jahres 1993
  • 2. Gründe für die Annahme
  • 3. Kammerentscheidungen durch Beschluss
  • 5. Annahmeverfahren im Senat
  • III. Das Annahmeverfahren in der Praxis: Aussagen der Richter des BVerfG
  • 1. Zum Annahmeverfahren im Allgemeinen
  • 2. Der Zweck des Annahmeverfahrens
  • 3. Annahmeverfahren in der Kammer
  • 4. Anwendung und Bedeutung der Zulässigkeitskriterien im Annahmeverfahren
  • 5. Kritik
  • C. Subsidiarität und Substantiierung der Verfassungsbeschwerde im Annahmeverfahren
  • I. Einleitung: Der Grundsatz der Subsidiarität und das Erfordernis der Substantiierung
  • II. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
  • 1. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
  • 2. Funktion des Grundsatzes der Subsidiarität
  • 3. Die Anhörungsrüge und der Grundsatz der Subsidiarität
  • III. Das Erfordernis der Substantiierung
  • 1. Grundlagen und praktische Bedeutung der Substantiierung
  • 2. Inhalt des Substantiierungserfordernisses
  • 3. Die neue Funktion des Substantiierungserfordernisses und damit einhergehende Probleme
  • Kapitel 4: Das Writ of Certiorari-Verfahren des US Supreme Court
  • A. Grundlagen des Gerichtssystems der Vereinigten Staaten
  • I. Das Bundesgerichtssystem der Vereinigten Staaten
  • II. Zuständigkeit und Identität des US Supreme Court
  • B. Das Writ of Certiorari-Verfahren
  • I. Einleitung
  • II. Die Entstehung des Writ of Certiorari-Verfahrens
  • 1. Chronologischer Überblick
  • 2. Die Debatte im Kongress anlässlich der Einführung des Writ of Certiorari-Verfahrens
  • III. Die Entscheidungsfindung im Writ of Certiorari-Verfahren
  • 1. Beratung im Plenum (full bench conference)
  • 2. Notwendigkeit eines Ermessensspielraums des Gerichts
  • 3. Vorgaben für die Certiorari-Entscheidung
  • 4. Die Entscheidung des US Supreme Court über Certiorari-Anträge
  • IV. Wichtige Elemente des Writ of Certiorari-Verfahrens
  • 1. Trennung von Certiorari-Verfahren und Sachprüfungsverfahren
  • 2. Question Presented
  • 3. Begrenzung des Umfangs der Schriftsätze und der sonstigen Verfahrensdokumente
  • 4. Certiorari Pool
  • 5. Discuss List
  • V. Writ of Certiorari-Verfahren und Sachprüfungsverfahren
  • 1. Einreichung von Schriftsätzen zur Begründetheit
  • 2. Mündliche Verhandlung
  • 3. Beratung der Richter
  • 4. Abfassung der Urteilsgründe und der Sondervoten
  • C. Der Vorschlag zur Reform des Annahmeverfahrens beim Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 1997
  • I. Die Entlastungs-Kommission und ihr Vorschlag
  • 1. Einberufung der Kommission im Jahr 1996
  • 2. Belastungssituation im Jahr 1996
  • 3. Empfehlung der Kommission für ein Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden
  • II. Bewertung des Vorschlags der Kommission
  • 1. Resonanz auf den Vorschlag der Kommission
  • 2. Vergleich zwischen dem Modell der Kommission und dem Writ of Certiorari-Verfahren
  • 3. Gibt es die Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung?
  • Kapitel 5: Das Modell eines deliberativen Annahmeverfahrens
  • A. Grundlagen des Modells
  • B. Prozeduraler Überprüfungsansatz
  • I. Erforderlichkeit einer neuen Herangehensweise
  • II. Gründe für die Anwendung des prozeduralen Überprüfungsansatzes
  • 1. Effektivität: Gute Prozesse für gute Ergebnisse
  • 2. Institutioneller Grund: Grundsatz der Subsidiarität
  • 3. Theorie der deliberativen Demokratie
  • III. Anwendung des prozeduralen Überprüfungsansatzes im Annahmeverfahren des Bundesverfassungsgerichts
  • 1. Struktureller Unterschied zur Anwendung des prozeduralen Überprüfungsansatzes durch den EGMR
  • 2. Neue Sichtweise auf das Annahmeverfahren
  • 3. Vorteile des prozeduralen Überprüfungsansatzes
  • C. Ansatz der Theorie der deliberativen Demokratie
  • I. Demokratietheoretische Grundlagen
  • II. Legitimität der verfassungsgerichtlichen Überprüfung
  • 1. Hintergrund der Debatte
  • 2. Kritikpunkte von Vertretern der Theorie der Mehrheitsdemokratie
  • 3. Ansätze wichtiger Vertreter der Theorie der deliberativen Demokratie
  • III. Begründung des neuen Modells anhand der Theorie der deliberativen Demokratie
  • 1. Deliberative Demokratie und Annahmeverfahren
  • 2. Funktionen des deliberativen Annahmeverfahrens
  • D. Strukturelemente des deliberativen Annahmeverfahrens
  • I. Vorüberlegungen
  • 1. Gewichtung der Funktionen der Verfassungsbeschwerde
  • 2. Systemischer Ansatz
  • II. Die einzelnen Strukturelemente
  • 1. Stellung und Organisation des Bundesverfassungsgerichts
  • 2. Ermessen: Verzicht auf den Schutz der Grundrechte?
  • 3. Leitlinien für die Annahme
  • 4. Senatsprinzip und erforderliche Stimmenanzahl für die Annahme
  • 5. Transparenz des Annahmeverfahrens
  • 6. Anforderungen an die vorgelegten Rechtsfragen
  • Kapitel 6: Fazit
  • Literaturverzeichnis

Kapitel 1: Hintergrund und Einleitung

A. Hintergrund

I. Die jüngere Geschichte Koreas

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Korea aus der japanischen Kolonialherrschaft befreit. Die anschließende politische Auseinandersetzung zwischen den kapitalistisch orientierten USA und der kommunistischen Sowjetunion führte zur Teilung Koreas in zwei Staaten. Direkt nach Gründung der beiden Staaten brach 1948 ein Bürgerkrieg zwischen ihnen aus, der 1953 mit einem Waffenstillstand endete. Dem Krieg fielen nicht nur Menschenleben, Umwelt und Infrastruktur zum Opfer, sondern gleichermaßen Werte wie die Achtung der Menschenwürde, das Vertrauen in die Mitmenschen und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Der Konflikt zwischen Süd- und Nordkorea blieb weiterhin das beherrschende Thema. Politiker beider Seiten nutzten diese angespannte Lage für ihre Ziele aus. In Südkorea boten die Bedrohung durch Nordkorea, die Armut und das mangelnde politische Bewusstsein der Bevölkerung ein ideales Umfeld für ein autoritäres Herrschaftssystem. Politiker und Bürger, darunter viele Studenten, die sich für Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzten, wurden sofort der Zusammenarbeit mit dem nordkoreanischen Regime verdächtigt. Menschen mit abweichenden Weltanschauungen wurden bestraft und zur Änderung ihrer Ansichten gezwungen. Eine intolerante politische Kultur beherrschte die Gesellschaft und beeinflusste die Mentalität der Menschen. Südkorea hat zwar seit Gründung der Republik 1948 eine moderne Verfassung, die die Menschenwürde, weitere wichtige Grundrechte sowie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit garantiert; in Wirklichkeit waren die verfassungsrechtlichen Vorgaben jedoch bis in die 1980er-Jahre nur ein Programm, wenn nicht gar eine Art „politische Dekoration.“

II. Juni-Aufstand 1987, Verfassungsänderung und Gründung des Verfassungsgerichts

Nachdem die Bevölkerung Südkoreas jahrzehntelang unter dem autoritären Regime gelitten hatte, gelangte sie – auch im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung – zu einem größeren politischen Selbstbewusstsein. Im Juni 1987 fanden in vielen südkoreanischen Städten massive Proteste gegen die autoritäre Regierung statt. Der damalige Präsident Chun, ein ehemaliger Armeegeneral, ging auf die Forderungen der Aufständischen ein und veranlasste Reformen. So wurde in der Folgezeit die Verfassung überarbeitet und der Demokratisierungsprozess vorangetrieben.

Eine der wichtigsten Änderungen im Rahmen der Verfassungsreform war die Einführung der Direktwahl des Präsidenten. Zuvor wurde der Präsident, der das Oberhaupt des Staates ist und an der Spitze der Exekutive steht, in indirekter Wahl gewählt, was die Manipulation des Wahlergebnisses begünstigte.

Eine weitere entscheidende Reformmaßnahme infolge des Aufstands war die Errichtung des Verfassungsgerichts. Jahrzehntelang war der Staat in der Lage gewesen, die Grundrechte der Bürger zu verletzen, ohne dass eine verfassungsgerichtliche Kontrolle hätte stattfinden können. In der Bevölkerung bestand der dringende Wunsch nach einer Staatsgewalt, die ihr Handeln nicht an Machtallüren ausrichtet, sondern an den Vorgaben der Verfassung. Als Kontrollinstanz, so die Forderung der Bevölkerung, sollte ein Verfassungsgericht errichtet werden. Die Ausstattung des Obersten Gerichts mit den entsprechenden Kompetenzen war keine Option, da die Bürger in dieses nur wenig bis kein Vertrauen hatten.

Die Geschichte der koreanischen Verfassungsgerichtsbarkeit reicht bis zum Jahr 1948 zurück, dem Jahr der Republikgründung und des Inkrafttretens der Verfassung in ihrer ursprünglichen Fassung. Aufgrund politischer Turbulenzen erfuhr die Verfassung im Laufe der Jahre mehrere wesentliche Änderungen. Auch die Institutionen, die für die Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten zuständig waren, wechselten mehrmals: zeitweise war es der spezielle Verfassungsausschuss und zeitweise das Oberste Gericht. Keine der Institutionen vermochte es jedoch, die Verfassungsgerichtsbarkeit ordnungsgemäß auszuüben, sei es wegen des mangelnden Selbstbewusstseins der Richter, wegen des politischen Drucks oder wegen defizitärer organisatorischer Strukturen. Als Anfang der 1970er-Jahre das Oberste Gericht eine mutige Entscheidung traf und ein Gesetz als verfassungswidrig einstufte, ließ Präsident Park die erkennenden Richter aus ihren Ämtern entfernen. Kurz darauf wurde die Verfassung geändert und dem Obersten Gericht die Zuständigkeit für verfassungsrechtliche Angelegenheiten entzogen. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete das Oberste Gericht ebenso wie die gesamte übrige Judikative eng mit der Exekutive zusammen, insbesondere dann, wenn Fälle von politischer Bedeutung zu entscheiden waren.

Ein weiteres Problem des Gerichts und der Justiz im Allgemeinen war ihr Dünkel. Die Richter trugen offen ihre Annahme zur Schau, dass sie die Wahrheit kennen, ihre Entscheidungen daher zwangsläufig richtig sein müssen und sie deshalb entscheiden können, was immer sie für richtig halten. Sie übten ihre richterliche Macht ohne den nötigen Respekt vor dem Volk aus, als ob sie aufgrund ihrer Klugheit und ihres Wissens nicht irren könnten. Diese Amtsführung beschädigte das Ansehen der Justiz nachhaltig.

Das Verfassungsgericht Koreas wurde im Zuge der Verfassungsänderung des Jahres 1988 errichtet. Bei seiner Gründung herrschte sowohl unter Juristen als auch in der Bevölkerung große Skepsis, ob das neue Gericht seinen Auftrag würde erfüllen können. Jedoch zeigte sich schnell, dass das Verfassungsgericht bereit war, seinen Handlungsspielraum ausgiebig zugunsten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu nutzen. In den nunmehr gut 30 Jahren seines Bestehens hat sich das koreanische Verfassungsgericht als unabhängiger Beschützer der Verfassung und der Grundrechte der Bürger erwiesen. Verglichen mit der langsamen Entwicklung der politischen Institutionen und der Parteiendemokratie sind die Erfolge der Verfassungsgerichtsbarkeit geradezu erstaunlich. Umfragen zufolge hält die Bevölkerung Koreas das Verfassungsgericht für die vertrauenswürdigste und einflussreichste staatliche Institution.1

Mit der Verfassungsreform des Jahres 1988 wurde die Zuständigkeit für die Überprüfung anhand von Verfassungsrecht auf das neu geschaffene Verfassungsgericht übertragen, während das Oberste Gericht seine Stellung als letztinstanzliches Fachgericht (Art. 101 Abs. 2 der Verfassung) beibehielt.

Die Verfassung der Republik Korea sieht vor, dass in die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts unter anderem die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden fällt. Nähere Einzelheiten hierzu regelt das Verfassungsgerichtsgesetz. Im Hinblick auf die in Betracht kommenden Beschwerdegegenstände beinhaltet das Verfassungsgerichtsgesetz eine Einschränkung mit weitreichenden Folgen: Es bestimmt ausdrücklich, dass gerichtliche Entscheidungen keiner Überprüfung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde unterliegen (Art. 68 Abs. 1 des Verfassungsgerichtsgesetzes). Dies hat zur Folge, dass die Grundrechte der koreanischen Verfassung im Bereich von Judikativakten ihre Wirkung nicht voll entfalten können und somit ein großer Teilbereich staatlichen Handelns der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen ist.

Das Verfassungsgericht hat in den vergangenen drei Jahrzehnten über 600 Gesetzesbestimmungen aufgehoben und damit massiven Einfluss auf die Arbeitsweise des Gesetzgebers genommen. Die Legislative prüft heute die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzentwürfen deutlich gewissenhafter, als dies früher der Fall war. Hingegen hat sich die Einstellung des Obersten Gerichts zur Verfassung nicht wesentlich verändert. Seine Rechtsprechung lässt wenig Bereitschaft erkennen, die Grundrechte und ihre Auslegung durch das Verfassungsgericht in der eigenen Rechtsanwendung zu berücksichtigen. Diese Haltung überträgt sich auch auf die Instanzgerichte, die sich maßgeblich an der Rechtsprechung des Obersten Gerichts orientieren.

Wie weitreichend die Folgen der mangelnden verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit von Gerichtsentscheidungen sind, zeigt sich besonders deutlich im Hinblick auf den Rechtsschutz gegen Verwaltungshandeln. Da Verfassungsbeschwerden erst nach Ausschöpfung aller anderen rechtlichen Möglichkeiten zulässig sind und gegen Maßnahmen der Exekutive in aller Regel der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, ist eine Verfassungsbeschwerde hiergegen faktisch ausgeschlossen. Letztlich bleibt es den Fachgerichten überlassen, inwieweit sie die Vorgaben des Verfassungsrechts, insbesondere die Auslegungspraxis des Verfassungsgerichts, in ihrer Rechtsprechung beachten. Dieser Zustand ist im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip unbefriedigend. Eine Erweiterung der tauglichen Beschwerdegegenstände um Gerichtsentscheidungen erscheint dringend geboten.

III. Notwendigkeit und Schwierigkeiten einer Reform

Es ist eine wichtige und dringende Aufgabe im Sinne der Rechtsstaatlichkeit in Korea, Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsurteile einzuführen. Eine solche Reform würde sich nicht auf die Anpassung einiger Verfahrensvorschriften im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit beschränken. Vielmehr würde sie eine grundlegende Umstrukturierung der Judikative bedeuten, die insbesondere eine Veränderung des Verhältnisses zwischen den Fachgerichten und dem Verfassungsgericht sowie zwischen Gerichten und anderen staatlichen Institutionen mit sich bringt. Die Neuregelung könnte einerseits einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen leisten, andererseits aber auch mit unerwünschten Folgen einhergehen. Im Hinblick auf die hier untersuchte Einführung der Urteilsverfassungsbeschwerde ist insofern insbesondere an zwei Aspekte zu denken: zum einen an den deutlich steigenden Geschäftsanfall am Verfassungsgericht und zum anderen an die ablehnende Haltung in den Reihen der Fachgerichtsbarkeit.

Das Oberste Gericht Koreas ist das letztinstanzliche Rechtsmittelgericht aller Gerichtszweige. Es erledigt pro Jahr mehr als 45.000 Verfahren.2 Falls die neue Verfahrensart der Urteilsverfassungsbeschwerde eingeführt werden sollte, so wird eine nicht unwesentliche Anzahl der vor dem Obersten Gericht unterlegenen Parteien das Verfassungsgericht anrufen und die Verletzung von Grundrechten durch die letztinstanzliche Entscheidung geltend machen. Das Verfahrensaufkommen am Verfassungsgericht wird hierdurch spürbar steigen. Gleichzeitig können seine Kapazitäten nicht beliebig erweitert werden, denn aufgrund der besonderen Stellung des Verfassungsgerichts außerhalb des regulären Rechtswegs, seines hochspeziellen Prüfungsprogramms und der Notwendigkeit einer einheitlichen, konsistenten Verfassungsrechtsprechung sind der zweckmäßigen Größe des Gerichts enge Grenzen gesetzt. Eine Neuregelung muss daher Regeln zur gezielten Steuerung der bestehenden Kapazitäten umfassen.

Eine weitere Schwierigkeit besteht im absehbaren Widerstand der Fachgerichte, an deren Spitze das Oberste Gericht Koreas steht. Das Oberste Gericht gilt derzeit als unangefochtene Machthochburg der Judikative. Daher verwundert es nicht, dass das Oberste Gericht der Einführung der Urteilsverfassungsbeschwerde sehr ablehnend gegenübersteht. Die Bedenken basieren allerdings auf dem Missverständnis, das Oberste Gericht würde mit der Einführung der Urteilsverfassungsbeschwerde dem Verfassungsgericht unterstellt. Auch diese Befürchtung, die ein nicht zu unterschätzendes Hindernis darstellt, gilt es in die Reformüberlegungen einzubeziehen. Ihr kann insbesondere dadurch begegnet werden, dass die Neuregelung eine transparente und umsichtig ausbalancierte Aufgabenverteilung zwischen der Fachgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit vorsieht. Insbesondere ist sicherzustellen, dass sich das Verfassungsgericht nicht zu einer Superrevisionsinstanz entwickelt.

Über den Reformbedarf wird schon seit Langem diskutiert. Die Mehrheit der Verfassungsrechtler befürwortet die Einführung von Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsurteile. Das Oberste Gericht und die Richter der Fachgerichte bringen ihre Ablehnung deutlich zum Ausdruck. Die Argumente pro und contra sind zahlreich. Jedoch wird kaum darüber diskutiert, wie den oben genannten Schwierigkeiten begegnet werden kann. Bislang gibt es in Korea in der Rechtswissenschaft und in der Politik kaum eine Diskussion über die konkrete Ausgestaltung der Urteilsverfassungsbeschwerde. Vor diesem Hintergrund setzt sich das vorliegende Forschungsvorhaben mit der Urteilsverfassungsbeschwerde, ihren verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen und insbesondere mit der Ausgestaltung des Annahmeverfahrens auseinander.

Da das koreanische Verfassungsgericht seinerzeit in Anlehnung an das Modell des deutschen BVerfG errichtet wurde, erscheint es sinnvoll, zunächst die deutsche Verfassungsbeschwerde und auch das Annahmeverfahren hierfür einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Das im BVerfGG geregelte Annahmeverfahren ist nicht das Ergebnis logischer Schlussfolgerungen. Vielmehr basiert es auf der praktischen Notwendigkeit, angesichts der großen Anzahl an Verfassungsbeschwerden die Funktionsfähigkeit des BVerfG zu gewährleisten.Deshalb soll das Annahmeverfahren insbesondere im Kontext der Funktionen der Verfassungsbeschwerde untersucht werden.

Im System des US Supreme Court gibt es ein Vorfilter-Verfahren, das sich vom deutschen Annahmeverfahren unterscheidet. Es lohnt sich, die in den beiden Rechtsordnungen praktizierten Verfahren kritisch zu analysieren. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage dafür, ein Modell für ein bestmöglich funktionierendes Annahmeverfahren für Urteilsverfassungsbeschwerden vor dem koreanischen Verfassungsgericht zu entwerfen.

Details

Seiten
232
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631911648
ISBN (ePUB)
9783631911655
ISBN (Hardcover)
9783631911617
DOI
10.3726/b21374
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Januar)
Schlagworte
Writ of Certiorari-Verfahren Annahmeverfahren Rechtsstaatlichkeit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Verfassungsgerichtssystem koreanische Verfassungsgerichtsbarkeit
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 232 S.

Biographische Angaben

Jinhan Kim (Autor:in)

Jinhan Kim studierte von 1986 bis 1992 Rechtswissenschaft an der Korea Universität in Seoul und absolvierte anschließend die praktische Juristenausbildung. Von 2001 bis 2012 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am koreanischen Verfassungsgericht tätig. 2006 absolvierte er ein LL.M.-Programm für internationale Menschenrechte an der University of Notre Dame Law School in den USA. Von 2012 bis 2015 lehrte er als Assistenzprofessor Verfassungsrecht an der Inha Law School in Südkorea. 2013 wurde er mit einer verfassungsrechtlichen Arbeit an der Korea Universität promoviert. Von 2016 bis 2021 war er Gastwissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2023 ist er als freier Rechtsanwalt bei der Anwaltskanzlei Hankyul in Seoul tätig.

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Titel: Das Annahmeverfahren für Verfassungsbeschwerden