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Literatur als Gegenstand Westberliner Abituraufsätze der 1950er und 1960er Jahre

Interpretationen und Literaturkonzepte, Aufgabentypen und Aufsatzarten

von Britta Eiben-Zach (Autor:in)
©2022 Dissertation 534 Seiten

Zusammenfassung

Deutschsprachige Literatur ist in der Reifeprüfung seit 200 Jahren fest verankert. Die Untersuchung analysiert Westberliner Abituraufsätze der 1950er und 1960er Jahre im Kontext didaktischer Handreichungen, Lehrpläne und Prüfungsordnungen. Sie fragt, wie Schüler_innen mit literarischen Texten umgingen, welche Vorstellungen über Literatur sie formulierten und wie sich ihre Ausführungen zu den Normvorstellungen der Lehrkräfte verhielten. Die Autorin beleuchtet Herausforderungen schulischen literaturbezogenen Schreibens und Versuche, Aufgaben- und Aufsatzformate weiterzuentwickeln. Sie liefert neue Erkenntnisse zum schulischen Umgang mit ‹klassischer› und ‹moderner› Literatur und zur Frage, welche Potenziale man literarischen Werken – zwischen ‹Lebenshilfe› und ‹Gesellschaftskritik› – zuschrieb.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1 Einleitung: Zur Ausrichtung der Arbeit
  • 1.1 Anbindung, Quellen und zeitlicher Zuschnitt
  • 1.2 Fragestellung
  • 1.3 Schwerpunktsetzungen
  • 1.4 Beschränkungen
  • 1.5 Aufbau der Arbeit
  • 2 Bestandsaufnahme: Studien zum Literaturunterricht der 1950er und 1960er Jahre
  • 2.1 Rückgriff auf ‚Bewährtes‘: Die 1950er Jahre
  • 2.2 Modernisierung, Rationalisierung, Entpolitisierung: Die 1960er Jahre
  • 2.3 Kritische Deutschdidaktik: Die 1970er Jahre
  • 2.4 Ausblick auf die Untersuchung
  • 3 Vorüberlegungen zu formalen Rahmenbedingungen: Regulierung der Westberliner Reifeprüfung
  • 3.1 Prüfungsanspruch
  • 3.2 Fächerübergreifende Vorgaben zur Aufgabengestaltung
  • 3.3 Vorgaben für den ‚deutschen Aufsatz‘
  • 3.4 Vorgaben zur Korrektur und Bewertung von Prüfungsarbeiten
  • 3.5 Stellenwert des ‚deutschen Aufsatzes‘
  • 4 Vorüberlegungen zu Korpusdesign und Aufsatzauswertung: Reifeprüfungsaufsätze als historische Quellen
  • 4.1 Prüfungsbestand
  • 4.2 Äußere Merkmale der Reifeprüfungsaufsätze
  • 4.3 Rückschlusspotenziale der Reifeprüfungsaufsätze
  • 4.3.1 Wer schreibt für wen?
  • 4.3.2 Rückschlüsse aus Schülertexten
  • 4.3.3 Rückschlüsse aus Lehrerkommentaren und schriftlichen Beurteilungen
  • 4.3.4 Rückschlüsse aus Benotungen, Aufgabenwahl der Schüler_innen
  • 4.4 Vorarbeit: Aufgabenauswertung
  • 4.4.1 Themen der Reifeprüfungsaufgaben (allgemein)
  • 4.4.2 Literaturbezogene und nicht literaturbezogene Reifeprüfungsaufgaben
  • 4.4.3 Themen literaturbezogener Reifeprüfungsaufgaben
  • 4.4.4 Thematisierte Autor_innen
  • 4.5 Zusammenstellung des Untersuchungskorpus
  • 4.5.1 Aufgaben, die allgemeine Reflexionen über Literatur fordern
  • 4.5.2 Aufgaben zu ‚Klassikern‘
  • 4.5.3 Aufgaben zu zeitgenössischer Kurzprosa
  • 4.5.4 Lehrkräfte
  • 4.5.5 Aufsatzauswahl
  • 4.6 Transkription
  • 4.7 Aufsatzanalyse
  • 5 Auswertung Teilkorpus A: Reflexionen über Literatur
  • 5.1 Kontextualisierung I: Aufgabenformat
  • 5.2 Kontextualisierung II: Verweiskraft literarischer Werke in didaktischer Perspektive
  • 5.2.1 Literatur und ‚Wirklichkeit‘
  • 5.2.2 Relativierung historischer Kontexte
  • 5.2.3 Orientierendes Potenzial literarischer Werke
  • 5.2.4 Grenzen der Indienstnahme von Literatur
  • 5.2.5 ‚Lebenshilfe‘ im „strukturale[n]‌ Literaturunterricht“ (Helmers)
  • 5.2.6 Einwände einer kritischen Literaturdidaktik (I)
  • 5.2.7 Kurswechsel durch Westberliner Rahmenlehrpläne (1968)
  • 5.2.8 Verweispotenzial zeitgenössischer Literatur
  • 5.3 Aufsatzauswertung I: Wert literarischer Werke
  • 5.4 Stellenwert zeitgenössischer Literatur
  • 5.4.1 Aufsatzauswertung II: ‚Klassische‘ vs. ‚moderne‘ Literatur
  • 5.4.2 Aufsatzauswertung III: Aufgaben heutiger Schriftsteller
  • 5.5 Zwischenfazit
  • 6 Auswertung Teilkorpus B: Iphigenien-Lektüren
  • 6.1 Kontextualisierung I: Aufgabenformat
  • 6.1.1 Der ‚literarische Aufsatz‘ als fest etabliertes Sorgenkind
  • 6.1.2 Werke Goethes als Gegenstand von Reifeprüfungsaufgaben
  • 6.2 Kontextualisierung II: Goethes Iphigenie auf Tauris als Werk zeitloser Gültigkeit
  • 6.2.1 Schwerpunkte schulischer Iphigenien-Rezeption
  • 6.2.2 Enthistorisierende Zugriffe schulischer Iphigenien-Rezeption
  • 6.2.3 Einwände einer kritischen Literaturdidaktik (II)
  • 6.3 Goethes Iphigenie auf Tauris im Kontext von ‚Humanität‘ und ‚Menschlichkeit‘
  • 6.3.1 Aufsatzauswertung I: Der Inhalt des Wortes Humanität
  • 6.3.2 Aufsatzauswertung II: Das Humanitätsideal in Goethes […] „Iphigenie“
  • 6.4 Aufsatzauswertung III: Größe und Fremdheit der Klassik
  • 6.5 Exkurs: Spuren der Prüfungsvorbereitung in Schüleraufsätzen
  • 6.6 Zwischenfazit
  • 7 Auswertung Teilkorpus C: Interpretationen zeitgenössischer Kurzprosa
  • 7.1 Kontextualisierung I: Aufgabenformat
  • 7.1.1 Der ‚Interpretationsaufsatz‘ als Innovation der 1950er und 1960er Jahre
  • 7.1.2 Die Vermittlung des Nichtvermittelbaren
  • 7.1.3 ‚Moderne Kurzgeschichten‘ als Gegenstand von Reifeprüfungsaufgaben
  • 7.2 Kontextualisierung II: ‚Moderne Kurzgeschichten‘ als Spiegel des Allgemeinen
  • 7.2.1 Verweiskraft ‚moderner Kurzgeschichten‘
  • 7.2.2 Schwerpunkte schulischer Böll-Rezeption
  • 7.3 Aufsatzauswertung I: ‚Wesen‘ der ‚modernen Kurzgeschichte‘
  • 7.4 Aufsatzauswertung II: Der Tod der Elsa Baskoleit
  • 7.5 Aufsatzauswertung III: Daniel, der Gerechte
  • 7.6 Zwischenfazit
  • 8 Zusammenfassung und Ausblick
  • 8.1 Tendenzen der Aufgabenwahl und Aufsatzbewertung
  • 8.2 Kanon-Öffnung und literaturhistorische Begleitreflexionen
  • 8.3 Deutung aufs Allgemeingültige und Aktuelle
  • 8.4 Scheiternder Anspruch selbstständiger Deutung
  • 8.5 Tendenz zum Allgemeinen
  • 8.6 Fazit
  • 8.7 Beschränkungen der Studie, offene Punkte und Anschlussmöglichkeiten
  • Literaturverzeichnis
  • Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Die vorliegende Dissertation ist im Rahmen des interdisziplinären Projekts Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882–1972 entstanden, das aus Mitteln der Leibniz Gemeinschaft finanziert und in Kooperation der Humboldt-Universität zu Berlin, der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des DIPF | Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation und dem Informationszentrum Bildung des DIPF durchgeführt wurde.

Entsprechend gilt mein erster Dank Prof. Dr. Sabine Reh, Prof. Dr. Kämper-van den Boogaart, Prof. Dr. Joachim Scholz, Dr. Christoph Schindler und Dr. Kerrin von Engelhardt für die Konzeption, Beantragung, Leitung und Koordination des Projekts, dem ich die inhaltliche Anregung zu meiner Dissertation und nicht zuletzt meinen Quellenbestand verdanke – und ohne das meine Arbeit sicher nicht in dieser Form entstanden wäre.

Ein ebenso großer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Kämper-van den Boogaart für die umsichtige Betreuung meiner Arbeit, für die umfassende Beratung und für wertvolle Anregungen und Rückmeldungen, die die Entwicklung der Untersuchung maßgeblich geprägt und gefördert haben.

Prof. Dr. Sabine Reh danke ich für die Beratung in bildungshistorischer Perspektive und für die Unterstützung und Wertschätzung, die ich an der BBF erfahren durfte, Prof. Dr. Carolin Führer für die Zweitbetreuung der Arbeit und die Möglichkeit, sie an der Universität Tübingen abschließen zu können. Herrn Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth danke ich für die Bereitschaft, das Drittgutachten für meine Arbeit zu verfassen.

Weiter danke ich meinen Kolleg_innen Dr. Antonia Wenzel, Maike Löhden, Dr. Kathrin Berdelmann, Josefine Wähler und vor allem meinen Projektkolleg_innen Dr. Kerrin von Engelhardt, Julian Hocker, Denise Löwe, Marco Lorenz und Pia Rojahn für den fachlichen und persönlichen Austausch; Dr. Stefan Born, Dr. Marco Magirius und Dr. Thomas Landgraf danke ich darüber hinaus für ihre Rückmeldungen und Korrekturen.

Ein herzlicher Dank gilt den Mitarbeiter_innen der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) und ihres Archivs, namentlich Dr. Bettina Reimers und Dr. Stefan Cramme: für die sachkundige Beratung in archivarischen Fragen und die versierte Unterstützung bei der Recherche und Aufbereitung historischer Quellen. Ich habe die BBF als einmaligen Ort des historischen ←9 | 10→Forschens und Arbeitens erlebt und bin sehr dankbar, hier für die Zeit meiner Promotion einen Platz gefunden zu haben.

Für die Umsetzung der Druckfassung und hilfreiche Hinweise zur Gestaltung derselben sowie für die Möglichkeit, meine Arbeit in dieser Schriftenreihe veröffentlichen zu können, danke ich Prof. Dr. Christian Dawidowski als Reihenherausgeber und Michael Rücker vom Peter Lang Verlag.

Ich danke meinen Eltern, Geschwistern und Freund_innen für alle Unterstützung, die ich in den letzten Jahren erfahren habe. Zuletzt und allen voran danke ich Malte Eiben: für die große Selbstverständlichkeit, mit der diese Arbeit ihren eigenen Raum einnehmen konnte.

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1 Einleitung: Zur Ausrichtung der Arbeit

1.1 Anbindung, Quellen und zeitlicher Zuschnitt

Im Zentrum dieser Studie stehen ‚deutsche Aufsätze‘, die in Reifeprüfungen der 1950er und 1960er Jahre entstanden sind. Dabei handelt es sich um Produkte derjenigen Teilprüfung, die der heutigen Abiturklausur im Fach Deutsch entsprach. Die Prüfungsaufsätze werden unter einem spezifisch literaturdidaktischen Fokus in den Blick genommen: Untersucht werden Vorstellungen über Literatur und Formen des Umgangs mit literarischen Texten in ihrer potenziellen Abhängigkeit von Aufgabentyp, Aufgabenformulierung und konkretem Werk.1

Die Untersuchung ist angelegt als Teilstudie des Projekts Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882–1972, das von 2016 bis 2020 in Kooperation der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des DIPF | Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation mit der Humboldt-Universität zu Berlin (HU Berlin) und dem Informationszentrum Bildung (IZB) des DIPF durchgeführt wurde (vgl. Reh/Kämper-van den Boogaart/Scholz 2017).2

Diesem Projekt verdankt die vorliegende Studie den wesentlichen Teil ihres Quellenkorpus. Ausgewertet werden Aufsätze eines Westberliner Gymnasiums, dessen älteste Vorläuferinstitution Ende des 19. Jahrhunderts in einem Berliner Vorort gegründet worden war.3 Die analysierten Prüfungsarbeiten ←11 | 12→lagern im Archiv der BBF. Dieser Archivbestand bildete den Ausgangspunkt des Forschungsprojekts und das Herzstück einer in diesem Projekt zusammengetragenen Datenbank von insgesamt ca. 2400 Abituraufsätzen aus den Jahren 1893 bis 1971 (vgl. Löwe 2020; Kap. 4.1).4

In seinem Umfang und seiner weitgehenden Vollständigkeit5 eignet sich der Bestand in besonderer Weise für Studien wie die hier vorgelegte. So ist der betrachtete Zeitraum (s. u.) lückenlos abgedeckt; für die meisten Jahre sind Aufsätze mehrerer paralleler Prüfungsgruppen überliefert und liegen meist als weitestgehend vollständige Klassensätze vor. Dies ist keineswegs die Regel. In anderen Aktenbeständen sind häufig statt ganzer Klassensätze nur einzelne Prüfungsarbeiten erhalten (vgl. Schmitz 1999, S. 17; Schwalb 2000, S. 224).6 In solchen Fällen lässt sich nur schwer nachvollziehen, wie sich die vorhandenen Aufsätze zur Gesamtheit der Prüfungsarbeiten verhalten (vgl. ebd.). Demgegenüber kann die vorliegende Untersuchung die Prüfungsaufgaben der betrachteten Westberliner Schule in ihrer Gesamtheit erfassen, eine gezielte Auswahl treffen,7 allgemeinere Tendenzen der Aufgabenstellung an dieser Schule offenlegen und die ausgewählten Aufgaben innerhalb dieser Tendenzen verorten (vgl. Kap. 4.4, 4.5). Darüber hinaus kann erfasst und transparent gemacht werden, wie häufig die jeweiligen Aufgaben überhaupt gewählt wurden8 und wie gut die untersuchten Prüfungsaufsätze im Verhältnis zu anderen Arbeiten benotet worden sind (vgl. Kap. 4.3.4). Auch die analysierten Einzelaufsätze können ←12 | 13→gezielt ausgewählt werden; punktuelle Auswertungen können alle Aufsätze berücksichtigen, die zur jeweiligen Aufgabe verfasst wurden (vgl. Kap. 4.5.5).

Mit der Beschränkung auf Prüfungsarbeiten einer Schule ist die Untersuchung als explorative, qualitative Einzelfallstudie konzipiert: Sie kann Repräsentativität weder für den Standort Westberlin noch für die BRD als Ganze beanspruchen. Da ein breites Spektrum literaturbezogener Aufgaben in den Blick genommen wird (vgl. Kap. 1.3), mithin schon innerhalb des untersuchten Prüfungsbestands mehrere Vergleichsebenen einbezogen werden, verzichtet die Arbeit weitgehend auf (intraregionale) interschulische und vollständig auf interregionale Vergleiche.9

Das übergeordnete Forschungsprojekt (Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882–1972) fokussierte den Zeitraum von 188210 bis zur Reformierung der Gymnasialen Oberstufe Anfang der 1970er Jahre (vgl. z. B. Gass-Bolm 2005, S. 286–292). Um ein vergleichsweise breites Spektrum unterschiedlicher Aufgabenstellungen betrachten zu können (vgl. Kap. 1.3), beschränkt sich die hier vorliegende Teilstudie auf einen enger gefassten Zeitraum. Sie setzt 1946, also nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ein und endet zu Beginn der 1970er Jahre. In den Blick genommen werden damit zweieinhalb Jahrzehnte Fachgeschichte, in denen sich zentrale Modernisierungsprozesse – bzw. gemeinhin als solche gelesene Veränderungen – anbahnten. Dies betrifft, so ließe sich in vorläufiger Kürze zusammenfassen,11 die Öffnung des schulischen Literaturkanons12 ←13 | 14→zugunsten zeitgenössischer Werke,13 den Wandel vom einfühlenden ‚Erleben‘ literarischer Werke14 im Dienst weltanschaulicher Erziehung15 zu einem sachlicheren bzw. intellektuelleren Umgang mit literarischen Werken,16 die nun eigenständig oder auch kritisch betrachtet werden sollten17 (vgl. zusammenfassend auch Reh/Eiben-Zach 2021, S. 175 f.). Erzählt werden diese Entwicklungen gemeinhin im Narrativ einer verzögerten Fortschrittsgeschichte. Dabei fokussiert man eine Neuausrichtung, die in den späten 1940er und den 1950er Jahren zunächst noch nicht möglich gewesen oder nicht gewollt,18 versäumt ←14 | 15→oder nicht konsequent genug forciert worden war, sich nur zaghaft angebahnt hatte oder den entgegengerichteten Tendenzen schlicht unterlegen war, um sich dann in den ‚langen 1960er Jahren‘19 im Kontext veränderter gesellschaftspolitischer Bedingungen und verschobener Kräfteverhältnisse Bahn zu brechen (vgl. Kap. 2.1, 2.2).

Vollzog sich diese Modernisierung nicht im luftleeren Raum, war sie selbstredend auch nicht allein dem Literaturunterricht vorbehalten. Vielmehr wird der gesellschaftspolitische und kulturelle Wandel der 1960er Jahre (vgl. exemplarisch Schildt/Siegfried 2009) allgemein als Modernisierungsprozess verstanden. Dies betrifft auch die Entwicklung der Literaturwissenschaft (vgl. exemplarisch Bogdal/Müller 2005, Hrsg.) oder des Gymnasiums (vgl. Gass-Bolm 2005, S. 81)20. Ohne von einer solchen Perspektive grundsätzlich Abstand zu nehmen, bemühen sich jüngere Untersuchungen jedoch verstärkt darum, Literaturunterricht und -didaktik der 1950er Jahre in ihrem Facettenreichtum zu beleuchten, der auch (frühe) progressive Tendenzen einschließt (vgl. Kap. 2.1). In diesem Licht verlieren Phasengrenzen an Schärfe, rücken Übergänge in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit in den Blick.21 Zur Vertiefung einer solchen Perspektive möchte auch die vorliegende Studie beitragen, indem sie die Entwicklung literaturbezogener Abiturprüfungsarbeiten und -aufgaben in den 1950er und 1960er Jahren als eine der Ausdifferenzierung beschreibt (vgl. Kap. 1.3).

Ende der 1960er Jahre kam es insbesondere im Kontext politisch-kritischer Ansätze zu Innovationsbemühungen, die grundsätzlich mit langlebigen Traditionen wie jener der werkimmanenten Interpretation22 zu brechen versuchten ←15 | 16→(vgl. Kap. 2.2). Der „Facettenreichtum“ der entwickelten Gegenentwürfe (Kämper-van den Boogaart 2019b, S. 76; vgl. auch Heuer 2015a, S. 165) legt nahe, an dieser Stelle einen Schnitt zu setzen, die 1970er und 1980er Jahre einer eigenen Untersuchung vorzubehalten. Darüber hinaus (und dies ist entscheidend für den Zuschnitt des Projekts Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882–1972) ging Anfang der 1970er Jahre auch ein bildungshistorisches Kapitel zu Ende. Die nun angestoßenen Reformen können als zentraler Einschnitt in die Geschichte des Gymnasiums und der Abiturprüfung angesehen werden. Mit der im Juli 1972 unterzeichneten Bonner Vereinbarung (vgl. Gass-Bolm 2005, S. 290; außerdem ebd., S. 289–292; Tenorth 1975, S. 283–292) wurde das Kurssystem festgeschrieben, das mit seiner Differenzierung von Wahl- und Pflicht-, Grund- und Leistungskursen (vgl. Gass-Bolm 2005, S. 290; zusammenfassend auch Helbig/Nikolai 2015, S. 218) die Struktur der gymnasialen Oberstufe in der BRD über Jahrzehnte hinweg prägte und sie in einigen Bundesländern wie u. a. Berlin (vgl. SenBWF 2007, insb. S. 163 f.) bis heute bestimmt. Weiter kam es zu einschneidenden Neuregulierungen der Reifeprüfung. Die im Dezember 1973 getroffene Vereinbarung über die Abiturprüfung der neugestalteten gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II (vgl. KMK 1975a, S. 3) verstanden die Akteur_innen als „wichtigen Schritt zur Angleichung der Maßstäbe der Abiturprüfung“ (ebd.). Insbesondere wurde festgelegt, dass den Reifeprüfungsaufgaben nun Hinweise zur Beurteilung und Bewertung von Schülerleistungen beizugeben waren (vgl. ebd.). Wie weitere Regulierungen zeugt auch diese Vorschrift vom „Zwang, die Bedingungen des Erwerbs der Studienberechtigung angesichts verschärften Wettbewerbs um Studienplätze einander bundesweit anzugleichen“ (Tenorth 1975, S. 230). Dieser Wettbewerb wiederum lässt sich als Kollateraleffekt der Bildungsexpansion verstehen, die in den 1960er Jahren eingesetzt hatte (vgl. Gass-Bolm 2005, S. 359–366).23 Zudem richtete sich eine wachsende Kritik an Rationalitätsdefiziten etablierter Unterrichtspraktiken u. a. gegen Bewertungsverfahren, die Objektivitätsansprüche systematisch zu ←16 | 17→unterlaufen schienen (vgl. etwa Ingenkamp 1971, hiervon ausgehend auch von Engelhardt 2021, S. 173). Im Februar 1975 folgte daher eine Vereinbarung über die Anwendung einheitlicher Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung der neugestalteten gymnasialen Oberstufe (vgl. Gass-Bolm 2005, S. 363, FN 91).24 Mit den zeitgleich beschlossenen Einheitliche[n]‌ Prüfungsanforderungen im Fach Deutsch (EPA) (vgl. KMK 1975b) wurden insbesondere fachspezifische Aufgabenarten (vgl. ebd., S. 9–11) und Vorgaben zur Leistungsbewertung (vgl. ebd., S. 12–15) länderübergreifend festgelegt. Die EPA wurden 1979 und 1989 (KMK 1979, KMK 1992) durch neue Versionen abgelöst. In einer Fassung vom 24.05.2002 (KMK 2002) behielt jene des Jahres 1989 ihre Gültigkeit bis zur Ablösung durch die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012). In ihrem zeitlichen Zuschnitt widmet sich die vorliegende Studie also gewissermaßen der Vorgeschichte der Reformen, die Abitur und gymnasiale Oberstufe bis heute prägen. Die Frage, wie Innovationen der 1970er Jahre den Abituraufsatz, seine Bewertung und speziell das Schreiben über Literatur beeinflussten, bleibt ebenso wie jene nach den Einflüssen einer politisch-kritisch ausgerichteten Literaturdidaktik folgenden Untersuchungen vorbehalten.

1.2 Fragestellung

Vor zehn Jahren konstatierten Jasper und Müller-Michaels (2010, S. 365), dass „es derzeit kaum aktuelle Forschungsliteratur [gibt]“, die den Abituraufsatz „aus historischer Perspektive systematisch erschließt und auswertet“ (ebd.).25 Sofern man nicht nur nach aktuellen Studien fragt, verliert sich der Eindruck einer vernachlässigten Quelle zunächst: Historische Abiturarbeiten wurden ←17 | 18→mittlerweile unter vielfältigen Fragestellungen ausgewertet.26 Zu unterscheiden ist dabei zwischen Untersuchungen, die ganze Abituraufsätze in den Blick nehmen, und solchen, die sich auf eine Auswertung von Aufgabenstellungen beschränken27. Die hier vorliegende Studie hat sich für Ersteres entschieden: Analysiert werden vollständige Schüleraufsätze einschließlich Lehrerkommentaren und Beurteilungen. Motiviert wurde diese Entscheidung nicht zuletzt durch die Annahme, dass Aufgabenstellungen allein nur eingeschränkte Rückschlüsse auf die tatsächlichen Aufgabenanforderungen zulassen.28

Historische Reifeprüfungsaufsätze hatten lange Zeit ein deutlich breiteres Themenspektrum zu bedienen, als man es heute gewohnt ist (vgl. etwa Reh 2017, S. 113; Reh/Kämper-van den Boogaart/Scholz 2017, S. 281; Kap. 4.4.1). Speziell sollten Prüflinge – nicht zuletzt in Form von sogenannten ‚Besinnungsaufsätzen‘ – zu gesellschaftspolitischen Themen Stellung nehmen (vgl. etwa Rahn 1948/49, S. 55), um ihre ‚geistige Reife‘, verbunden mit einer gewissen Urteilsfähigkeit, aber auch der erwünschten Haltung zu demonstrieren (vgl. Kap. 3). Hieraus erklärt sich, dass historische Abiturarbeiten und -aufgaben so attraktiv für sozial-, mentalitäts- und ideologiegeschichtliche Untersuchungen sind, die sich nicht speziell der Entwicklung des Deutschunterrichts widmen. Immer wieder wurden diese Quellen als Spiegel des Zeitgeistes (Apel 1991) oder Spiegel ihrer Zeit (Lütgemeier 2008) befragt, sah man in ihnen deutsche Zeitgeschichte dokumentiert (Lahann 1982; vgl. auch Reh/Kämper-van den Boogaart/Scholz ←18 | 19→2017, S. 283).29 Demgegenüber geht es etwa der Studie Ludwigs (1988) speziell um die Geschichte schulischen Schreibens.30 Auch weitere Untersuchungen31 liefern Einblicke in die Entwicklung von Aufgabenarten32 und Aufsatzformen wie dem ‚Besinnungsaufsatz‘33. Differenziertere sprachliche Analysen leisten ←19 | 20→Mohler (1978) und jüngst Spiewak (2021). Einer kritischen Auseinandersetzung mit der geläufigen Narration, dass die (schrift-)sprachlichen Fähigkeiten von Schüler_innen seit Jahrzehnten zurückgehen, widmen sich außerdem Grimm (2003) und Sieber (1998).

Zum Teil beleuchten Untersuchungen historischer Abiturarbeiten und -aufgaben auch den Umgang mit literarischen Werken.34 Schmitz wie Schwalb erfassen den Anteil „literarische[r]‌ Aufgabenstellungen“ (Schmitz 1999, S. 283; ähnlich Schwalb 2000, S. 222) an der Gesamtheit der Prüfungsaufgaben sowie Werk, Autor_in, Gattung und Epoche, auf das, den bzw. die eine Aufgabe Bezug nahm (vgl. Schwalb 2000, S. 222 f.; Schmitz 1999, S. 283 f.).35

Ins Zentrum gestellt und systematisch untersucht wird der Umgang mit Literatur jedoch nur in vereinzelten Beiträgen. So arbeitet Selbmann (2005, S. 105) heraus, dass an Aufsatzthemen „Mechanismen literarischer Sozialisation abgelesen werden [können]“.36 Apel (1995, S. 68) untersucht Aufsätze zu Schillers Wallenstein darauf, ob „die Interpretationen dem Text [folgen]“ (ebd., S. 68, FN 4), „Werkanalysen“ (ebd.) liefern, „die den speziellen Inhalt dieses Werkes und das Bildende der Tragödie enthüllen sollen“ (ebd.), oder die literarischen Texte lediglich als „Ausgangspunkt für eine andere Erörterung“ (ebd.), etwa „der gesellschaftspolitischen Situation“ (ebd., S. 68) dienen. Er resümiert:

„Sind die gesellschaftspolitischen, aber auch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedrängend, spiegeln sie sich auch in den Themen und Darstellungen. Die Interpretation ←20 | 21→weicht von der Sachanalyse ab und bezieht aktuelle Fragen ein. Das stimmt meistens, aber nicht immer. Manchmal ist die Klassik geradezu der Rettungsanker in bedrängten Zeiten, so etwa, wenn nach 1940 die Werkinterpretation wieder in den Vordergrund tritt.“ (ebd., S. 80)37

Liebsch (2017) und Mackasare (2020) betrachten literaturbezogenes Schreiben im Kaiserreich; Lindemann (2000) fokussiert speziell den Umgang mit Werken Goethes im Abitur in und zwischen den Weltkriegen.38 Weiter greifen auch Untersuchungen zur Entwicklung des schulischen Lektürekanons auf literaturbezogene Aufsatzaufgaben zurück (vgl. etwa Korte 2017, 2011).

Viele Studien legen den Schwerpunkt jedoch gezielt auf solche Aufgaben, die keine literarischen Texte thematisieren.39 Andere Beiträge beziehen literaturbezogene Schülerarbeiten zwar ein, differenzieren in der Auswertung jedoch nicht zwischen diesen Aufsätzen und solchen ohne Literaturbezug (vgl. Grimm 2003, Mohler 1978, Sieber 1998).

Die vorliegende Arbeit möchte dazu beitragen, Potenziale historischer Abituraufsätze für eine Fachgeschichte des Literaturunterrichts auszuloten, die den engen Rahmen ideengeschichtlicher Untersuchungen bereits mit der „Lesebuch-Debatte“ der 1950er Jahre zu überschreiten begann (Dawidowski 2017, S. 24) und sich insbesondere in den letzten Jahren um die Erschließung weiterer Quellengattungen bemüht (vgl. Kap. 2). Im Zentrum der Studie steht die schulische Auseinandersetzung mit literarischen Werken. Die Entwicklung des Literaturunterrichts in den 1950er und 1960er Jahren wurde lange Zeit vor allem auf der Ebene seiner Konzeption untersucht: auf Basis von administrativen Vorgaben wie Lehrplänen oder im Rückgriff auf didaktische Handreichungen und Lesebücher (vgl. Kap. 2). Demgegenüber versucht die vorliegende ←21 | 22→Studie – wie andere Untersuchungen jüngeren Datums – durch Erweiterung des Quellenspektrums dichter an „[d]‌ie Realität der Literaturvermittlung“ (Dawidowski 2018, S. 153; Dawidowski 2017, S. 23) heranzukommen. Dieser nähert sich die Arbeit ausgehend von den Ergebnissen schulischen Literaturunterrichts: Geben historische Reifeprüfungsaufsätze doch Aufschluss darüber, welche Vorstellungen und Fähigkeiten Schüler_innen am Ende ihrer Schulzeit besaßen bzw. zu demonstrieren suchten.40 Dass Abituraufgaben und -arbeiten den schulischen Umgang mit literarischen Texten über die Ebene der Unterrichtskonzeption hinaus erhellen können, deuten bisherige Untersuchungen an41 – eine umfangreichere Studie, die solche Fragen ins Zentrum der Analyse dieser Quellen rückt, steht bislang jedoch aus.42

Details

Seiten
534
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631878972
ISBN (ePUB)
9783631878989
ISBN (Hardcover)
9783631866771
DOI
10.3726/b19781
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Schlagworte
Literaturunterricht Geschichte (20. Jahrhundert) Kanon Klassik Moderne Literatur
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 534 S., 5 farb. Abb., 1 s/w Abb., 34 Tab.

Biographische Angaben

Britta Eiben-Zach (Autor:in)

Britta Eiben-Zach studierte Germanistik und Mathematik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Anschließend war sie ebendort als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Literaturdidaktik beschäftigt und wurde hier promoviert. Darauf war sie in gleicher Funktion an der Eberhard Karls Universität Tübingen tätig.

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