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Heimat in der postmigrantischen Gesellschaft

Literaturdidaktische Perspektiven

von Renata Behrendt (Band-Herausgeber:in) Söhnke Post (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 244 Seiten

Zusammenfassung

Der Sammelband untersucht den Heimat-Begriff aus philosophischer, linguistischer sowie literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive. Im Zentrum stehen (auto-)fiktionale Texte, die Erfahrungen des Heimatverlustes und der Heimatsuche thematisieren. Die Analysen erschließen die Gesamtheit der individuellen und kollektiven Erfahrungen und zeigen diverse Auffassungen und Vorstellungen von Heimat auf. Eine postmigrantische Gesellschaft steht vor der Aufgabe, eine gemeinsame Heimat für alle zu schaffen. Alle Heimat-Narrative in das kulturelle Gedächtnis zu überführen, ist eine der Voraussetzungen dafür. Im Literaturunterricht kann das Bedeutungsspektrum des Heimat-Begriffes erweitert und die Vielfältigkeit der menschlichen Heimatkonzepte als gleichberechtigt erfahrbar gemacht werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • „Heimat, das wäre eine Wirklichkeit, die wir gemeinsam bewohnen und gestalten“. Multiperspektivische Ansätze zu einer Didaktik der Heimat in der postmigrantischen Gesellschaft (Renata Behrendt & Söhnke Post (Hannover))
  • Teil 1: Heimat in der postmigrantischen Gesellschaft – Perspektiven und Annäherungen
  • Vertrautheit und Ferne. Unterwegs zur Heimat (Alfred Hirsch (Witten-Herdecke))
  • Heimat – worin noch niemand war? (Francesca Vidal (Landau))
  • Heimat als kulturelles Schlüsselwort: Korpuslinguistische Perspektiven (Erla Hallsteinsdóttir (Aarhus) & Tobias Heinz (Kiel))
  • Teil 2: (Auto-)biografische Zugänge zum Heimatdiskurs
  • Gastarbeiter*innen und ihre Kinder. Heimatkonstellationen in den Gedichten von Aras Ören und Elona Beqiraj Ein Essay (Jehona Kicaj (Hannover))
  • Heimat und Zugehörigkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur südosteuropäischer Prägung: Melinda Nadj Abonji und Sandra Gugić (Monika Riedel (Dortmund))
  • Wirre Heimatgefühle der Emigrierten am Beispiel von Emilia Smechowskis Wir Strebermigranten (Karolina Sidowska (Łódź))
  • Teil 3: Heimat – Didaktische Verhandlungen und Thematisierungen im Literaturunterricht
  • Der Postmigrantische Literaturunterricht (Nazli Hodaie (Schwäbisch Gmünd))
  • Narrationen der Unverfügbarkeit – Perspektiven literarästhetisch begründeten interkulturellen Lernens am Beispiel von Saša Stanišićs Herkunft (Carlo Brune (Ludwigsburg))
  • Deutschland als Schwarze Heimat in der postmigrantischen Gegenwartsliteratur. Literaturdidaktik aus rassismuskritischer Perspektive (Martina Kofer (Magdeburg))
  • Be-Heimatung und Ent-Heimatung im Bilderbuch (Michael Penzold (München))
  • Teil 4: Heimat – Bezüge zur Vergangenheit und Zukunft
  • „Heimat“ (2018) intermodal erzählen: Eine Graphic Novel von Nora Krug aus literaturwissenschaftlicher und fachdidaktischer Perspektive (Julia von DallʼArmi (Augsburg))
  • Mnemonische Heimaten. Digitale Verortungen der Holocaust Education im postmigrantischen Zeitalter (Cornelius Herz (Hannover))
  • Reihenübersicht

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Renata Behrendt & Söhnke Post (Hannover)

„Heimat, das wäre eine Wirklichkeit, die wir gemeinsam bewohnen und gestalten“1. Multiperspektivische Ansätze zu einer Didaktik der Heimat in der postmigrantischen Gesellschaft

Ein Familienfoto: Heimat bedeutet unterwegs sein

Das Cover dieses Sammelbandes zeigt ein Bild, das stellvertretend für die Ausrichtung und Schwerpunktsetzung dieser Sammlung von Beiträgen steht. Es wurde 1995 an einem Busbahnhof in Göttingen aufgenommen und zeigt eine Familie kurz vor Beginn der beschwerlichen Reise in den Kosovo. Auf dem Foto sind zu sehen: der Vater, die Mutter und die Schwester von Jehona Kicaj, die auch einen Beitrag zu diesem Sammelband beigesteuert hat. Sie selbst ist das damals vierjährige Mädchen, das auf den Reisetaschen liegt. Die Taschen sind gefüllt mit Lebensmitteln, Drogerieprodukten, Kleidung, Haushaltswaren und Süßigkeiten. Es sind alles Geschenke für die zurückgebliebene Familie, die über die Verwandten in der Fremde einen Teil ihrer Versorgung sicherstellen musste. Der Reisebus fuhr damals von Göttingen nach Prag. Dann ging es mit einem anderen, nicht klimatisierten Bus weiter nach Prishtina. Es waren lange und anstrengende Fahrten. Ausgenommen der Kriegsjahre im Kosovo verbringt die Familie bis heute jeden Sommer dort bei der Verwandtschaft. Es handelt sich um eine wiederkehrende Reise in bzw. durch die Heimat, wie die nahezu lyrische Bildunterschrift vermuten lässt, die Jehona Kicaj Jahre später in einem Instagram-Post hinzugefügt hat. Sie lautet:

Was Heimat für mich bedeutet?

Warten am Busbahnhof, Taschen, gefüllt mit Geschenken für die anderen, die Familie sind. Fahrten, die nicht enden wollen. Verschwommene Landschaften hinter schmutzigen Fensterscheiben. Heimat heißt: Auf dem Weg sein, immer nur auf dem Weg sein. Angekommen bin ich nicht.

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Die Gedanken Kicajs repräsentieren ein charakteristisches Motiv innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft, das viele Menschen beschäftigt. Die Erkundung der eigenen Herkunft, die Frage nach der Zugehörigkeit und das Rätsel der Bedeutung der eigenen Heimat. In Kicajs Ausführungen findet sich ein fluider Heimat-Begriff. Sie beschreibt Heimat als ein Auf dem Weg sein, immer nur auf dem Weg sein. Diese Feststellung lässt sich sowohl auf die regelmäßigen Fahrten zu den Anderen, also den tendenziell Fremden in der Heimat der Eltern, als auch auf eine innere Reise übertragen. Die innere Reise, und das scheint ein prototypisches Schicksal vieler Menschen in einer Einwanderungsgesellschaft zu sein, endet allerdings nie. Ein Ankommen in dem, was hier als Heimat bezeichnet wird, ist offenbar nur schwerlich oder gar nicht möglich. Bemerkenswert ist, dass diese Suche nach der eigenen Heimat und die damit verbundene Zerrissenheit respektive Orientierungslosigkeit nicht auf die so genannte erste Generation von Gastarbeiter*innen und Einwander*innen beschränkt ist. Vielmehr handelt es sich um ein generationsübergreifendes Bedürfnis, das soziale Dynamiken und Prozesse in der postmigrantischen Gesellschaft maßgeblich beeinflusst.

Heimat in der postmigrantischen Gesellschaft

Ende 2019 beteiligte sich der Radiosender Deutschlandfunk Kultur mit einem bemerkenswerten Beitrag an der Debatte um den Heimat-Begriff. In der Sendung mit dem Themenschwerpunkt Heimat – der offene Begriff wurde die Mannigfaltigkeit der Perspektiven aufgezeigt, unter denen Heimat aktuell, auch unter den Vorzeichen einer postmigrantischen Gesellschaft, betrachtet und diskutiert wird (vgl. Metz/Seeßlen 2019). Als am 21.01.2020 der Dudenverlag twitterte: „Heimat hat einen Plural.“ (vgl. Twitter 2020) wurde die Offenheit und Bedeutungsvielfalt des Begriffes institutionell manifestiert. Mit der Pluralbildung hat sich die längst überfällige Anpassung der Sprache an die Wirklichkeit vollzogen. Erst in der Pluralform können die Erfahrungen von Heimatlosigkeit und Heimatsuche, die Erzählungen von der alten Heimat und die Versuche, eine neue Heimat zu finden, begrifflich gefasst werden. Als Medium der Kommunikation kommt der Sprache ein besonderer Stellenwert zu; in der Sprache werden die Erfahrungen von Heimatverlust und der Suche nach einer neuen Heimat zum Ausdruck gebracht und in das kulturelle Gedächtnis überführt. Wortschöpfungen wie bspw. „Haymatland“ (vgl. Hayali 2018) sind in diesem Kontext als Ausdruck eines Bedürfnisses zu lesen, die vielfältigen persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen, die man mit der Heimat verbindet, in der Sprache zu kommunizieren. Das Wort Haymatland öffnet ein ←8 | 9→Fenster zum aktuellen Diskurs, in dem vermehrt individuelle Stimmen hörbar werden. Als ein plakatives Beispiel dafür kann der Band Eure Heimat ist unser Albtraum (2019) angeführt werden, in dem Essays von 14 Autor*innen versammelt sind, die in Deutschland leben, die aber ihre Zugehörigkeit und Teilhabe stets neu verhandeln müssen. Auch ein Blick in zahlreiche Print- und Onlinemedien bekräftigt, dass sich rund um Aspekte und Fragen der Heimat(-zugehörigkeit) Debatten und Diskurse entwickeln – über Heimat wird gegenwärtig diskutiert, gar gestritten. Die Erkundung der Bedingungen eines Findens von Heimat (vgl. unterschiedliche Beiträge zusammengefasst unter Deutschlandfunk 2021), Heimat als Mythos (vgl. z. B. Seeßlen 2021) oder die Politisierung des Heimat-Begriffes sind nur einige exemplarische Felder, in denen diese vielfältigen Debatten stattfinden (vgl. z. B. Misik 2021).

Dennoch handelt es sich bei Heimat nicht um ein neues Phänomen. Vielmehr muss man feststellen, dass über Heimat wiederholt und nahezu intervallartig diskutiert und geschrieben wurde und wird. Dahingehend stellt sich die Frage, wann und zu welchen Anlässen sich das begriffliche Phänomen Heimat in der öffentlichen Wahrnehmung und somit auch in literarischen Verhandlungen seinen Weg bahnt. Heimat, so viel scheint ersichtlich, ist ein Phänomen, das prinzipiell von jedem Menschen erfahren werden kann. Das bedeutet aber auch, dass das Verständnis des Heimat-Begriffes von individuellen (Vor-)Erfahrungen, Vorstellungen und Emotionen abhängt. Menschen versuchen, Heimat für sich zu definieren und abzustecken. Folglich stehen verschiedene Auffassungen von Heimat im Raum. Heimat, so viel steht fest, ist individuell, sozial und kulturell bedeutsam.

Das besondere Interesse, das die Entstehung dieses Sammelbandes maßgeblich motivierte, ist der Wirkungszusammenhang, den postmigrantische Transformationsprozesse auf diese individuelle, soziale und kulturelle Bedeutsamkeit von Heimat und somit auch auf die erneute Konjunktur des Heimat-Begriffes ausüben. In diesem Spannungsfeld ist davon auszugehen, dass die verschiedenen Konzepte und Vorstellungen von Heimat sinnbildlich die kulturelle Diversität der Gesellschaft repräsentieren und dementsprechend auch diverse Konzepte von Heimat in der postmigrantischen Gesellschaft nebeneinander bestehen, die aber in ihrer Vielfalt und Diversität noch nicht im kulturellen Bewusstsein der Gesellschaft etabliert sind.

Details

Seiten
244
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631872321
ISBN (ePUB)
9783631872338
ISBN (Hardcover)
9783631833131
DOI
10.3726/b19379
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 244 S.

Biographische Angaben

Renata Behrendt (Band-Herausgeber:in) Söhnke Post (Band-Herausgeber:in)

Die Herausgeber Renata Behrendt ist als Akademische Rätin am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover tätig. Sie lehrt und forscht im Bereich der Literaturdidaktik. Söhnke Post ist abgeordneter Studienrat am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover und Lehrer am Hannah-Arendt-Gymnasium Barsinghausen. Er lehrt und forscht ebenfalls im Bereich der Literaturdidaktik.

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