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Die kosmische Mission des Erlösers

Zu den exegetischen und soteriologischen Ansätzen von Aleksandr Men’ (1935–1990)

von Alena Kharko (Autor:in)
©2023 Dissertation 280 Seiten

Zusammenfassung

Aleksandr Men’ (1935–1990) gilt als einer der bedeutendsten orthodoxen russischsprachigen Theologen des 20. Jahrhunderts, jedoch wurde sein Konzept einer theologischen Erlösungslehre bisher nicht systematisch untersucht. Bei der Entwicklung seiner theologischen Ideen beteiligt sich Men’ einerseits an den orthodoxen Debatten um eine Auslegung der Erlösungstat Jesu Christi. Andererseits lässt sich aber in seinem Werk auch eine intensive Auseinandersetzung mit der westlichen (vor allem der protestantischen) Exegese nachweisen. Die Autorin nutzt einen innovativen methodischen Ansatz, der in der bisherigen Forschung zu seiner Person und seinem theologischen Denken wenig beachtet wurde. Es handelt sich dabei um eine Systematisierung von Men’s Beschäftigung mit den Fragen und Themen, die die orthodoxe Theologie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Damit wird Men’s kritisches Gespräch mit den theologischen Entwürfen in Ost und West rekonstruiert und das eigenständige Konzept seiner orthodoxen Erlösungslehre innerhalb einer gesamteuropäischen christlichen Theologie verdeutlicht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • FM Epigraph
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Aleksandr Men’ in der bisherigen Forschung
  • 1.2. Eigene Forschungsperspektive
  • 1.2.1. Die „verborgenen Leistungen“ der russischen theologischen Wissenschaft
  • 1.2.2. Soteriologische Debatten um 1900
  • 1.2.3. Die Quellen und die Vorgehensweise
  • 1.3. Technisches Vorwort
  • 2. Die Genealogie zu Men’s Umgang mit der Heiligen Schrift
  • 2.1. Die russische orthodoxe Bibelwissenschaft von den 1860er Jahren bis ins 20. Jahrhundert
  • 2.1.1. Die russische orthodoxe Schule
  • 2.1.2. Die russische biblisch-historische Schule
  • 2.2. Die Bibelwissenschaft im Protestantismus (19.–20. Jahrhundert)
  • 2.2.1. Die westliche liberale Exegese im 19. und 20. Jahrhundert
  • 2.2.2. Die „Rückkehr zur Tradition“
  • 2.3. Die Bibelwissenschaft im Katholizismus (19.–20. Jahrhundert)
  • 2.4. Die „zweieinheitliche“ Methode als Auswahlkriterium für literarische Quellen
  • 3. Das Entmythologisierungskonzept
  • 3.1. Die Frage nach der weiteren Systematisierung
  • 3.1.1. Zum Begriff „Entmythologisierung“
  • 3.1.2. Die Grundprämisse der Entmythologisierung
  • 3.2. Die Genealogie zu Men’s Methode der Entmythologisierung
  • 3.2.1. Der Ausgangspunkt: Mythos-Kategorisierung
  • 3.2.2. Mythosauffassung nach Friedrich W. J. Schelling
  • 3.2.3. Mythos und Entmythologisierung in der russischen biblisch-historischen Schule
  • 3.2.3.1. „Orthodoxe Auslegung“ des Mythos in der Bibel
  • 3.2.3.2. Anfänge der Entmythologisierung im russischen Denken
  • 3.3. Exegetische Grundprinzipien vor dem Hintergrund der Entmythologisierung
  • 3.3.1. Der „zweieinheitliche“ Zugang zur Schrift – der „zweieinheitliche“ Charakter der Bibel
  • 3.3.2. Der Mythos
  • 3.3.3. Mythologische Symbole
  • 3.4. Auseinandersetzung mit Rudolf K. Bultmanns Entmythologisierung
  • 3.5. Zwischenfazit
  • 4. Biblische Christologie
  • 4.1. Die Frage nach einer weiteren Systematisierung
  • 4.2. Entmythologisierung des Evangeliums
  • 4.2.1. Die Genealogie der Methode
  • 4.2.1.1. Die mythischen Elemente im Evangelium
  • 4.2.1.2. Auseinandersetzung mit der „eschatologischen“ Schule
  • 4.2.1.3. Sergej Trubeckojs Vorwegnahme des Konzepts der „realisierten Eschatologie“
  • 4.2.1.4. Charles Dodds Konzept der „realisierten Eschatologie“ in Men’s Schriften
  • 4.2.2. Exegetische Grundprämissen vor dem Hintergrund der „realisierten Eschatologie“
  • 4.3. Einzelne Aspekte der biblischen Christologie
  • 4.3.1. Der weitere Verlauf der systematischen Darlegung
  • 4.3.2. Der historische Jesus und der Christus des Kerygmas
  • 4.3.3. Paulus’ Lehre über die zwei Adame
  • 4.4. Zwischenbilanz zu Men’s exegetischen Ansätzen
  • 5. Das Evolutionskonzept
  • 5.1. Der weitere Verlauf der systematischen Darlegung
  • 5.2. Das religiöse Konzept der Evolution
  • 5.2.1. Die Quelle und das Prinzip der Schöpfung
  • 5.2.1.1. Die Schöpfung als Gottes Entäußerung
  • 5.2.1.2. Geistige Katastrophe: Entstehung des Chaos
  • 5.2.1.3. Die Überwindung des Chaos durch die schöpferischen Kräfte des Logos
  • 5.2.2. Drei Grundphasen der Schöpfung
  • 5.2.2.1. Die Phase der Materie
  • 5.2.2.2. Die Phase der Biosphäre
  • 5.2.2.3. Die Phase der Noosphäre
  • 5.3. Die Kosmologie in der biblischen Mythologie
  • 6. Zu den einzelnen anthropologischen und soteriologischen Ansätzen
  • 6.1. Anthropologische Ansätze
  • 6.1.1. Struktur des Menschen: Körper, Seele, Geist
  • 6.1.2. Geist im Menschen: Eigenschaften der Person
  • 6.1.3. Der Ursprung der Sünde
  • 6.1.3.1. Der biblische Adam
  • 6.1.3.2. Der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“
  • 6.1.3.3. Die Folgen des Sündenfalls
  • 6.1.4. Die Entstehung der Religion
  • 6.2. Soteriologische Ansätze
  • 6.2.1. Die Theosis-Idee als Grundprämisse der orthodoxen Soteriologie
  • 6.2.2. Das „Ertragen des Leidens“
  • 6.2.3. Die „Befreiung“ und die „Einverleibung in das Eigentum Gottes“
  • 6.3. Zwischenbilanz zum Konzept der „kosmischen Mission des Erlösers“
  • 7. Schluss
  • 8. Literaturverzeichnis
  • 8.1. Quellen
  • 8.1.1. In russischer Sprache
  • 8.1.2. In Übersetzung
  • 8.2. Sekundärliteratur
  • 8.2.1. In russischer Sprache
  • 8.2.2. In anderen Sprachen
  • Series Index

1. Einleitung

1.1. Aleksandr Men’ in der bisherigen Forschung

Der Name des russisch-orthodoxen Erzpriesters Aleksandr Men’ (22. Januar 1935 – 9. September 1990) ist weithin bekannt, sowohl in Russland als auch über dessen Landesgrenzen hinaus. Seit seinem gewaltsamen Tod wird fortwährend über seine Person, seine seelsorgerische Tätigkeit und sein theologisches Erbe geschrieben. Dabei tritt eine nicht zu übersehende Tendenz hervor: Wird in Russland die Betonung daraufgelegt, Men’s theologisches Gedankengut der Theologie einer liberalen Richtung zuzuschreiben und ihn somit gewissermaßen an den Rand der Orthodoxie zu verweisen, finden im Ausland vor allem seine Person und seine theologische Lehre breites Interesse. Das ist nicht zuletzt mit seiner offenen Haltung der Ökumene gegenüber verbunden, gleichwohl aber auch mit dem offenkundigen Wunsch, seine Theologie der offiziellen Position der Russischen Orthodoxen Kirche entgegenzusetzen.

Trotz unterschiedlicher Haltungen zur Person und zur Tätigkeit Men’s, zu seinen Lebzeiten ebenso wie nach seinem Tod, und ungeachtet der Vielfältigkeit und großen Anzahl seiner Schriften wurde bis jetzt kein Versuch unternommen, die theologischen Ansichten Aleksandr Men’s einer systematischen Einordnung zu unterziehen.2 Obwohl die Durchführung einer solchen Arbeit durchaus bereits angeregt wurde,3 wurde gleichzeitig betont, dass dieses Prozedere sehr viel Zeit und Aufwand in Anspruch nehmen würde.4

Dass zu seiner Theologie so wenige Forschungsstudien entstanden, könnte wohl auch damit zusammenhängen, dass Aleksandr Men’ selbst mit seinen theologischen Überlegungen keinen wissenschaftlichen Anspruch erhob, sondern diese für die Evangelisierung seiner Zeitgenossen gedacht waren. Es war sein Bemühen, gerade auch in einer Zeit des Umbruchs einfache Antworten auf Fragen des Glaubens und des Lebens zu geben. Viele Schriften und Texte tragen dadurch einen scheinbar unkritischen, unwissenschaftlichen und publizistischen Charakter.5

Wie die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit jedoch zeigen werden, bietet das theologische Denken von Aleksandr Men’ einen originellen und umfangreichen Beitrag zur Theologie der orthodoxen Kirchen. Um dies zu zeigen, wird sein theologisches Denken in dieser Arbeit systematisch eingeordnet und ein zusammenhängendes Konzept seiner Ansichten vorgelegt.

Gleichzeitig ist es in der Tat schwer, einen klaren Schwerpunkt im theologischen Denken von Aleksandr Men’ auszumachen. In den Themen seiner Schriften verschränken sich unterschiedliche Bereiche der Theologie wie etwa Exegese, Bibelwissenschaft in Russland, Christologie, Anthropologie, Soteriologie, Ekklesiologie oder Religionsgeschichte. Ebenso setzte Men’ sich mit Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Staat oder Kirche und Gesellschaft auseinander.6 Diese Vielfalt bildet eine enorme Herausforderung für eine systematische Darlegung.

Gewiss prägt die Vielfalt der von Men’ behandelten Fragen und Themen die unterschiedlichen Zugänge und Betrachtungsweisen, die in den wenigen Monographien, aber zahlreichen kurzen Publikationen zu seiner Theologie verfolgt werden. Darum wird ein differenzierter Überblick über die Betrachtungsperspektiven zur Systematisierung von Men’s Gedankengut die folgende Darstellung der bisherigen Forschung bestimmen.

Werden die unterschiedlichen Darstellungen über Aleksandr Men’ zusammengestellt, so erscheint eine vielfältige Palette von Wahrnehmungen dieser Figur. Viele sehen ihn als einen moralischen bzw. geistlichen Führer zur Zeit der sozial-politischen Umbrüche in der damaligen Sowjetunion.7 Andere stellen ihn als einen großen Missionar dar;8 dabei wird die Einschätzung Men’s oft als eines Missionars für die Intelligenzija präzisiert.9 Manchmal kommt der orthodoxe Erzpriester als ein Zionist vor.10 Außerdem wird Men’, vor allem in Russland, gerne der liberalen Richtung der russischen Orthodoxie zugeordnet.11 Ferner hält man ihn für einen authentisch orthodoxen Theologen12 und bezeichnet ihn als einen „kirchlichen Wissenschaftler“.13 Für einige gilt er bereits als Märtyrer14 und Heiliger.15

Beachtenswert ist dabei folgende Tatsache: Die Ansätze zur Systematisierung von Men’s theologischem Gedankengut, die in den Einzeluntersuchungen und wenigen Monographien zu seinem Werk und zur Person verfolgt werden, bestimmen das Bild des russischen Theologen. Dabei gibt es die unverkennbare Tendenz, die Theologie Men’s vor dem Hintergrund der atheistischen Ideologie im Sowjetstaat zu betrachten.

April L. French vergleicht einige Schriften Men’s16 mit den Publikationen der führenden Väter der atheistischen Propaganda17 und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine deutliche historische Kollision zwischen Men’s Schriften und der Staatsideologie hervortritt.18 Sie stuft seine theologischen, seelsorgerischen und apologetischen Schriften „als offensichtliche Formen des politischen und intellektuellen Andersdenkens“ ein.19 Im Einzelnen werden dabei zwei Modi des Andersdenkens in Men’s Schriften erkannt: der direkte Modus einerseits und der indirekte Modus andererseits. French meint, Men’ biete seinen Lesern in seinen Werken „Syn Čelovečeskij“ (Der Menschensohn) und „Kak čitat’ Bibliju?“ (Wie wird die Bibel gelesen?) eine alternative Sicht der atheistischen Theorien wie etwa denen vom Christus-Mythos, von der historischen Unglaubwürdigkeit der Evangelien und der Verneinung von Gottes Inspiration der Bibel. In „Mif ili dejstvitel’nost’?“ (Mythos oder Wirklichkeit?) dementiert er diese Theorien schon offen.20

Denselben Ansatz – das theologische Erbe von Aleksandr Men’ als Konfrontation mit der atheistischen Propaganda zu sehen – verfolgt der polnische Theologe Tadeusz Pikus.21 Pikus zählt Men’ zu den herausragenden Apologeten des Glaubens an Christus im 20. Jahrhundert und sieht in seinem theologischen Werk eine große Errungenschaft für den Bereich der Glaubensverkündigung.22

In weiteren Publikationen nicht-orthodoxer Autoren wird Men’ als ein der Ökumene gegenüber offener orthodoxer Theologe dargestellt.23 Eine Erklärung findet ebenso das Interesse für sein Werk und seine Person: Zum einen werde man dadurch mit der „immer näher rückenden Welt der Orthodoxie“24 vertraut, zum anderen sei seine Theologie frei von einer „exklusive[n] und abgrenzende[n] Haltung“.25

Zudem gibt es die deutliche Tendenz, Men’s vergleichsweise offene Haltung gegenüber anderen Konfessionen der offiziellen Linie der Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche gegenüberzustellen.26 Seine Offenheit gegenüber der europäischen Kultur wird dabei den ultranationalistischen Stimmungen in der ROK während der Zeit der Perestroika entgegengesetzt.27 Im Übrigen wird festgestellt, dass Men’s ökumenische Haltung „nicht auf den gesellschaftlichen oder kirchlichen Kontext zurückgeführt werden“ kann; somit ist die Ökumene für ihn „eine Implikation seines theologischen Ansatzes und zugleich eine logische Folge seines Denkens“.28 Ebenfalls wird ihm seitens der russischen Orthodoxie eine unangemessene Haltung gegenüber nicht-orthodoxen Konfessionen und eine Widerspiegelung katholischer und protestantischer Theologie in seiner Arbeit vorgeworfen.29

So bewegte vielleicht die offene Haltung des orthodoxen Theologen Men’ gegenüber der Ökumene und anderen christlichen Konfessionen Arturas Lukasevicius dazu, Men’s Schriften zur Geschichte der vorchristlichen Religionen im Lichte von Dominus Iesus – über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, einer Erklärung der Glaubenskongregation der römisch-katholischen Kirche aus dem Jahre 2000, zu erläutern. Ergebnis dieses Vergleichs ist für Lukasevicius, dass die Ideen, die sich im offiziellen römisch-katholischen Dokument finden, von Aleksandr Men’ bereits Jahrzehnte früher gedacht und beschrieben wurden.30

Als weniger euphorisch könnten die Forschungsergebnisse der polnischen Autorin Anna Gąsior bezeichnet werden, die sich mit Men’s ekklesiologischen Ansätzen eingehender auseinandergesetzt hat.31 Nach ausführlicher Textanalyse mehrerer Schriften von Men’ hält Gąsior jedoch einen Zusammenhang zwischen seiner Christologie und seiner Ekklesiologie für unzureichend bedacht, ebenso wie eine Beziehung zwischen der Heiligkeit des einzelnen Gläubigen und der Heiligkeit der Kirche.32 Nur flüchtig sei von Men’ auch die Frage nach der kirchlichen Hierarchie behandelt worden, unter anderem nach der Position und der Rolle der Bischöfe. Indem Men’ den Fokus auf die praktische Seite der Ökumene setze, werde bei ihm, so Gąsior, die Problematik um den ökumenischen Dialog und die Einheit der Kirche insgesamt erheblich relativiert.33 Ähnlich sieht Konstantin Kostjuk in Men’s Ansichten eine Art „Verschmelzung der Orthodoxie in ein abstraktes Christentum, und Russlands in einen universellen Kosmopolitismus“.34

An einem Punkt überschneiden sich die Ansichten der genannten Autoren deutlich: Die Wurzeln für Men’s Offenheit anderen Konfessionen und Religionen gegenüber gehen auf die Anhänger der russischen religiösen Philosophie wie etwa Vladimir Solov’ёv (1853–1900), Semёn Frank (1877–1950), Sergej Trubeckoj (1862–1905), Nikolaj Berdjaev (1874–1948) und Sergij Bulgakov (1871–1944) zurück.35 Darüber hinaus sind weitere Tendenzen in den Publikationen zur Person und zum Werk Men’s unübersehbar: Zum einen die Betrachtung seiner theologischen Überlegungen aus der Perspektive der russischen Religionsphilosophie und zum anderen die Neigung, Aleksandr Men’ beinahe ausschließlich als Anhänger und Teil dieser Richtung darzustellen.

Dabei gilt er in erster Linie als konsequenter Nachfolger von Vladimir Solov’ёv. Von Beginn an soll Solov’ёv Men’s intellektuellen Werdegang geprägt haben.36 Dem folgend habe Men’ Solov’ёvs Idee über die Einheit der Menschheit in ihrer Suche nach Gott geteilt, ebenso wie dessen Gedanken über die Einheit der Kirche, deren Verwirklichung in der Ökumene erforderlich sei.37 Eine gewisse Parallele wird auch zwischen Men’ und den Vertretern der russischen religiösen Philosophie bei der Auslegung der Frage nach dem jüdisch-christlichen Verhältnis erkannt:

[…] like Frank, Soloviev, and Karsavin, Men shows that it is possible to embrace a realist theology of Christianity while still having a manifold sensitivity for the humanity of those who have chosen a different path.38

Des Weiteren wird betont, dass Men’ Ende der achtziger Jahre auf die Rückkehr zum russischen religiösen Denken verwiesen habe, um eine neue Grundlage und einen Rahmen für einen neuen Weg Russlands zu bieten39 und somit zur Überwindung der bestehenden Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft beizutragen.40

Men’s Nachfolger verweisen ihrerseits auf einen weiteren Aspekt in seinem Gedankengut, der dieser Linie folgt, nämlich, dass die Grundvoraussetzung für seine Auffassung von der Menschenwürde ebenfalls in der Tradition des russischen philosophischen Denkens verankert ist:

Die Verbindung mit (bedingt gesagt) Solov’ёvs’ Tradition des russischen philosophischen Denkens äußerte sich in erster Linie darin, dass die theozentrische und christozentrische Weltsicht für Vater Aleksandr die Grundvoraussetzung für seine Auffassung der Menschwürde wurde. Der Mensch, der Träger des „Bildes Gottes in seiner Ähnlichkeit“ [nositel’ „obraza kak podobija“, Herv. i. O.], ist im Inneren unversiegbar. Der Mensch verfügt über einen unsagbaren und unbeschreiblichen (apophatischen) Kern, der sich in breiter Vielfalt in den Interaktionen mit der realen Welt realisiert. Überdies entfaltet sich der geheimnisvolle Kern des Menschen durch diese vielfältigen Interaktionen – mit der Natur, der Kultur und der Geschichte.41

Somit bekam Men’ eine weitere Zuschreibung: „christlicher Personalist“.42 Indem Men’ von dem Postulat ausging: „Die innere Welt des Menschen ist grenzenlos vielfältig in ihren Möglichkeiten, denn er ist der Träger von Gottes Bild und Ähnlichkeit“, folgte er unverkennbar V. Solov’ёv, N. Berdjaev, S. Bulgakov, G. Fedotov, P. Teilhard de Chardin und E. Mounier.43

Außerdem wird auf einen weiteren Aspekt verwiesen, den Men’ von seinen Vorgängern übernommen und konsequent weiterentwickelt habe, nämlich eine Synthese von Glauben und Wissenschaft:

[…] il [Men’] s’ est appuyé sur l’unité profonde existant entre la tradition religieuse chrétienne et les recherches de la pensée contemporaine, philosophique, scientifique et sociale, unité qui, pour la première fois, s’ est manifestée dans l’œuvre de Vladimir Soloviev et des penseurs religieux qui lui ont succédé.44

Des Weiteren wird angemerkt, dass sich Aleksandr Men’ genauso wie sein Zeitgenosse Aleksandr Solženicyn auf die russische religiöse Philosophie (unter anderem von Nikolaj Berdjaev) und ihre Kritik an der sowjetischen Ideologie bezogen habe.45

Allerdings merken einige von Men’s Nachfolgern an, dass mehrere Ideen der russischen Religionsphilosophie keinerlei Widerhall in seinem Denken fanden:

Man kann annehmen, dass Solov’ёv sein Lehrer war, obwohl seine zentralen Ideen – die „Sophia“ als Mittelpunkt der kosmischen Alleinheit, die „Theokratie“ oder die Idee von einer „gescheiterten“ Geschichte aus seiner letzten Schaffensphase – von Men’ verworfen wurden. […] Wie bei Teilhard – es wird gefragt: Ist es nicht bei ihm [Men’] zu viel an Evolutionismus? Dies ist aber nicht grundlegend. Das Wesentliche besteht darin, dass es einen kraftvollen Anziehungspunkt im geistigen Lauf der Welt gibt: Christus, zu dem sich früher oder später alles ausrichten wird, das nach der höchsten Wahrheit verlangt. Oder Nikolaj Berdjaev, ein Rebell und ein „Ritter der Freiheit“, Men’ fühlt sich nicht befangen, ihn sowohl als nicht-kirchlich als auch als asozial zu bezeichnen. Bei dem Gegner des Massenbewusstseins fand Men’ die erhabene Erkenntnis über die Person und schöpferische Bestimmung der Christen.46

Details

Seiten
280
Jahr
2023
ISBN (ePUB)
9783631912157
ISBN (PDF)
9783631912140
ISBN (Hardcover)
9783631912133
DOI
10.3726/b21433
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (November)
Schlagworte
Aleksandr Men’ Russische orthodoxe Theologie russische religiöse Philosophie Ostkirchenkunde Akademietheologie Bibelwissenschaft liberale Exegese Soteriologie Erlösungslehre Entmythologisierung Mythos Evolution
Erschienen
Berlin - Bruxelles - Chennai - Lausanne - New York - Oxford, 2023. 280 S.

Biographische Angaben

Alena Kharko (Autor:in)

Alena Kharko studierte Orthodoxe Theologie in Minsk (Belarus). Mit der vorliegenden Arbeit promovierte sie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Derzeit ist sie als Dolmetscherin freiberuflich tätig.

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