Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90
Stimmen
Zusammenfassung
Der vorliegende Band ist Ergebnis einer ethnografischen Bestandsaufnahme zur Wahrnehmung und Aufarbeitung biografischer Entwertung in Ostdeutschland seit 1989/90. Ausgangspunkt bildet die AGIO-Studie von 2017, die ohne repräsentative Daten und statistische Bilanzen geblieben ist. Der leere Fragenkatalog imaginiert auf seine Weise die abwesenden Antworten und symbolisiert die ostdeutschen Stimmen, die nie zu Wort kamen. Ergänzt wird der Katalog durch eine Auswahl an Leserbriefen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Umschlag
- Schmutztitel
- Titelseite
- Copyright-Seite
- Widmung
- Epigraf
- Reihenseite
- Inhalt
- A/: Bestandsaufnahme der Entkopplung: Der „Osten“ als blinder Fleck der „deutschen Einheit“
- 1. Gesellschaftsumbau und neue Landnahme
- 2. Die „Einheit“ und das Demokratiegeschäft mit Versprechen und Täuschung
- 3. Es gibt kein gesellschaftliches „Wir“ der Einheitswerte
- 4. Fremde im eigenen Land: Eine unsichtbare Migrationsgruppe
- 5. Stigma: Gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit
- 6. „Unsere Demokratie“ schließt die Mentalitäts- und Wertegemeinschaft der DDR-Sozialisierten aus
- 7. Katastrophensoziologisches Szenario
- 8. Die Entkoppelten: Ein intergeneratives Problem
- 9. Antagonistische Mobilitäten: Der vereinigungsbedingte Ost-West-Konflikt
- 10. Von der Zone der Entkopplung (zone beyond the line) zur Diaspora der Entkoppelten
- 11. Kulturkolonialismus und Postdemokratie
- 12. Demokratieraison: Der Siegeszug des Wertewestens im „Osten“
- 13. Die blinden Flecken schlagen zurück: Segregation und Widerstand
- 14. Reset: Katastrophenunterbrechung
- 15. Die Demokratie demokratisieren
- B / AGIO-Studie 2017 Wahrnehmung und Aufarbeitung biografischer Entwertung in Ostdeutschland seit 1989/1990
- Vorwort
- Fragenkatalog
- Nachtrag (2024)
- C / Stimmen Leserbriefe 2017 – 2023 (Auswahl)
- Vorbemerkung (2024)
- Edition E.G.
- Rückseite
Für Janosch Herzl
Dieses Forschungsvorhaben ist das bislang größte Vorhaben im deutschen Sprachraum, das das Nachwendegeschehen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR umfassend und aus dem Blickwinkel ostdeutscher Betroffenheit analysiert.
Entkoppelte Gesellschaft
Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90 Ein soziologisches Laboratorium
Forschungsprogramm und mehrteiliges publizistisches Projekt Initiatorin, Projektleiterin, Herausgeberin: PD Dr. Yana Milev
Gefördert von:
RLS – Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V.
Modrow-Stiftung, Treuhandstiftung der RLS e.V.
ICS – Institute for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule der Künste
AGIO | Gesellschaftsanalyse + Politische Bildung e.V
Eurazon 3000® – Swiss Eurasian Research Institute
Mit freundlicher Unterstützung von:
Prof. Dr. Sigrid Schade, ICS, Zürcher Hochschule der Künste
AOBBME – Institut für Angewandte Raumforschung (IAR)
Unentdecktes Land e.V.
Das Forschungsprogramm „Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90. Ein soziologisches Laboratorium“ erscheint in mehreren Bänden bei Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Berlin.
Inhalt
-
Bestandsaufnahme der Entkopplung: Der „Osten“ als blinder Fleck der „deutschen Einheit“
Das Laboratorium „Ostdeutschland“ als Prototyp einer kulturkolonialen Gesellschaftstransformation
2. Die „Einheit“ und das Demokratiegeschäft mit Versprechen und Täuschung
4. Fremde im eigenen Land: Eine unsichtbare Migrationsgruppe
6. „Unsere Demokratie“ schließt die Mentalitäts- und Wertegemeinschaft der DDR-Sozialisierten aus
9. Antagonistische Mobilitäten: Der vereinigungsbedingte Ost-West-Konflikt
10. Von der Zone der Entkopplung (zone beyond the line) zur Diaspora der Entkoppelten
12. Demokratieraison: Der Siegeszug des Wertewestens im „Osten“
13. Die blinden Flecken schlagen zurück: Segregation und Widerstand
-
Wahrnehmung und Aufarbeitung biografischer Entwertung in Ostdeutschland seit 1989/90
A/ Bestandsaufnahme der Entkopplung: Der „Osten“ als blinder Fleck der „deutschen Einheit“
Das Laboratorium „Ostdeutschland“ als Prototyp einer kulturkolonialen Gesellschaftstransformation
Yana Milev
„Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung erlebte die Einheits- und Marktwirtschaftsmaschinerie mit der Treuhand an der Spitze als systematische Demütigung. Diese Maschinerie fraß, was die Menschen im Osten hatten: das bisherige Leben, ihre Erfahrungen, ihre Selbstachtung. Sie fraß, was in der DDR schlecht gewesen, aber auch, was gut gewesen war; fraß die alten Vorbilder, die Ost-Elite, die Politiker der ersten Wende-Stunde, den staatlich verordneten Antifaschismus, die Autorität der Eltern, das Selbstvertrauen, den Stolz, die Sicherheit. Nicht wenige Menschen aus der gewesenen DDR reagierten und reagieren darauf mit aggressiver Selbstanerkennung, mit Überhebung gegen Ausländer und Flüchtlinge. War das, ist das die Vollendung der Einheit?“ (Heribert Prantl)
1. Gesellschaftsumbau und neue Landnahme
Der Soziologe Klaus Dörre erfasst das Getriebe aktueller globalkapitalistischer Akkumulation im Theorem der „neuen Landnahme“.1 Dieses Theorem verweist einerseits auf die Landnahmen in gesellschaftlichen Binnenräumen und andererseits auf die Beschleunigungs- und Wachstumsproblematik des Globalkapitalismus. Zweitens verweist es auf ein Konstitutionselement des Krieges, wie es bei Carl Schmitt ausgearbeitet wurde. Das klassische kriegskonstitutive Verständnis basiert naturgemäß auf Landnahmen. Jedoch trifft dieses klassische Verständnis nicht mehr den Charakter der Landnahme in der politischen Postmoderne, im Postfordismus und in Zeiten der Demokratisierung und Kreativökonomie. Klaus Dörre liefert mit dem „Neue Landnahme“-Theorem den Übersetzungspunkt, dementsprechend Landnahmen nicht mehr nur Territorien meinen, sondern jede Form von psychoszialer Vereinnahmung. Weiterhin verweist Dörres Theorem auf deren soziale und ökologische Kehrseite, von Pierre Bourdieu im Begriff vom „Elend der Welt“2 und von Franz Schultheis im Begriff der „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“3 zusammengefasst. Das Elend der Welt beschreibt skalierte Kollateralschäden und soziale Tatbestände der Prekarität und Anomie, zu denen infolge von Landnahmen ebenfalls Sinnzusammenbrüche durch Verwerfungen und Entwurzlungen im Alltag zählen. Migration und Mobilität, Transformationskrisen und sozialer Wandel im Allgemeinen machen sich stets an sozialen Ereignissen fest, die einerseits Beschädigungen mit sich bringen und andererseits Überschreibungen. Eine Morphologie sozialer Räume und Habitate ist daher unabdingbares soziologisches Instrument der Sichtbarmachung sozialer Tatsachen. Diese sozialen Tatsachen sind einerseits nicht ohne den Rückprospekt von (neuen) Kriegen sowie (neuen) Kriegsgeschäften zu verstehen und bleiben andererseits ohne die Anerkennung von Vulnerabilität und Resilienz in sozialen Feldern, wie deren subjektive Schicksale zeigen, quantitative Abstrakta.
Meinhard Miegel, der als ein wichtiger Vordenker des deutschen Konservatismus gilt, hat die Legitimationsprobleme eines kapitalistischen Systems schonungslos thematisiert. Die von ihm geforderte Abkehr von der „Wachstumsideologie“ bemüht diese Legitimationsprobleme gerade wegen des „sozialen Kapitalismus“4 Kontinentaleuropas. Der Westen, so Miegel, dürfe sich keine Illusionen machen: „Obsiegt hat nicht sein Wertesystem, sondern seine materielle Überlegenheit. […] Wären vor zwanzig Jahren die Menschen im Westen frei, aber arm, im Osten hingegen gegängelt, aber wohlhabend gewesen – dann hätte vermutlich der Sozialismus gesiegt. Dass er nicht gesiegt hat, lag weniger an seiner Unfreiheit als vielmehr an seiner wirtschaftlichen Ineffizienz. Oder genauer: Wäre er wirtschaftlich effizienter gewesen, hätte er auch freier sein können.“5,6 Dieser kritische sozioökonomische und werteideologische Komplex wird für die hier vorgestellte Auseinandersetzung „Entkoppelte Gesellschaft. Liberalisierung und Widerstand in Ostdeutschland seit 1989/90“ orientierend sein.
Details
- Seiten
- 294
- ISBN (PDF)
- 9783631933695
- ISBN (ePUB)
- 9783631933701
- ISBN (Hardcover)
- 9783631921197
- DOI
- 10.3726/b22673
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2025 (Mai)
- Schlagworte
- biografische Entwertung Aufschwung Ost DDR ethnografische Bestandsaufnahme AGIO-Studie Ostdeutschland Globalisierung
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 294 S., 1 farb. Abb.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG