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Der vergessene Autor Heinrich Schaefer und sein größtes Werk «Gefangenschaft»: Wellen des Ekels

von Corinna Roider (Autor:in)
©2024 Dissertation 386 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch beschäftigt sich mit einem in der Literaturwissenschaft nahezu vergessenen Autor des Expressionismus: Heinrich Schaefer. Der Band will die Biografie und literarische Entwicklung Heinrich Schaefers über den lückenhaft vorliegenden Faktenbefund hinaus erweitern. Er tut dies primär, um das literarische Werk Schaefers auf ein Motiv hin zu untersuchen, das in seinen Texten einen zentralen Stellenwert einnimmt – das Motiv des Ekels. Dieses Ekelmotiv ist für Figurendarstellung, Dramaturgie und explizite Drastik in Schaefers Texten nicht nur Zentralmotiv, sondern in der Auslotung seiner anthropologischen und physiologischen Befunde die thematisch interessanteste Deutungslinie. Sie wird exemplarisch am Hauptwerk Heinrich Schaefers, dem zwischen 1911–1913 entstandenen Roman Gefangenschaft, vorgestellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Hinführung
  • Die neue alte Lust am Ekelhaften
  • Psychophysiologische Überlegungen
  • Begriffsklärung und -abgrenzung
  • Forschungsstand
  • Literaturwissenschaftliche sowie philosophische Theorien
  • Lust und Ekel: Ein historischer Abriss
  • Zur Soziogenese des Affektes
  • Ekelreaktionen und ihre Auslöser
  • Abwehrreaktionen des Subjekts: Ekel und Angst
  • Ekel als Renitenz der eigenen Vergänglichkeit
  • Ekelempfinden im sexuellen Setting
  • Ekel und das weibliche Geschlecht
  • Rezeption des Ekels im expressionistischen Kanon
  • Heinrich Schaefer: Ein vergessener Expressionist
  • Straßburger Zeit und erste Berliner Jahre
  • Überzeugt Links: Schaefer der Kommunist
  • Großrazzia in der Künstlerkolonie Wilmersdorf März 1933
  • Letzte Lebensjahre und Tod
  • Seine Ehefrau Maria Schaefer
  • Werkindex
  • Index nach Datum
  • Tabellarischer Index nach literarischer Gattung
  • Das Motiv des Ekels im literarischen Hauptwerk Heinrich Schaefers
  • Grundlegende Informationen zum Roman „Gefangenschaft“ (1911)
  • Handlungsstrukturen der Gefangenschaft
  • Die Figuren des Erzählers: Zwischen Rahmen- und Binnendiegese
  • Untersuchung hinsichtlich des Motivs „Ekel“
  • Vorstellung des Settings sowie der Handlungsträger Crammen und Galmore
  • Zusammenleben der Ehepartner
  • Resümee und Wandlung Crammens
  • Wesensänderung und Mord
  • Zusammenschau
  • Teilbereich 1: Ekel als Reactio eines ungewollten Nähemoments
  • Teilbereich 2: Galmore als typische Femme fatale?
  • Teilbereich 3: Die Peripetie des Leidenden
  • Teilbereich 4: Der Untergang im Ekel
  • Wellen des Ekels
  • Abschluss
  • Die motivische Verarbeitung des Ekels – ein Vergleich mit Schaefers Zeitgenossen
  • Schaefers Werk als „besonders obskurer Typ unverständlicher Textur“
  • Die „Gefangenschaft“: Ein Kolportageroman?
  • Die Darstellungen Schaefers als absolute Prosa
  • 7 Literaturverzeichnis
  • Anhang

Hinführung

Es ist eine allgemeine Erscheinung in unsrer Natur, daß uns das Traurige, das Schreckliche, das Schauderhafte selbst mit unwiderstehlichem Zauber an sich lockt, daß wir uns von Auftritten des Jammers, des Entsetzens mit gleichen Kräften weggestoßen und wieder angezogen fühlen.1

Diese Beobachtung, die Schiller bereits im Dezember 1791 zu Papier brachte und die auf Erkenntnissen einer Vorlesung im Sommer 1790 und der Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft fußt,2 gewinnt vor allem während des Zeitalters des Expressionismus‘ besondere Aktualität. So zählt die Darstellung des Hässlichen in Literatur und bildenden Künsten in der Zeit der Jahrhundertwende wohl zu den bedeutendsten Mitteln künstlerischer Gestaltung und dient nicht zuletzt dazu, „[die] wirklich letzten verborgenen Stellungen des Idealismus und Dualismus [der damaligen Zeit] auf[zu]br[e]‌chen.“3 Gleichzeitig geht mit dieser Erstarkung der „Ästhetik des Hässlichen“, wie es Karl Rosenkranz im gleichnamigen Werk4 nennt, auch eine Fokussierung auf das Motiv des Ekels einher.

Dieser Tatsache zum Trotz gehört, wie der Berliner Geisteswissenschaftler Winfried Menninghaus im Jahre 1999 feststellt, „Ekel [dennoch] [nach wie vor] […] zu den am schlechtesten dokumentierten Empfindungen in der Geschichte des Menschen[.]‌“5 Dieses Postulat hat auch 23 Jahre später nur wenig an Aktualität verloren. Während hierzu in jüngerer Zeit auf dem Gebiet der Psychophysiologie intensiver geforscht wurde,6 bleibt im Bereich der Philologie weitgehend nur der Rückgriff auf Autoren, die in diesem Kontext als „Klassiker“ bezeichnet werden.

Zu Unrecht vergessen wurden und bleiben die, die mit unzähligen Texten und unermüdlichem Eifer Stellvertreter sind für ein „expressionistische[s]‌ Formerlebnis in all seinen Variationen, vom bizarren Überschwang bis zur ironisch-leisen Selbstenthüllung“.7 Obwohl sie, wie Karl Otten es pointiert zusammenfasst, „die Vielgestalt, [die] [das Merkmal jener Epoche war]“8, verkörpern, sind die meisten fast gänzlich

[aus] dem Gedächtnis des deutschen Volkes entschwunden[.]‌ So […] [besitzen] die Werke jener Künstler, namentlich der Schriftsteller, einen Seltenheitswert, der zum Schicksal der Bücher wie ihrer Autoren paßt.9

Mit in den Kreis derer, die „so sehr aus der Erinnerung der deutschen Leser ausgelöscht [wurden]“,10 fällt auch der Autor Heinrich Schaefer, der zu Recht „als ‚vergessener‘ Expressionist gelten [muß].“11 An dieser Feststellung aus dem Jahre 1986 hat sich auch bis zum heutigen Tag nichts geändert. Wer eintaucht in die Welt rund um Heinrich Schaefer, stößt sehr schnell an Grenzen – Grenzen, die teilweise bis zuletzt bestehen bleiben, die aus dem „vergessenen“ Mann Schaefer einen nahezu „verschwundenen“ Menschen machen; verschwunden von der Bildfläche des Lebens, verschluckt von den dramatischen Ereignissen der damaligen Zeit; von Flammen vertilgt, was ihn als Person und sein literarisches Werk ausmachte. Übrig bleiben Texte, die es, dank der bestehenden Überlieferung der von Franz Pfemfert verlegten Zeitschrift „Die Aktion“, die als „Maßstab für höchste künstlerische Qualität und moralisch-politische Rigorosität“12 gilt, geschafft haben, die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus’ in Berlin zu überleben.

Das literarische Werk Schaefers, das auf diese Weise in seinen Grundzügen entschlüsselt werden kann, zeigt einen Mann, der „nicht den literarischen Parteiläufern des Bürgerlichen zuzuzählen ist, sondern[,]‌ [der] zu den paar aufreizenden Gestaltern des Unerhörten [gehört].“13 Ein großer Teil dieses „Unerhörten“ basiert vor allem auf der Erkenntnis, dass das Motiv des Ekels in den Texten des Autors einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die vorliegende Arbeit hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, was das Ekelmotiv bei Schaefer literarisch leistet, inwiefern es zentral für Thema, Figurendarstellung und Dramaturgie seiner Texte ist und ob eine, und wenn ja, welche interessante „literarische Wendung“ des anthropologischen oder auch physiologischen Befunds nachzuweisen ist.

„Ekelschwellen existieren für Schaefer nicht“.14 Treffender hätte der deutsche Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer das Werk Schaefers nicht zusammenfassen können. Doch welche „Schwellen“ sind es, die der Autor in nahezu allen Texten, die sein Werk umfassen, überschreitet?

Um erschließen zu können, wie das Ekelmotiv bei Schaefer literarisch umgesetzt wurde, ist es daher, trotz einer, sich an den Disziplinen der Neueren deutschen Literaturwissenschaft orientierenden Arbeit, vorab unerlässlich, das zu untersuchende Sujet zunächst aus emotionspsychologischer Perspektive zu beleuchten, um zu einem tieferen Verständnis der Darstellung des Ekels in den Texten Heinrich Schaefers zu gelangen. Es bedarf in diesem Zusammenhang sowohl einer Abgrenzung zu anderen Emotionen als auch einer Beleuchtung der Reaktionstrias und der theoretischen Ansätze zur Erklärung des Ekels. Vor allem erscheint auch die Beschäftigung mit einer phänomenologischen Einteilung von Ekelauslösern per se notwendig, um einzelne Phänomene in dem zu untersuchenden Text angemessen bewerten zu können.


1 Schiller, Friedrich: Erzählungen Theoretische Schriften. Herausgegeben von Wolfgang Riedel. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2004 (= Friedrich Schiller Sämtliche Werke 5). S. 372.

2 Vgl. ebd. S. 1198.

3 Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983 (= Edition Suhrkamp 99). S. 289.

4 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Stuttgart: Reclam 2007 (= Reclam-Taschenbuch 21555).

5 Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999a. S. 9.

Vgl. Penning, Lothar Matthias: Kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Dr. phil. Universität Mainz: o. V. 1984. S. 1.

6 Siehe beispielsweise:

Trevor, I. Case, Megan Oaten u. Richard J. Stevenson: Disgust as a Disease-Avoidance Mechanism. In: Psychological Bulletin 135 (2009) H. 2. S. 303–321. Online verfügbar unter: https://www.researchgate.net/profile/Trevor_Case/publication/24170514_Disgust_as_a_Disease-Avoidance_Mechanism/links/594a0714a6fdcc3e17fc7c9e/Disgust-as-a-Disease-Avoi-dance-Mechanism.pdf; Krichmayr, Karin: Dem Ekel ins Auge sehen. http://derstandard.at/1371170617984/Dem-Ekel-ins-Auge-sehen (28.10.2017); University Macquarie: Dr. Trevor Case. Publications. http://humansciences.mq.edu.au/psychology/psychology_staff/psychology_academic_staff/trevor_case (28.10.2017); Universität Graz: Institut für Klinische Psychologie. Publikationen. https://psychologie.uni-graz.at/de/klinische-psychologie/publikationen/ (28.10.2017); Miener, Sandra: Die Basisemotion Ekel: Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Gefühl und Ausdruck. Dissertation. http://pub.uni-bielefeld.de/download/2302317/2302320 (28.10.2017). (Stand 27.10.2017): Experiment von Stark, Walter, Schienle, Vaitl (2005): Probanden werden Bilder mit unterschiedlich ekligem Inhalt ausgesetzt, während die Aktivität des Muskels levator labii superioris, der Hautleitwiderstand und die Herzschlagfrequenz gemessen wurden. Im Anschluss daran Bewertung der Bilder bezüglich der subjektiven Ekligkeit; Experiment von Schienle, Stark, Vaitl (2001): höhere Aktivität im levator labii superioris beim Betrachten ekliger als bei neutralen Bildern. Ziel der Versuchsreihe: Konditionierbarkeit der Ekelreaktion.

Siehe u. a. auch die Bibliographie des Instituts der klinischen Psychologie der Universität Graz: Fragebogen von Schienle, Bertram, Stark und Vaitl (2002) zur Erfassung von Ekelempfindlichkeit (in Anlehnung an die 1994 entstandene „disgust scale“ von Haidt, McCauley und Rozin (1994)).

7 Otten, Karl: Ahnung und Aufbruch. Expressionistische Prosa. Darmstadt: Hermann Luchterhand Verlag 1957. S. 37.

8 Ebd. S. 38.

9 Ebd. S. 34.

10 Ebd S. 11.

11 Schaefer, Heinrich: Prosa und Gedichte. Eine Auswahl. Mit einem Nachwort hrsg. von Jens Malte Fischer. Siegen: Universität-Gesamthochschule 1986 (= Vergessene Autoren der Moderne 20). S. 43.

12 Exner, Lisbeth u. Kapfer Herbert: Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen. Texte und Briefe. München: Belleville Verlag o. J. [1999]. S. 14.

13 Hermann-Neisse, Max: Ein revolutionäres Buch. In: Die neue Rundschau. XXXter Jahrgang der freien Bühne. Hrsg. von Oskar Bie. Bd. 1. Berlin: Fischer Verlag 1919 (= Die neue Rundschau 1). S. 254–255. S. 254.

14 Schaefer, Heinrich: Prosa und Gedichte. Eine Auswahl. S. 45.

1 Die neue alte Lust am Ekelhaften15

Beschäftigt man sich heutzutage mit Bestsellerrankings und Kinocharts, so ist auffällig, dass sich neben Komödien, Dramen und Fantasygeschichten16 ein Bereich finden lässt, der die Klassiker der Unterhaltungsliteratur zunehmend verdrängt. Neben Verkaufsschlagern wie Shades of Grey,17 die vor allem weibliches Publikum ansprechen,18 gibt es ein weiteres Gebiet, das sich zunehmender Beliebtheit erfreut: den des Ekelhaften. Das Thema ist in sämtlichen Bereichen des Unterhaltungsmarktes anzutreffen und so lassen sich Motive des Ekelhaften sowohl im Internet, der Unterhaltungsliteratur als auch in Kinofilmen oder Fernsehformaten finden.

Personen, die den Skandalkurzclip „2 Girls 1 Cup“19 sehen, bei dem zwei brasilianische Pornodarstellerinnen ihren eigenen Kot essen, reagieren zunächst mit Verwunderung, dann mit Grausen und Aversion. Beispiele für Ekelreaktionen zu diesem Trailer, der für einen Pornofilm wirbt, gibt es bei dem Videoportal „YouTube“ unter dem Stichwort „2 Girls 1 Cup“ zuhauf.20 Der Kurzfilm selbst ist aufgrund seines Inhaltes dort nicht zu finden. Dass solche und ähnliche Clips jedoch keine Seltenheit sind21 und beispielsweise von Aktionisten aus Wien als Mittel zur Revolte gedreht wurden, wissen in der heutigen Zeit die wenigsten.22 Auch wurden bereits 1976 im Kinofilm „Die 120 Tage von Sodom“ die „Grenzen des Darstellbaren“23 ausgelotet, indem der Film Sklaven, die ihre Exkremente essen mussten, zeigte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum sich nicht bereits damals das Interesse an Grausigem und Ekelhaften stärker forcierte. Dieser Umstand lässt sich unter anderem damit deuten, dass mit einer Zunahme von Themen grausamer und gewalttätiger Natur gleichzeitig eine kontinuierliche Abstumpfung und Verrohung beim Zuschauer nachgewiesen werden konnte.24 Auch auf dem Buchmarkt lässt sich dieser Trend, sogar in gesteigerter Form, nachweisen: So hält Frédéric Beigbender, der mit seinem 9/11-Roman „Windows on the World“ 2003 ganz bewusst provozieren möchte, fest, dass „[h]‌eute die Bücher weiter gehen [müssen] als das Fernsehen. Sie müssen das Unsichtbare zeigen, das Unsagbare sagen.“25

Auch der Debütroman „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche war 2008 ein Bestseller,26 obwohl, wie Marcel Reich-Ranicki noch im selben Jahr zusammenfasst, das „Buch […] völlig literarisch wertlos ist, [es] sehr ekelhaft und widerlich ist“27 und er auch nicht verstehen könne, „warum das so viel und so oft verkauft wurde“.28 Ähnlich wie im Kriminalroman steigert sich auch in dieser Erzählung die Handlung – nur nicht mehr auf der Gewalt-, sondern auf der Ekelebene. Roche bedient sich hierzu einer Textstrategie, die den Leser zum Voyeur werden und diesen unmittelbar an privaten wie auch intimen Handlungen und Verhaltensweisen teilhaben lässt.29 Statt Spuren und Fingerabdrücken werden Gerüche von Körperausscheidungen und Geschlechtsorganen geprüft; der Erfolg des Buches gründet sich in einem stetigen „Weiter-Lesen-Müssen“, wie es auch beim Kriminalroman der Fall ist. Den Mörder findet man bei einer derartigen Lektüre zwar nicht; allerdings scheint es ebenso interessant, herauszufinden, wann der Gipfel der Ekeldarstellung erreicht ist.30 Die Wahl der Erzählsituation generiert eine

auf Intimität basierende Kommunikationssituation zwischen der Erzählerin und dem Leser […], die sich textimmanent in den Sitzungen der Protagonistin und ihrer Psychotherapeutin spiegelt. Sexualität […] erweist sich buchstäblich als ›Seelenstriptease mit therapeutischer Wirkung‹, wobei der Leser Therapeut und Patient in einer Person ist.31

Ähnlich wie es auch beim Protagonisten des Schaefer’schen Hauptwerks der Fall ist, hat auch in diesem Roman Sexualität „etwas Zwanghaft-Technisches“32 und verweist gleichzeitig auf tieferliegende Probleme psychischer Natur. Roche begibt sich mit ihrem Bestseller, der bei genauerer Analyse deutlich mehr als ein Trivialroman ist33 somit nicht auf völlig neues Terrain, sondern folgt vielmehr der Tradition, unter anderem beispielsweise Elfriede Jelineks, deren „Klavierspielerin“ bereits 1983 als Skandal galt.34 Auch die Verfilmung der beiden Werke stieß auf großen Anklang beim deutschen wie auch österreichischen Publikum. So verzeichnete beispielsweise der Spielfilm zum Roman „Feuchtgebiete“ mehr als eine Million Besucher.35

Tatsache ist zudem, dass sich die Interessensverschiebung hin zum Ekelhaften auch wirtschaftlich bzw. marktstrategisch auszahlt: Während die Bevölkerung aufgrund zunehmender Katastrophen, Unglücke und Missstände immer weiter zu verrohen droht, ist beim Phänomen Ekel genau das Gegenteil zu beobachten. Mit steigender Modernisierung und Industrialisierung geht auch ein wachsendes Hygienebedürfnis einher.36 Während Säuglinge in den 50er Jahren noch auf dem elterlichen Bauernhof im Dreck wühlen durften, da sie sich, wie auch Freud postulierte, keiner Grenze zwischen sauber und schmutzig bewusst sind,37 werden heutzutage Babys bereits von Beginn ihres Lebens an38 ein bis zweimal die Woche39 gebadet und Flaschen, Schnuller und Beißringe sorgfältig sterilisiert. Doch nicht nur die Pflege der Nachkommen wandelt sich, auch der erwachsene Mensch wäscht, pudert und deodoriert Gerüche weg,40 die zu Napoleons Zeit noch als attraktiv und erotisch angesehen wurden. Ihren Anfang nimmt diese „Periode der Bazillenfurcht“41, wie Hans Deutsch-Renner diese Entwicklung treffend bezeichnet, in der Entdeckung „gesundheitsgefährliche[r]‌ Kleinlebenwesen“42 um das Jahr 1850 herum. Das Bewusstsein, möglicherweise aufgrund eines Übermaßes an Keimen, Bakterien oder Viren erkranken zu können, potenzierte das persönliche Streben nach Reinheit und änderte gleichzeitig auch den Gebrauch wie die Verwendung von Nahrungsmitteln.43

Obwohl dieser Bereich in Schaefers Werk nur am Rande thematisiert wird, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass sich auch der Konsum bestimmter Speisen und Gerichte im Laufe der Jahre immer zunehmender veränderte. Einen Bären oder Biber zu essen, kann sich in der heutigen Zeit niemand mehr vorstellen44 und Pferdefleischskandale der letzten Jahre beweisen, dass, möglicherweise aufgrund emotionaler Verbundenheit zu dem Tier,45 auch Pferdefleisch häufig nicht als appetitlich und lecker empfunden wird; meist vor allem dann, wenn selbiges unbewusst konsumiert wird.46 Während ein französisches Kochbuch im Jahre 1739 noch auf verschiedene Zubereitungsmöglichkeiten von Därmen, Kutteln, Hirn und Rindermagen verweist, und um 1800 der Verzehr von in der Mitte geteilten Kalbsaugen als höchst schmackhaft angepriesen wird, ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine wachsende Abneigung gegen den willentlichen Genuss all dieser Konsumgüter zu verzeichnen.47 Mit in diese Kategorie fällt auch der Trend der Lebensmittelindustrie, sich bei der Produktion von Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs immer zunehmender verschiedener Formen und Farben zu bedienen, sodass der Endverbraucher so wenig wie möglich an die tierische Herkunft der Speise erinnert wird.48

Gleichzeitig ist im Kontext des persönlichen Ekelempfindens auch eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten, die mit einer besonderen Form von Voyeurismus49 einhergeht. Diese kann immer dann beobachtet werden, sofern andere Personen Reizen und/oder Situationen, die bei eigenem Kontakt Abscheu hervorrufen würden, ausgesetzt sind. Diese Schlussfolgerung hat sich auch das durchaus erfolgreiche RTL-Format50 „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“ zu Nutze gemacht und lässt neben Bädern in verdorbenen Fischabfällen, Kakerlaken oder Spinnen den Zuschauer auch an Mahlzeiten teilhaben, die für den europäischen Gaumen weder ansprechend noch wohlschmeckend sind. Auch hier ist die bereits erwähnte Spannungssteigerung, wann wohl der Gipfel des Ekelhaften erreicht zu sein scheint, nachzuweisen.51

Durchaus aktuell in den Bereich des Kunst- und Kulturbetriebes rund um das Thema Ekel reiht sich das am 28.06.2021 gegründete „Disgusting Food Museum“ in Berlin52, dessen „Team of Disgust“53 mit Slogans wie „Ekel macht Spass“,54 „Disgust to go“55 und „Teile deinen Ekel mit uns!“56 wirbt:

Unser Museum präsentiert über 90 außergewöhnliche Food-Exponate aus der ganzen Welt wie Bullenpenis, gegrillten Hund, Kuhblut oder Surströmming. Ekel verbindet unterschiedliche Kulturen. Prüfe deinen guten Geschmack, und finde heraus, was für ein Ekel-Typ du bist!57

Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich Heinrich Schaefer 1911 in seinem Roman „Gefangenschaft“ mit einem Phänomen beschäftigt, das über die Jahrhunderte hinweg eine zeitliche Kontinuität bis zum heutigen Tage hat. Die Emotion des Ekels kann als aktuelles wie auch historisches und häufig auch stark subjektives Konzept verstanden werden, das den Menschen im Innersten erfasst.


15 Titel eines Zeitungsartikels vom 23.07.2008. (Vgl. Heine, Matthias: Die neue alte Lust am Ekelhaften. https://www.welt.de/kultur/article2241356/Die-neue-alte-Lust-am-Ekelhaften.html (28.10.2017). S. 1).

16 Vgl. Filmförderungsanstalt. German Federal Film Board: Filmgenres 2010 bis 2011. Eine Auswertung zum Genreangebot in deutschen Kinos und zur Genrevielfalt deutscher Filme. http://www.ffa.de/filmgenres-2010-bis-2011-eine-auswertung-zum-genreangebot-in-deutschen-kinos-und-zur-genrevielfalt-deutscher-filme.html (10.10.2017).

17 Bis zum Jahr 2014 verkaufte sich das Buch über 100 Millionen Mal. (Vgl. u. a.: Applebaum, Stuart: „Fifty Shades“. 100 Millionen verkaufte Bücher. https://www.bertelsmann.de/news-und-media/nachrichten/fifty-shades-100-millionen-verkaufte-buecher.jsp (10.11.2017)).

18 Nach dem Erscheinen von E.L. James’ Fifty Shades of Grey im Jahr 2015 hat der Buchmarkt eine wahre Flut von erotischen Bestsellern erlebt. Lesepublikum: heterosexuelle Frauen in festen Beziehungen; überdurchschnittlichen Bildungsniveau; Alter: 20–40 Jahre.

Ergebnisse einer Online-Studie zum Thema „Lesepublikum erotischer Romane“ des Max-Planck-Instituts. (Vgl. Kraxenberger, Maria u. Knoop A. Christine, Menninghaus, Winfried: Who reads contemporary erotic novels and why? In: Humanities & Social Sciences Communication 96 (2021) H. 8. o. S.).

19 O. A.: 2 girls 1 cup. https://2girls1cup.ca/ (06.10.2018).

20 Der Suchbegriff „2 girls 1 cup reaction“ liefert bei der Google-Video-Suche etwa 20.000.000 Ergebnisse (Stand Juni 2022); (934.000 Ergebnisse; Stand September 2021); (803.000 Ergebnisse; Stand März 2021); (776.000 Ergebnisse; Stand Oktober 2018).

21 Auch Freud thematisierte bereits 1905 das Phänomen des „Kotlecken[s]‌“. (Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 9., unveränderte Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2007. S. 63).

22 Vgl. Heine, Matthias: Die neue alte Lust am Ekelhaften. S. 2.

23 Volk, Stefan: Brechreiz bundesweit. Skandalfilm „Die 120 Tage von Sodom“. http://www.spiegel.de/einestages/pasolinis-skandalfilm-salo-oder-die-120-tage-von- sodom-a-1073759.html (10.11.2017).

Vgl. Friedrich, Hans-Edwin: Pornographie in der deutschsprachigen Literatur. Problemaufriss und Forschungsperspektiven. In: Pornographie in der deutschen Literatur. Texte, Themen, Institutionen. Hrsg. von Hans-Edwin Friedrich, Sven Hanuschek u. Christoph Rauen. München: Belleville Verlag 2016. S. 277–378. S. 281; 290.

24 Vgl. Heine, Matthias: Die neue alte Lust am Ekelhaften. S. 2 f.

25 Beigbeder, Frédéric: Windows on the World. Berlin: Ullstein 2005.

26 Es war das erste deutsche Buch, das es an die Spitze der internationalen Bestsellerliste bei Amazon geschafft hat. (Vgl. Bartel, Heike: Porn or PorNO: Approaches to Pornography in Elfriede Jelinek’s Lust and Charlotte Roche’s Feuchtgebiete. In: German Text Crimes. Writers Accused, from the 1950s to the 2000s. Hrsg. von Tom Cheesman. Amsterdam, New York: Rodopi 2013 (= German Monitor 77). S. 99–124. S. 99).

Details

Seiten
386
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631905517
ISBN (ePUB)
9783631905524
ISBN (Hardcover)
9783631905500
DOI
10.3726/b21305
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Februar)
Schlagworte
Ekelmotiv Mischehe Judenverfolgung Abnormes Hässliches Aversives Fetisch Paraphilie Koprophilie Expressionismus
Erschienen
Peter Lang – Berlin · Bruxelles · Chennai · Lausanne · New York · Oxford, 2024. 386 S., 49 farb. Abb., 21 S/W-Abb., 6 Tab.

Biographische Angaben

Corinna Roider (Autor:in)

Corinna Roider studierte Germanistik und Katholische Theologie an der Universität Regensburg. Dort hat sie auch als studentische sowie wissenschaftliche Hilfskraft gearbeitet und promoviert. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende, des Expressionismus und der Frühen Moderne. Die Autorin arbeitet als Studienrätin an einem Gymnasium in Cham.

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