Lade Inhalt...

​Das Wunder an der Weichsel

​Zum polnisch-sowjetrussischen Krieg 1919-1921

von Hartmut Michael Kühn (Autor:in)
©2022 Monographie 394 Seiten

Zusammenfassung

Im Gefolge des Ersten Weltkriegs kam es 1919-1921 zwischen dem wiederentstandenen Polen und Sowjetrussland zum Krieg. Als die Rote Armee schon kurz vor Warschau stand und ihr Sieg sicher schien, gelang den Polen die Wende. Der polnische Oberbefehlshaber Józef Piłsudski stieß mit einem überraschenden Manöver in die Flanke der gegnerischen Truppen und zwang sie zum Rückzug. Es wird allgemein als Wunder an der Weichsel bezeichnet.Das Buch schildert nicht nur militärische Geschehnisse, sondern tritt auch in übergreifende Debatten ein. Dazu gehört die Frage, ob damals auch der Angriff auf Deutschland erfolgen sollte. Sie wird von fast allen namhaften Historikern bejaht. Der Autor vertritt, auf Fakten gestützt und mit Dokumenten belegt, die entgegengesetzte These.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung
  • 1. Polen am Ausgang des Ersten Weltkriegs
  • Das Kriegsende
  • Polens Neuordnung
  • Die polnische Armee
  • Der innerpolnische Ausgleich
  • Die ersten Kämpfe im Nordosten und Südosten
  • Die Frage der Ostgrenze in Versailles
  • 2. Der Nachbar im Osten
  • Russland nach den Revolutionen
  • Der sowjetrussische Blick nach Westen
  • Die Entente gegenüber Russland und Polen
  • Der russische Bürgerkrieg
  • Piłsudskis Doppelspiel und das der Gegenseite
  • Die Scheinverhandlungen zwischen Polen und Sowjetrussland
  • 3. Der polnische Feldzug nach Kiew
  • Piłsudskis ukrainische Ziele
  • Kriegsvorbereitungen
  • Der taktische Plan
  • Der Feldzug nach Kiew
  • Petljura und die Ukraine. Wunsch und Wirklichkeit
  • Die sowjetrussischen Angriffspläne
  • 4. Der sowjetrussische Angriff auf Polen
  • Die brüchige Waffenruhe Winter 1919/20
  • Die sowjetrussische Mai-Offensive
  • Budjonnys Reiterarmee
  • Die Niederlage im Süden
  • Vor dem entscheidenden Angriff im Norden
  • Regierungskrise in Warschau
  • Die Konferenz von Spa/Die Curzon-Linie
  • 5. Vor der Entscheidung
  • Der Sturm bricht los
  • Die Regierung der Nationalen Verteidigung
  • Auf der sowjetrussischen Seite
  • 6. Die Schlacht um Warschau
  • Vor und hinter den Kulissen
  • Der Plan eines Gegenschlags
  • Die Schlacht vor den Toren Warschaus
  • An Weichsel und Wkra
  • 7. Der polnische Sieg
  • Die polnische Gegenoffensive
  • An der unteren Weichsel
  • Von Warschau zurück nach Osten
  • Die letzte große Kavallerieschlacht
  • Die Schlacht am Njemen/Das Ende der Kampfhandlungen
  • 8. Der Frieden von Riga
  • Die Verhandlungen
  • Voreiliger Verzicht?
  • Der Friedensvertrag mit Sowjetrussland
  • Piłsudskis weitere Einflussnahme
  • Polens Platz in Europa
  • 9. Die Diskussion zum Wunder an der Weichsel
  • Die Frage der Autorenschaft
  • Begleitumstände
  • Deutsch-sowjetrussische Kontakte während des Krieges
  • War Stalin schuld an der Niederlage?
  • Anhang: Die eingebürgerten Irrtümer
  • Abbildungsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Geografisches Namensverzeichnis
  • Kartenverzeichnis
  • Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Personenverzeichnis
  • Danksagung
  • Über den Autor
  • Reihenübersicht

Vorwort

Soll ein Krieg wie der polnisch-sowjetrussische von 1919 bis 1921 dargestellt werden, so scheint es unabdingbar, diese Darstellung um einen Rückblick auf die Gründe und Anlässe für diesen Krieg zu erweitern. Das heißt, auch auf die Vorgeschichte nicht nur des eigentlichen Konflikts, sondern auch auf die historischen Ausgangslagen der kriegsführenden Staaten, aus denen der Konflikt erwuchs und allein erklärbar ist.

Es erscheint also notwendig, nicht nur die politischen Aktionen und militärischen Konflikte, die propagandistischen Unternehmungen und das persönliche Verhalten der Hauptakteure auf beiden Seiten in den Blickwinkel zu nehmen, sondern zunächst und vor allem auch die historisch gewachsenen Ursachengeflechte, die zu diesem Krieg führten. Da die beiden Staaten höchst unterschiedliche Voraussetzungen hatten, um in diesen Krieg einzutreten, müssen diese entsprechend berücksichtigt werden, um aus ihnen historisch notwendige oder zufällige Ereignisketten aufzuzeigen und in einen Begründungszusammenhang zu rücken.

Polen war ein Staat im Entstehen, seine staatliche Existenz hatte eine Dauer von knapp zwei Jahren – das Russische Reich hingegen war ein vergangener Staat. Ihm folgte Sowjetrussland nach, und der Bruch zwischen beiden hätte tiefgreifender nicht sein können. Die Ereignisse der Jahre 1918–21 werden erst verständlich, wenn die Folgen der Rekonstitution des polnischen Nationalstaats und des Machtwechsels in Russland entsprechend berücksichtigt werden. Und auch die zentrale Bedeutung der Ukraine für beide Kriegsparteien muss beachtet werden. Der Krieg von 1920 wurde von beiden Seiten auch – und vor allem – um die Ukraine geführt.

Polen hatte im Jahr 1918 seine Staatlichkeit nach 123 Jahren wiedererlangt und knüpfte an seine staatliche Existenz aus der Zeit vor 1795 an, Russland war nach zwei Revolutionen und einem langwierigen Bürgerkrieg geschwächt, aber auch derart verändert, dass es mit dem Russland aus der Zeit vor 1914 politisch, geografisch, ideologisch und militärisch kaum mehr etwas gemein hatte.

Dem eigentlichen Kriegsgeschehen, das sich in den Monaten April bis Oktober des Jahres 1920 abspielte, gingen auf beiden Seiten Ereignisse voraus, die scheinbar mit diesem Krieg nichts zu tun hatten. Dennoch beeinflussten sie nachhaltig die Art und Weise, wie sich dieser Krieg anbahnte, und ließen ihn am Ende unvermeidbar erscheinen.←9 | 10→

Es liegt nahe, den Ersten Weltkrieg, in dessen Gefolge sich der Konflikt zwischen Sowjetrussland und Polen zu einem Krieg entwickelte, als dessen Ausgangspunkt zu begreifen. Doch diese durchaus einleuchtende Interpretation wird der komplizierten historischen Gemengelage um diese Ereignisse nicht vollständig gerecht. Nach dem Ersten Weltkrieg hätte, soviel darf als sicher gelten, bei einer maßvollen Haltung der Siegermächte während der Pariser Friedenskonferenz auch eine gänzlich andere europäische Nachkriegsordnung etabliert werden können.

Außerdem hatte das Zusammenbrechen der drei kontinentalen Imperien, des Deutschen Reichs, Österreich-Ungarns und des Russischen Reichs, die Bildung von unabhängigen politischen Subjekten ermöglicht, die allerdings mit ihren ethnischen Minderheiten ähnlich despektierlich umgingen wie zuvor die genannten Imperien mit den späteren Trägern der neu entstandenen Nationalstaaten.

Und obwohl der Krieg zwischen Polen und Sowjetrussland sicherlich seine schwerste militärische Prüfung gewesen war – im Zeitraum der zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war Polen in militärische Konflikte mit allen Nachbarn außer Lettland und Rumänien verwickelt. Erst der Friedensvertrag von Riga beendete die Kriege auch formal, die Botschafterkonferenz der Großmächte schließlich sanktionierte im März 1923 den Sachstand an Territorien und Grenzziehungen. Damit endete die Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs im Osten. Am wichtigsten aber war für die Polen die Tatsache: Ihr Staat war auf die Landkarte zurückgekehrt.

Der polnisch-sowjetrussische Krieg führte auch zu einem neuen Versuch, die Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland auf eine neue Basis zu stellen. Unverhohlene Avancen der sowjetrussischen Seite, den polnischen Korridor an Deutschland zurückzugeben, gehörten ebenso zum Vorspiel für Rapallo wie die Parteinahme deutscher Politik und deutscher Medien für Sowjetrussland und gegen Polen.

Die Gliederung der vorliegenden Arbeit ergibt sich aus dem oben Vorgetragenen. Auf eine kurze Einleitung zur polnischen Geschichte folgt eine Darstellung der einzelnen Phasen des behandelten Konflikts. Dabei konnten wegen sich überschneidender und zeitgleich stattfindender Ereignisse nicht immer die Gebote der Chronologie eingehalten werden. Dem eigentlichen Schlachtgeschehen zwischen der Roten Armee und der polnischen Armee mit ihren russischen, ukrainischen und weißrussischen Verbündeten von April bis Oktober 1920 soll hier im Proporz ein den Ereignissen angemessener Raum zugestanden werden. Dennoch kann auf diesen rund 300 Buchseiten nur ein ←10 | 11→Überblick gegeben werden, der sich auf wesentliche oder spektakuläre Ereignisse beschränken muss.

Im Text werden die polnischen Militäreinheiten mit arabischen Ziffern, die sowjetrussischen mit römischen Ziffern bezeichnet. In den aus dem Russischen übersetzten Texten habe ich, um eine Einheitlichkeit zu wahren, die Nummerierung in arabischen Ziffern bei sowjetrussischen Militäreinheiten durch eine römische ersetzt, ohne es zusätzlich zu vermerken.

Übersetzungen fremdsprachiger Texte sind, soweit sie nicht in öffentlich zugänglicher Druckform vorlagen, von mir selbst besorgt worden. Bei der Übertragung kyrillischer Ausdrücke fand die eingebürgerte Transkription Anwendung, die mir für einen nichtwissenschaftlichen Leser geeigneter erscheint als wissenschaftliche Transliteration. Deutschsprachige Originalquellen sind gelegentlich behutsam modernisiert worden. Ein Abkürzungsverzeichnis, eine Liste der geografischen Toponyme mit der Angabe der in den jeweils anderen Sprachen verwendeten Entsprechungen, der Aufweis aller benutzten Quellen, der Archivmaterialien ebenso wie der Buchveröffentlichungen, sowie ein kommentiertes Personenverzeichnis stammen von mir und sind dem Haupttext angefügt.

Hartmut Michael Kühn

Ramin bei Szczecin

Einleitung

Polen gehört zwar zu den sogenannten historischen Nationen, zu denen, die auf eine lange, Jahrhunderte währende Geschichte zurückblicken können. Und dennoch suchte man zu Beginn des XX. Jahrhunderts vergeblich auf der Landkarte nach diesem Staat, ja, es hatte nicht einmal ein Land seines Namens gegeben. Es war ein in der Neuzeit wohl einmaliger Vorgang, als sich drei Nachbarstaaten den vierten, den sie landseitig gänzlich umschlossen, völlig unter sich aufteilten. Russland, Preußen und Österreich begannen damit bereits 1772, als Katharina II., Friedrich II., auch der Große genannt, wenngleich nicht von den Polen, und Maria Theresia sich rund 215 000 qkm einverleibten, aber mehr als zwei Drittel des flächenmäßig mächtigen Staates unangetastet ließen.

Zwanzig Jahre später, 1793, setzten Russland und Preußen, wiederum mit Katharina II., auch sie eine Große genannt und auch sie nicht von den Polen, und Friedrich Wilhelm II. das Werk fort; nur Österreich fehlte. Nun sollte es lediglich zwei Jahre dauern, bis diese drei Mächte – wiederum vertreten durch Katharina II. von Russland und Friedrich Wilhelm II. von Preußen sowie zusätzlich Franz II. von Österreich – auch den letzten Rest Polens von der Landkarte tilgten.

Bis auf ein kurzes Zwischenspiel, bei dem zwischen 1807 und 1815 Napoleon unter Russlands Duldung ein Herzogtum Warschau etabliert hatte, sollte es 125 lange Jahre dauern, in denen es nicht nur Polen als Staat nicht gab, sondern die Polen vielfältigen, von Teilungsmacht zu Teilungsmacht in Schwere und Art unterschiedlichen Bedrückungen unterworfen waren.

Beim Wiener Kongress erfolgte eine erneute Aufteilung, die – mit der Ausnahme der freien Stadt Krakau – Grenzen und Unterordnungen unter drei fremde Mächte festschreiben sollte. Von Russland, das dem Namen nach ein Königreich Polen errichtete, dessen Thron in Personalunion der russische Zar bestieg, erhielt Polen zunächst Autonomie mit eigener Exekutive und Legislative – einen wählbaren Sejm, Verwaltung, Polizei und Militär. Aber schon bald sollte sich das russische Joch als das bedrückendste erweisen.

Bereits im November 1830 erhoben sich die Polen im Königreich, übernahmen in weiten Teilen des Landes die Staatsgewalt und erklärten die Dynastie der Romanows und damit ihren König, den russischen Zaren Nikolaus I., für abgesetzt. Erst Feldmarschall Diebitsch, dann Feldmarschall Paskjewitsch rückten gegen die rebellischen Polen vor und schlugen den Aufstand blutig nieder.←13 | 14→

Dieser polnische Nationalaufstand wurde mit Duldung Preußens und bereitstehender Militärhilfe blutig niedergeschlagen und führte in der Konsequenz neben einer erheblichen Auswanderungswelle – der sog. „Großen Emigration“ – zu noch mehr Unterdrückung. Der nächste, wiederum missglückte Aufstand vom Januar 1863, der noch rund zwei Jahre als Partisanenkrieg weitergeführt wurde und dann niedergeschlagen wurde, vor allem aber die verstärkte Repressionspolitik der russischen Regierung gegenüber Polen hatten eine zweite Emigrationswelle ausgelöst, deren Umfang sehr viel Ähnlichkeit mit der nach dem Novemberaufstand 1830/31 bot.

Oft engagierten sich die Polen auf der Seite der unterdrückten Völker, so Józef Bem, 1848 bei der ungarischen Erhebung gegen die Habsburger, Tadeusz Kościuszko und Kazimierz Pułaski beim nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg, so Jarosław Dąbrowski bei der Pariser Kommune. Sie engagierten sich aber auch aufseiten der jeweiligen Gegner Russlands, d.h. in der Türkei, in Japan. Hierbei ist an Polens Nationaldichter Adam Mickiewicz zu erinnern, der noch 1855 von Konstantinopel aus versuchte, durch die Aufstellung einer polnischen Legion eine militärische Niederlage Russlands herbeizuführen und einen Nationalaufstand in Polen zu entfachen.

Die Meinungsführer in den drei polnischen Teilungsgebieten hatten sich in den bestehenden Verhältnissen eingerichtet; die Stimme derjenigen, die ihnen widersprachen, konnte man im Ausland hören, auf polnischem Territorium selbst war sie kaum vernehmbar. Die polnische Unabhängigkeit galt als Forderung von Maximalisten, als Idee romantischer Träumer, als Thema unverbesserlicher Traditionalisten, als Ziel der Rückwärtsgewandten. Wer für die Unabhängigkeit optierte statt für den mit allen Attributen der Vernunft ausgestatteten Realismus, musste außer einer Überzeugung auch einen starken Charakter besitzen und eine ebenso starke Gesundheit. Das Zarenregime schickte wieder und wieder aufrührerische Polen in die sibirische Verbannung.

Aber es gab eine wachsende Zahl von jüngeren und politisch Interessierten, die sich nicht mit dem Verlust der Unabhängigkeit abfinden wollten. Zu ihnen gehörte eine militante Gruppierung innerhalb der sozialistischen Untergrundpartei PPS, die auf den bewaffneten Kampf setzte – nicht sofort, aber auch nicht in allzu weiter Ferne. Seit 1908 existierte bereits in Galizien ein konspirativer Verband des tätigen Kampfes, der die Schützenverbände des Józef Piłsudski anleitete. In ihm wurden die Ziele für den bewaffneten Kampf zuerst und am weitesten gesteckt, es ging um die polnische Unabhängigkeit.

Von den Radikalnationalen, die sich 1908 von der Nationaldemokratie wegen derer prorussischer Haltung getrennt hatten, wurde 1908 ebenfalls in Lemberg der Polnische Militärverband gegründet, der eine ähnliche Funktion ←14 | 15→wie der Verband des tätigen Kampfes hatte. Gleich dem Letzteren wurden paramilitärische Verbände gebildet, die Polnischen Schützenmannschaften. Diese beiden Unabhängigkeitszentren fanden über ihre Schützenorganisationen erst im April 1911 zusammen und ihre militärischen Arme standen trotz zeitweiliger Konflikte zum Kriegsausbruch 1914 zusammen.

Einen Kampf gegen die drei europäischen Großmächte Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn zugleich konnte, was alle wussten, wiederum auch keine polnische politische Partei und keine militärische Formation allein führen. Es galt, zeitliche Kompromisse mit den Teilungsmächten zu schließen, wobei sich Österreich-Ungarn sofort als erste Option auftat. In Galizien war die politische Toleranz am größten, und nachdem die Erlaubnis zur Bildung von polnischen Schützenverbänden erteilt worden war, konnte auch von einer relativen Bewegungsfreiheit für paramilitärische Unternehmungen die Rede sein.

Die Polen, die in den Unabhängigkeitsorganisationen mitwirkten, hofften auf einen Krieg zwischen den Teilungsmächten – die strategisch einzige Möglichkeit, um den Traum von einem polnischen Staat zu verwirklichen. Es musste also das europäische Kräfteverhältnis aus dem Gleichgewicht gebracht werden; und der einzige Weg dahin schien ein Krieg zwischen den polnischen Teilungsmächten zu sein.

Józef Piłsudski rückte mit seinen Schützenverbänden am 6. August 1914 noch vor den Österreichern aus und betrat russisches Territorium, um dort einen Aufstand zu entfachen. Der Misserfolg seiner Aktion führte letztendlich zur Bildung der polnischen Legionen, die – zum Schluss in drei Brigaden formiert – an der Seite der Österreicher und Deutschen kämpften und an der russischen Front eingesetzt wurden. Die Krakauer Konservativen und Demokraten präferierten eine austro-polnische Lösung, sie erhofften den Anschluss Kongresspolens an Galizien unter dem Habsburger Zepter.

Nach der Vertreibung der russischen Besatzungstruppen und dem Fehlschlagen der Versuche, mit Russland einen Sonderfrieden abzuschließen, sowie mit der nicht hoffnungsvoll stimmenden Entwicklung an der Westfront, setzten die Mittelmächte darauf, polnische Soldaten an der Ostfront einzusetzen, um deutsche Truppen an die – in ihrem Bewusstsein entscheidende – Westfront werfen zu können. Vor diesem Hintergrund ist die Berufung eines provisorischen Staatsrats zu verstehen, von dem die Rudimente eines polnischen Staats geschaffen werden sollten, von dem sich jedoch die Mittelmächte vor allem die Aufstellung eine Armee erhofften.

Die Nationaldemokratie, die bis 1917 auf Russland gesetzt und davon die Vereinigung aller polnischen Landesteile erwartet, wenngleich keine Unabhängigkeit angestrebt hatte, sammelte sich in Paris unter der Führung Roman ←15 | 16→Dmowskis an der Seite der Alliierten im Polnischen Nationalkomitee (KNP) und wurde von den Westmächten als offizielle Vertretung Polens anerkannt.

Die nachfolgende Phase in Polen war gekennzeichnet vom Kampf des von Piłsudski geführten Unabhängigkeitslagers um einen Staat, ohne den es keine Soldaten an der Seite der Deutschen geben sollte. Höhepunkt der Haltung Piłsudskis gegenüber dem Auf-Zeit-Spielen der Besatzungsmächte war die Verweigerung der Eidesleistung, die zur Auflösung der Legionen führte, zur Inhaftierung Piłsudskis und der Internierung des überwiegenden Teils der Legionsangehörigen.

Als die Niederlage an der Westfront immer offensichtlicher wurde, erhoben sich die Polen gegen die Besatzungsmächte. Der von den Deutschen eingesetzte Regentschaftsrat erklärte sich im Oktober zum obersten polnischen Machtorgan, berief nationaldemokratisch geführte Regierungen und unterstellte sich die von den Deutschen geschaffene Polnische Wehrmacht, wenngleich das offenbar mit dem Einverständnis der Deutschen geschah.

Im galizischen Krakau hingegen wurde die Polnische Liquidationskommission für das bislang österreichische Kronland Galizien und Lodomerien gebildet, der Vertreter aller politischen Richtungen angehörten. Ihr militärischer Arm waren die Truppen, die von ehemaligen Kommandeur der III. Brigade, Oberst Bolesław Roja kommandiert wurden, und dieser akzeptierte nur Piłsudski als Befehlsgeber.

In Lublin allerdings bildeten Vertreter der Unabhängigkeits-Linken, Piłsudskis engste Mitarbeiter und Freunde, Anfang November eine Volksregierung, die sich auf die stärkste militärische Macht in Polen, die von Piłsudski gegründete illegale Polnische Militärorganisation POW stützen konnte.

Das war die Lage in Polen, als am 8. November Józef Piłsudski und sein Mitstreiter Kazimierz Sosnkowski aus der deutschen Haft entlassen wurden, um nach dem Kalkül der Deutschen zu verhindern, dass die deutschfeindlichen Nationaldemokraten Polen ins Lager der Entente führen. Piłsudski selbst betrachtete sich hingegen keineswegs als ein Instrument in deutscher Hand, er sah sich vielmehr in die Möglichkeit versetzt, an der Spitze des von ihm geführten Lagers Polen endlich in die Unabhängigkeit zu führen, den polnischen Staat wieder als Mitglied einer internationalen Gemeinschaft selbstständiger Staaten zu etablieren und sowohl seine innerstaatliche Existenz wie auch seine erst noch zu ziehenden Grenzen gegen jegliche äußere Bedrohung zu sichern.

Neben einem Krieg gegen die Ukrainer in Ostgalizien, dem Konflikt mit der Tschechoslowakei und den Aufständen der Polen in preußischen Provinzen Posen und Schlesien fanden alle militärischen Ereignisse, an denen Polen in den Jahren 1918–21 beteiligt war, im ehemaligen Königreich Polen, aber vor ←16 | 17→allem in den vormals westlichen Provinzen des Russischen Reichs statt. Von Letzteren soll die Rede sein. Das große Gebiet, das sich Russland während der Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 einverleibt hatte und deren Ergebnisse vom Wiener Kongress 1815 im Großen und Ganzen bestätigt wurden, war auf die Territorien Nordwest- und Südwestrussland aufgeteilt worden, wenngleich es nicht mit beiden deckungsgleich war. Dieses Gebiet wurde polnisch als „ziemia zabrane“ benannt, die „fortgenommenen Länder“, oder mit „kresy“ bezeichnet, einem germanischen Lehnwort, das für ein Gebiet oder eine Landschaft stand.

Dieses riesige Gebiet gehörte zwar vor den Teilungen zum Doppelstaat der Polen und Litauer, doch die Bevölkerungsmehrheit stellten im Norden die Weißrussen, im Süden die Ukrainer, während die Polen und die polonisierten Litauer die Herrenschicht bildeten. Nach den Teilungen wurden die Letztgenannten von der russischen Administration abgelöst, wobei der Hochadel seine Besitzungen und Vorrechte behielt. Zudem gab es eine Vielzahl von kleineren Ethnien und einen erheblichen Anteil an jüdischer Bevölkerung.

Dieses Gebiet in ethnisch oder konfessionell klar eingegrenzte Regionen zu unterteilen, musste misslingen. Ethnische Durchmischung dominierte und zudem widersprachen sich oft subjektives Empfinden und objektive Zugehörigkeit. Mitunter bezeichneten sich die Bewohner einer Gegend einfach als „Hiesige“ und sie sprachen nicht Litauisch, Polnisch, Russisch, Tschechisch, Ukrainisch oder Weißrussisch, sondern „auf unsere Art“, d. h. sie verständigten sich oftmals nur über lokale oder regionale Dialekte. Dennoch blieb die Sprache das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen den verschiedenen Ethnien, wenngleich das auch die Religionszugehörigkeit besorgte.

Während an den nordwestlichen Randgebieten das westliche Christentum katholischer oder protestantischer Konfession dominierte, lag östlich und südlich davon ein Gebiet, das fast ausnahmslos von der griechisch-orthodoxen Kirche beherrscht wurde und das Ausnahmen nur in den Städten zuließ, wo Katholiken, Juden und Orthodoxe nebeneinander lebten, und im Südwesten, wo die polnische Herrschaft die Ausbildung und Verbreitung der griechisch-katholischen, unierten Kirche als Konkurrenz zur griechisch-orthodoxen befördert hatte.

←18 | 19→

1. Polen am Ausgang des Ersten Weltkriegs

Das Kriegsende

Dem Ersten Weltkrieg, der mit der Niederlage der vom Deutschen Reich geführten sogenannten Mittelmächte – außerdem Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich – endete, schlossen sich einzelne Waffenstillstandsabkommen und Friedensangebote an. Das Deutsche Reich wurde in dem Waffenstillstandsabkommen von Rethondes bei Compiègne, das zunächst auf 36 Tage befristet war, aber mehrfach verlängert wurde, zum Rückzug aus Frankreich, Belgien und Luxemburg im Westen sowie im Osten aus dem ehemaligen Russischen Reich aufgefordert, wobei östlich von Polen mit Rücksicht auf die russische Revolution der Rückzug erst in einer nicht bestimmten näheren Zukunft erfolgen sollte.

Aber die völkerrechtlich verbindlichen Folgen wurden von den Siegermächten und ihren assoziierten Mächten während der Pariser Vorortverträge festgelegt und, mitunter noch geringfügig korrigiert, anschließend umgesetzt. Als der entscheidende Vertrag aber gilt dabei der mit Deutschland geschlossene Versailler Vertrag, von dem die gesamte Nachkriegsordnung ihren Namen erhielt. Daneben gab es die Verträge von St. Germain-en-Laye mit Österreich, Trianon mit Ungarn, Neuilly mit Bulgarien und Sèvres mit dem Osmanischen Reich. Lediglich der letztgenannte Vertrag wurde nach Kriegen zwischen Griechen und den Türken in Lausanne 1923 neu verhandelt, was festzuhalten sein dürfte, sollte er doch unausgesprochen als Muster für die Forderung nach der Revision von Verträgen dienen.

Details

Seiten
394
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631881743
ISBN (ePUB)
9783631881750
ISBN (MOBI)
9783631881767
ISBN (Hardcover)
9783631875513
DOI
10.3726/b19822
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juli)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 394 S., 64 s/w Abb.

Biographische Angaben

Hartmut Michael Kühn (Autor:in)

Hartmut Michael Kühn hörte Geschichte und Politologie in Szczecin und Warschau und schloss ein Studium der Philosophie, Logik und Semiotik an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Er ist assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien Halle/Jena sowie Autor und Herausgeber mehrerer Publikationen zu Polens Geschichte im 20. Jahrhundert.

Zurück

Titel: ​Das Wunder an der Weichsel
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
396 Seiten