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Kasseler Vorlesungen über Hegels Kunstphilosophie

von Giacomo Rinaldi (Autor:in)
©2023 Monographie 166 Seiten
Reihe: Hegeliana, Band 25

Zusammenfassung

In diesem Buch umreißt der Verfasser sehr konzentriert die Grundlinien einer theoretisch-systematischen Ästhetik, die größtenteils auf Hegels Auffassung der Kunst als der sinnlichen Manifestation der absoluten Idee und auf ihrer Selbstentfaltung als ästhetischem ‚Ideal’ im System der Kunstformen und -arten basiert. Der Grund dafür ist, dass das reife System der Philosophie Hegels plausibel als der Gipfel der ganzen Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie und insbesondere des Deutschen Idealismus betrachtet werden kann. Ihre substanzielle Wahrheit und vernünftige Haltbarkeit schließt aber nicht aus, dass bei Hegels Theorie der romantischen Kunstform einige Antinomien, welche schon dem Scharfsinn Friedrich Theodor Vischers nicht entgangen waren, auftreten, die der Verfasser durch eine originelle kritische Auslegung von Richard Wagners Auffassung des ‚Gesamtkunstwerkes’ zu lösen versucht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einleitung: Der gegenwärtige Zustand der Philosophie und das Erbe des Deutschen Idealismus
  • Erste Vorlesung: Die Bedeutung der Kunstphilosophie im zeitgenössischen Denken
  • Zweite Vorlesung: Begriff und Formen der Kunst in Hegels Ästhetik
  • Dritte Vorlesung: Das System der einzelnen Künste in Hegels Ästhetik
  • Vierte Vorlesung: Richard Wagners Auffassung des Gesamtkunstwerkes als mögliche Lösung der Antinomien der Hegelschen Lehre von der romantischen Kunstform
  • Fünfte Vorlesung: Kritische Bemerkungen über den Einfluss von Hegels Kunstphilosophie auf die Ästhetik des italienischen und des britischen Idealismus
  • Schlussbemerkung
  • Ausgewählte Bibliographie
  • Namenregister

Vorwort

Das vorliegende Buch besteht aus den tiefgreifend bearbeiteten und erweiterten Texten der Vorlesungen, die ich vom 17. Juni bis zum 2. Juli 2022 auf Einladung von Prof. Dr. Tom Kleffmann, Lehrstuhlsinhaber für Evangelische Theologie an der Fakultät von Geisteswissenschaften der Universität Kassel, dort hielt. Die erste Vorlesung, „Die Bedeutung der Kunstphilosophie im zeitgenössischen Denken“, wurde als Vortrag am 23. Juni 2022 gehalten. Die zweite Vorlesung, „Begriff und Formen der Kunst in Hegels Ästhetik“, die dritte Vorlesung, „Das System der einzelnen Künste in Hegels Ästhetik“, die vierte Vorlesung, „Richard Wagners Auffassung des „Gesamtkunstwerkes“ als mögliche Lösung der Antinomien der Hegelschen Lehre von der romantischen Kunstform“, und die fünfte Vorlesung, „Kritische Bemerkungen über den Einfluss von Hegels Kunstphilosophie auf die Ästhetik des italienischen und des britischen Idealismus“, wurden beziehungsweise am 17. und 18. Juni und am 1. und 2. Juli im Rahmen einer Reihe von Seminaren präsentiert. Zu den Texten dieser Vorlesungen habe ich in diesem Buch eine Einleitung, „Der gegenwärtige Zustand der Philosophie und das Erbe des Deutschen Idealismus“ hinzugefügt, die einen zweifachen Zweck erfüllt: erstens, Hegels Absoluten Idealismus in den geistesgeschichtlichen Kontext seiner Genese, d. h., der Philosophie des Deutschen Idealismus, als ihre abschließende und gipfelnde Entwicklungsstufe einzuordnen, und zweitens, die dauernde Bedeutung und Aktualität dieser Philosophie als wirkungsvolles Gegengift gegen die gegenwärtige intellektuelle und sittliche Krise des europäischen Geistes hervorzuheben.

Die Auswahl der Themen dieser Vorlesungen wurde dadurch beeinflusst, dass ich im letzten Jahrzehnt einen guten Teil meiner philosophischen Tätigkeit für Forschungen über die Ästhetik im Rahmen einer systematischen Auffassung der Philosophie aufgebracht habe, deren Ergebnisse im 2021 in Oxford bei The Pertinent Press veröffentlichten Buch The Philosophy of Art, Vol. 1, vorgebracht wurden. Dem englischen Text dieses Buches habe ich manche Auszüge für die Verfassung der fünften Vorlesung entnommen. Die Bedeutung der vorhergehenden Vorlesungen, und insbesondere der vierten, besteht darin, dass ich in ihnen einige Grundthesen meiner Kunstphilosophie dargestellt habe, die im ersten Band des erwähnten Buches noch nicht auffindbar sind und die erst im zweiten, der jetzt in Vorbereitung ist, eine vollständige Entfaltung finden werden.

Ich möchte Herrn Prof. Kleffmann für die Einladung und die Veranstaltung meiner Vorlesungen an der Universität Kassel, Herrn Dr. Helmut Schneider für die Aufnahme dieses Buches in die von ihm geleitete Reihe „Hegeliana: Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus“, und Frau Luana Bauchspieß und Frau Leoni Scharfe für die sorgfältige Bearbeitung des Manuskripts meines Buches am herzlichsten danken.

Urbino, den 28. Januar 2023

Einleitung: Der gegenwärtige Zustand der Philosophie und das Erbe des Deutschen Idealismus

1. Ein sorgfältiger und unparteilicher Blick auf den Zustand der Philosophie im weiteren Kontext der zeitgenössischen geistigen Kultur kann leicht zeigen, dass die darin vorherrschenden intellektuellen Tendenzen, die sehr heterogen und oft geradezu gegeneinander feindlich sind, nichtsdestoweniger übereinstimmend zu demselben Resultat geführt zu haben scheinen, das der Erfolg des Kantischen Kritizismus in der deutschen Philosophie Anfang des XIX. Jahrhunderts hervorgebracht hatte – nämlich, den Verruf und das Aussterben der Metaphysik als „Wissenschaft“. Wie Hegel in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik tiefsinnig bemerkte: „Indem so die Wissenschaft und der gemeine Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den Untergang der Metaphysik zu bewirken, so schien das sonderbare Schauspiel herbeigeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen – wie einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes“.1 Denn wenn wir versuchen, den letztlich bestimmenden gemeinsamen Charakter von verschiedenen philosophischen Strömungen wie den logischen Empirismus, den Neokantianismus, Husserls Phänomenologie, die Existentialontologie, den historischen Materialismus und den Dekonstruktionismus zu identifizieren, so scheint er in dem anders begründeten und vollbrachten Vorsatz zu bestehen, die „kritische Zerstörung der Metaphysik“ als vermeintlich rationale Wissenschaft des Absoluten und seiner Manifestationen in der Immanenz des menschlichen Geistes entweder vorauszusetzen oder zu Ende zu bringen. Die unleugbare Präsenz in der zeitgenössischen Philosophie von ausdrücklich metaphysischen Tendenzen wie die neoscholastische „Metaphysik des Seins“, E. von Hartmanns „Philosophie des Unbewussten“, N. Hartmanns realistische und pluralistische Ontologie und A. N. Whiteheads process philosophy selbst, stellt insofern keinen plausiblen Einwand gegenüber meiner Behauptung, als ihr ausgesprochen metaphysisches Streben durch die theoretische Unhaltbarkeit ihrer erkenntnistheoretischen Voraussetzungen oder Grundlagen regelmäßig vereitelt wird, weil sie oft unbewusst in die Fehler desjenigen dogmatischen Realismus zurückfallen, die Kants Kritik der reinen Vernunft verdienstlich ein für allemal entkräftet hat. Aber das Aussterben des echten metaphysischen Denkens in der zeitgenössischen Kultur bringt notwendigerweise die Trübung derjenigen Gestalt des Bewusstseins mit sich, die die phänomenologische Bedingung seiner Genese ausmacht, nämlich, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes prägnant sagt, das „innerlich geoffenbarte Ewige“, das „geglaubte Heilige“,2 deren unvermeidliche Folge die Auflösung jeder echten Moralität und Sittlichkeit in großen Teilen der zeitgenössischen Menschheit, und das Auftreten desjenigen „unendlichen Schmerzes“ ist, der schon den „Rechtszustand“ im verfallenden Römischen Reich durchdrungen hatte. Eine ähnliche geistesgeschichtliche Lage – d. h., Skeptizismus gegenüber der spekulativen Vernunft und Auflösung der Sittlichkeit im rechtsstaatlichen Utilitarismus – scheint der Grundcharakter der westlichen Kultur in unserer Zeit zu sein; es ist aber unleugbar, dass sie schon durch den Triumph des materialistischen Positivismus und der utilitaristischen Ethik in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts hervorgebracht worden war. Gerade um ihren verheerenden Folgen im unendlichen Selbstbewusstsein der Menschheit entgegenzutreten, umriss ein großer Künstler wie Richard Wagner in den letzten Jahren seines Lebens eine „Regenerationslehre“,3 die, wie wir im vierten Abschnitt dieses Buches sehen werden, die mögliche „Erlösung“ des Menschengeschlechts mit der Gründung einer „ästhetischen Religion“ identifizierte, in welcher die angemessenste Manifestation des Absoluten in der Innerlichkeit des Menschen durch die Erschaffung eines „Gesamtkunstwerkes“ hervorgebracht werden sollte. Wenn es unbestreitbar ist, dass man in dieser Wagnerschen Auffassung, und in den von ihr hergestellten großartigen Musikdramen, den Gipfel der Entwicklung der romantischen Kunstform zu Recht erblicken dürfte, so kann man andererseits auch nicht verneinen, dass eine unlösbare Antinomie dem Wesen der Kunst selbst innewohnt, die die Plausibilität einer solchen Auffassung infrage stellt. Wie wir weiter unten sehen werden, ist die Kunst die Offenbarung des Absoluten, das in ihr die geistige Form des „Ideals“ annimmt, im Element des „ästhetischen Scheines“. Dies aber ist als unwirkliche Reflexionsbestimmung die Negation der Wahrheit und der Sichselbstgleichheit des absoluten Gehalts, den es trotzdem manifestiert: das Absolute offenbart sich also, zugleich offenbart es sich in der Form des Scheines nicht. Wenn es wahr ist, wie Hegel tiefsinnig behauptet,4 dass dieser Schein trotzt seiner Widersprüchlichkeit höher liegt als die empirische Realität der Sinnenwelt und des Alltagslebens, weil die Antinomien, die Letztere unterminieren, noch tiefgreifender sind als diejenigen, die dem Wesen der Kunst innewohnen, ist es auch wahr, dass die adäquate Offenbarung des Absoluten nur in einem Element stattfinden kann, das sich in die Widersprüche des ästhetischen Scheines nicht verwickelt, und dass ein solches Element nur die logische Form des reinen Begriffs sein kann, der sich nur im philosophischen Wissen, genauer in der Metaphysik als der Wissenschaft des Absoluten vollständig verwirklicht. Sollte eine „Regeneration“ der zeitgenössischen Menschheit, die Überwindung des unendlichen Schmerzes ihrer alldurchdringenden Entfremdung real möglich sein, so müsste sie deshalb mit der Herstellung einer Metaphysik zusammenfallen, die, im Unterschied zur „vormaligen Metaphysik“,5 den von Kant erhobenen Einwänden nicht unterliegen würde. Wie wäre sie also möglich? Wenn wir über die Entwicklung der europäischen Philosophie nachdenken, können wir leicht zum Schluss kommen, dass, da das Wirkliche das Mögliche voraussetzt, diese Frage durch die geschichtliche Tatsache vereitelt wird, dass eine solche Metaphysik schon existiert: wir brauchen sie also nicht ex novo hervorzubringen, denn sie wurde in den von den größten Vertretern des Deutschen Idealismus hergestellten philosophischen Systemen vollständig entfaltet. Welche sind also die Grundannahmen dieser Metaphysik und die Methode, durch die sie vernünftig bewiesen werden? Wie und warum unterliegt diese Metaphysik den Kantischen Einwänden nicht, und kann sie deshalb der Überwindung der Selbstentfremdung der zeitgenössischen Menschheit wirksam beitragen? Welche sind die Unterschiede zwischen dem theoretischem Gehalt und dem Wert der Beiträge, die die drei hervorragenden Denker des Deutschen Idealismus – nämlich Fichte, Schelling und Hegel – zu seiner Entwicklung geleistet haben? Ist es theoretisch und historiographisch legitim, ihre Lehren als die Entwicklungsstufen eines einzigen geistigen Prozesses, der seine endgültige Vollendung in Hegels „absolutem Idealismus“ erreicht, sodass Letzterer mit dem ganzen geistigen Erbe zusammenfällt, das die Philosophie des Deutschen Idealismus der zeitgenössischen Menschheit hinterlassen hat? Diese Fragen werde ich in der vorliegenden „Einleitung“ zu beantworten versuchen.

2.1. Die Philosophie des Deutschen Idealismus identifiziert ausnahmslos ihre eigentümliche Bestimmung mit der Erkenntnis des Absoluten insofern, als „das Absolute allein wahr oder das Wahre allein absolut ist“.6 Eine Philosophie kann also nicht wahr sein, wenn sie sich nicht wenigstens in letzter Instanz als ein „absolutes Wissen“ gestaltet. Was müssen wir aber mit dem Wort „absolut“ verstehen? Versuchen wir vor allem, diesen Begriff zu erklären, indem wir ihn seinem Gegenteil, dem Begriff des „Relativen“, entgegensetzen. Ein Dasein oder eine Vorstellung sind „relativ“, wenn sie nicht in sich selbst, sondern in einem Anderen, in ihnen äußeren physischen oder psychischen Tatsachen, den Grund ihres Seins oder Erscheinung haben. Da die ursprünglichen Formen der Äußerlichkeit der Raum und die Zeit sind, ist also das Relative immer und notwendigerweise, direkt oder indirekt, in ihnen immanent. Als solches ist es wesentlich mannigfaltig, heterogen, vorübergehend und vergänglich. Die Wahrheit, die der Gegenstand des absoluten Wissens ist, dagegen „in se est, et per se concipitur“:7 sie hat in sich selbst den Grund ihrer Wirklichkeit und Evidenz, ist also absolut sichselbstgleich oder, besser gesagt, die ursprüngliche Identität ihrer mit sich selbst. Als solche negiert sie jede (äußere) Beziehung auf das Andere; und da das Besondere und das Zufällige solche sind, insofern sie neben oder außer sich andere Besondere beziehungsweise die Bedingungen seines Daseins voraussetzen, wohnen dagegen der Idee der absoluten Wahrheit die Prädikate der (konkreten) Allgemeinheit und der (inneren) Notwendigkeit wesentlich inne. Insofern die Begriffe und die Urteile, in welche sich das philosophische Wissen eingliedert, die Form der Allgemeinheit und der Notwendigkeit aufweisen, gründen sie sich, wie Kant scharfsinnig verstand,8 auf „apriorische“ Erkenntnisse des menschlichen Geistes. Deshalb können sie den „aposteriorischen“ Daten der sinnlichen Anschauung durch Induktion oder Abstraktion nicht entnommen werden, denn diese sind alle unvermeidlich zufällig und vergänglich, insofern sie der ursprünglichen Form der Sinnlichkeit, der Zeitlichkeit des inneren Sinnes, unterworfen werden. Der Gegenstand der Philosophie, das Absolute als absolutes Wissen, ist deshalb sichselbstgleich auch in dem Sinn, dass er der Vergänglichkeit der zeitlichen Existenz entzogen wird, also an und für sich zeitlos, ewig ist.

2.2. Indem die Philosophie keinen anderen Gegenstand hat als die absolute Wahrheit, bildet sie sich also als ein absolutes Wissen heraus. In jeder Form des Wissens aber ist es möglich und notwendig, seinen Inhalt, der sein Gegenstand ist, von seiner Form, die vollständig entwickelt mit seiner Methode zusammenfällt, zu unterscheiden. Welche ist also die wesentliche Form des philosophischen Wissens? Da die adäquate Beziehung zwischen den Denkbestimmungen der Form und des Inhalts eine innere ist, bestimmen sich die Form und der Inhalt des philosophischen Wissens gegenseitig, sie reflektieren sich ineinander. Die Form des philosophischen Wissens bestimmt seinen Inhalt, insofern sie seine Identität mit sich in ein organisches System von ideellen Unterschieden entfaltet; denn im entgegengesetzten Fall würde er zu einer formlosen Materie oder einem formlosen Stoff herabsinken und so den Standpunkt des Materialismus unrechtmäßig legitimieren. Der Inhalt des philosophischen Wissens bestimmt umgekehrt seine Form insofern, als er ihr diejenige Einheit und Totalität erteilt, die ihr gestattet, nicht zu einer bloß sinnlichen, äußerlichen und zufälligen Bestimmtheit herabzusinken. Die Form dieses Wissens ist also der der Sinnlichkeit wesentlich entgegengesetzt; im Selbstbewusstsein des theoretischen Geistes aber gibt es nur ein anderes „Vermögen“, das sie wesentlich negiert: das reine Denken. Denn im Unterschied zum empirischen Denken entnimmt es seinen Inhalt nicht der sinnlichen Anschauung, sodass es ihrer Zufälligkeit und Vergänglichkeit nicht unterworfen wird; dagegen bildet es sich als eine unendliche Tätigkeit heraus, die, wie Fichte sagt, „sich selbst schlechthin setzt“, die sich in ein System von (reinen) Begriffen, (apriorischen) Urteilen, (disjunktiven) Schlüssen und Vernunftideen entfaltet, deren Unterschiede voneinander auch die Form des Gegensatzes und des Widerspruchs annehmen können und müssen, ohne deswegen die ursprüngliche Identität des reinen Aktes des Denkens zu unterminieren. Die absolute Identität des Inhalts des philosophischen Wissens fällt also letztlich mit der absoluten Identität desjenigen „Ich denke“ zusammen, das nach Kant eine Vorstellung ist, „die alle andere muß begleiten können und in allem Bewusstsein ein und dasselbe ist“.9 Das von Spinoza ursprünglich formulierte tiefgründige metaphysische Prinzip, dass „ordo, et connexio idearum idem est, ac ordo, et connexio rerum“,10 nämlich das Prinzip der absoluten Identität von Sein und Denken, bildet so die zweite Grundannahme der Philosophie des Deutschen Idealismus. Darin sind unmittelbar zwei Implikationen von höchster philosophischer Bedeutung enthalten. Erstens, insofern sich die Identität des Absoluten von der des Denkens, das der schaffende Grund der Ideen ist, nicht (oder besser gesagt: nur relativ) unterscheidet, muss Ersteres als „Idee“ konkreter bestimmt werden: die absolute Idee ist deshalb das wahre Prinzip und Gegenstand der Philosophie, und folglich ist der „Idealismus“ nicht nur eine der möglichen geschichtlich gegebenen Tendenzen des philosophischen Denkens, neben z. B. dem Empirismus, dem Materialismus, dem Theismus, usw., sondern, wie Hegel emphatisch behauptet, die einzige real mögliche und denkbare Form der Philosophie: „Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus, oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist. […] Der Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie ist daher ohne Bedeutung. Eine Philosophie, welche dem endlichen Dasein als solchem wahrhaftes, letztes, absolutes Sein zuschiebe, verdiente den Namen Philosophie nicht“.11 Zweitens, in der Geschichte der abendländischen Philosophie wurde das reine Denken in der Regel als das eigentümliche Objekt einer Einzelwissenschaft, der „Logik“, betrachtet, während das Wesen der Wirklichkeit den Gegenstand der „Königin der Wissenschaften“, nämlich der „Metaphysik“, ausmachte. Diese herkömmliche Unterscheidung, diese Trennung der theoretischen Bereiche der beiden Wissenschaften wird durch den Deutschen Idealismus aufgehoben, in welchem Logik und Metaphysik letztlich absolut zusammenfallen.

2.3. Um den Begriff des Absoluten zu erklären, haben wir es soeben dem des Relativen entgegengesetzt und als deren Kennzeichen die Identität mit sich beziehungsweise die Beziehung auf Anderes, also den Unterschied seiner von sich selbst, angegeben. Diese Bestimmung ihrer Differenz ist, obwohl sie formell korrekt ist, einseitig, denn im logischen Verhältnis des Gegensatzes ist die Identität der Gattung den entgegengesetzten Arten an sich immanent. Wenn sie für sich als ihr gemeinsames Subjekt gesetzt wird, geht er zum Widerspruch über. Das bedeutet, dass das Absolute und das Relative, obwohl sie voneinander verschiedene Denkbestimmungen sind, wenigstens in einer Hinsicht identisch sind, sodass sie keineswegs dualistisch entgegengesetzt werden müssen, wie es dagegen bei der „vormaligen Metaphysik“ und dem transzendenten Theismus in der Regel der Fall war, nach welchen sich das Absolute und das Relative in der Tat als zwei heterogene, bloß nebeneinander gesetzte „res“ gestalten: unendlich und ewig die erstere, endlich und vergänglich die letztere; der transzendente persönliche Gott einerseits, die von ihm wesentlich verschiedene, durch eine willkürliche und unergründliche Entscheidung von ihm geschaffene Welt andererseits. Denn in einem solchen Fall würde die Unendlichkeit des Absoluten durch das heterogene Dasein des Endlichen begrenzt, und selbst zu einer Endlichkeit herabsinken; während das Wesen des Endlichen, als von dem des Unendlichen getrennten, sich nur in sich selbst reflektieren, und sich so als etwas Unendliches selbstwidersprüchlich setzen würde. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang an den sich selbst aufhebenden Grundsatz von A. Comte zu erinnern: „Alles ist relativ; das ist das einzige absolute Prinzip!“ Weit also davon entfernt, das Relative von sich auszuschließen, verleibt es dagegen das Absolute in sich selbst als ein integrierendes Moment seiner selbst ein. Folglich gestaltet sich seine Sichselbstgleichheit als eine „konkrete“ Identität, nämlich als eine Identität, die in sich selbst einen Unterschied enthält oder, besser gesagt, als eine unendliche Totalität, die das Endliche als ein aufgehobenes Moment ihrer selbst in sich selbst setzt. Das logische Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen kann aber in drei differenten Weisen aufgefasst werden, nämlich als ein bloßes Aggregat von ursprünglich unabhängigen Teilen oder als eine unbestimmte Einheit, in welcher die Teile zu einem unwesentlichen Schein herabgesetzt werden, oder als eine organische und systematische Totalität. Das erste Verhältnis, das die Grundlage der Metaphysik des naturalistischen Pantheismus ausmacht, und das die ursprüngliche Wirklichkeit der Teile behauptet, trägt keine Rechnung der Tatsache, dass sie dagegen mannigfaltig und folglich etwas bloß Negatives sind. Das zweite Verhältnis, auf das sich der akosmische Pantheismus gründet, ist nicht weniger selbstwidersprüchlich, denn indem es die Bestimmtheit des Endlichen in die unbestimmte Identität des Absoluten auflöst, also die Notwendigkeit und Bedeutung des Unterschieds als solchen negiert, vernichtet er notwendigerweise auch die Differenz selbst zwischen dem Absoluten und dem Relativen und folglich auch jeden wahren Unterschied zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem reinen Denken und der Einbildungskraft, dem Guten und dem Bösen, usw. Ferner, insofern die Bestimmtheit dem Akt des Denkens nicht weniger wesentlich ist als die Unendlichkeit, ist ein unbestimmtes Absolute grundsätzlich undenkbar; was dasjenige Prinzip der absoluten Identität von Sein und Denken verletzt, das, wie wir gesehen haben, die Grundbedingung der Möglichkeit der Philosophie als absoluten Wissens ist. Wie Fichte in der Wissenschaftslehre 1804 scharfsinnig bemerkte, kann die unbestimmte Identität des Absoluten nur durch eine (in Wahrheit unmögliche) „Vernichtung des Begriffs“,12 d. h. den Selbstmord des Denkens, angeschaut werden. Die wesentliche, substanzielle Immanenz des Absoluten im Relativen kann und muss daher nur durch ein anderes logisches Verhältnis aufgefasst werden, nämlich dasjenige, das das Absolute als eine organische Totalität gestaltet, die sich in eine Mannigfaltigkeit von besonderen, relativen und negativen Differenzen unterscheidet, aber sich in jeder von ihnen in sich selbst reflektiert, sie also in einen inneren Zusammenhang setzt, durch welchen sie sich als (relative) Totalitäten gestalten, während sich das Absolute weder als eine „Totalität der Empirie“ noch als ein unbestimmtes Ganzes, sondern als eine Totalität von Totalitäten bestimmt: „totus in toto et in qualibet parte“, wie der alte lateinische Spruch lautet. Nicht anders als die beiden vorhergehenden Auffassungen verneint auch diese dritte Bestimmung des Verhältnisses des Absoluten zum Relativen die Wirklichkeit eines dem Endlichen transzendenten Absoluten und so macht sie das Hauptprinzip einer Philosophie der „absoluten Immanenz“13 aus, um einen prägnanten Ausdruck des italienischen Philosophen Giovanni Gentile zu benutzen. In diesem Sinne entscheidet sie sich in der Alternative zwischen „Theismus“ und „Pantheismus“ für Letzteren; da sie sich aber sowohl vom naturalistischen als auch vom akosmischen Pantheismus wesentlich unterscheidet, habe ich anderswo14 vorgeschlagen, sie bestimmter den „idealistischen Pantheismus“ zu benennen.

2.4. Das Absolute setzt sich dem Relativen, das Unendliche dem Endlichen entgegen; aber die Beziehung des Gegensatzes impliziert die ihrer Identität, und deshalb habe ich auch behauptet, dass das Absolute, das Unendliche im Relativen und im Endlichen wesentlich präsent und immanent ist, und dass das Relative, das Endliche, umgekehrt, obwohl es das kontradiktorische Entgegengesetzte des Absoluten, des Unendlichen ist, dennoch in es als ein organischer Teil oder ein lebendiges Glied desselben eingeschlossen wird. Wie ist das aber möglich? Verletzt die metaphysische Logik des Deutschen Idealismus den aristotelischen Satz des Widerspruchs nicht offensichtlich, nach welchem, wie Kant ihn genauer formulierte, „keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht“,15 obwohl er zugab, dass dies möglich wäre, wenn es nicht „zugleich“ stattfände? Denn es ist klar, dass, da das Absolute ein zeitloses Wesen ist, es unmöglich ist, zwei verschiedene Zeiten in ihm zu unterscheiden, in welchen es mit dem Unendlichen beziehungsweise mit dem Endlichen identisch wäre. Ihr Verhältnis ist also unleugbar widersprüchlich; was nichtsdestoweniger – im Unterschied zu dem, was die alten und neuen Befürworter des analytischen Satzes des Widerspruchs behaupten – keineswegs impliziert, dass es falsch ist. Denn der Begriff des Widerspruchs ist wesentlich zweideutig. Die erste Bedeutung desselben, nach der er gewiss ein „index falsi“ ist, und als solcher dem Satz des Widerspruchs unterliegt, ist, dass zwei an sich heterogene und unmittelbar ausschließliche Prädikate einem und demselben Subjekt zufälligerweise zugeschrieben werden, z. B.: „Sokrates ist Athener“ und „Sokrates ist Römer“. Aber different, und sogar entgegengesetzt, ist der Fall bei einer anderen Art von Widerspruch, die nicht nur die logische Wahrheit jenes Satzes nicht verletzt, sondern geradezu das Organ selbst des philosophischen Denkens ist, insofern sich dies ausdrücklich als ein „spekulatives Wissen“ gestaltet: Denn in und durch einen solchen „Widerspruch“ offenbaren sich die sich unmittelbar ausschließenden Entgegengesetzten als in Wahrheit innerlich verbunden, als komplementäre Aspekte oder „Momente“ einer und derselben konkreten Identität oder Totalität, die tatsächlich eine solche nur insofern ist, als sie beide nicht als unmittelbare Existenzen, sondern als innere Differenzen ihrer organischen Einheit enthält. Ein Beispiel: ein Bild ist und ist nicht zugleich das Original: es ist nicht das Original, weil es nur sein Bild ist; aber es ist das Original, weil es Letzteres in sich selbst vorstellt. Was das reine Denken wirklich denkt, ist also weder die leere, tautologische Identität von Begriffen, die die entgegengesetzten Bestimmungen ausschließen, noch die bloße Antinomie oder der „unaufgelöste Widerspruch“, in welchem an sich heterogene Prädikate demselben Subjekt zufälligerweise zugeschrieben werden, sondern ein einziger, kontinuierlicher Prozess des Denkens, d. h., die unendliche Tätigkeit der absoluten Idee, die den kontradiktorischen Gegensatz ihrer Bestimmungen unmittelbar setzt, aber mit gleicher Notwendigkeit den Widerspruch auflöst, ihren Streit „versöhnt“, indem sie sie in unterschiedliche, aber integrierende Aspekte einer und derselben in sich kohärenten und allumfassenden Totalität verwandelt.

Das Absolute ist also möglich und denkbar nur als Idee; und die absolute Idee ist möglich und denkbar nur als Werden, Prozess, „Selbstbewegung“, immanente Entwicklung. Ein solches Werden aber muss nicht (wie es leider bei manchen jüngsten Auslegungen der Hegelschen Philosophie der Fall ist) mit der Zeitlichkeit der Natur, der Geschichte oder des endlichen Geistes verwechselt werden: Da die absolute Idee eine ewige Wahrheit und Wirklichkeit ist, wird auch ihr immanenter Prozess ein ewiger sein. Gegen diejenigen, die wie A. Trendelenburg die grundsätzliche Möglichkeit eines ewigen Werdens verneinen,16 indem sie es zu einem erschlichenen Bild der sinnlichen Bewegung herabsetzen, kann man einwenden, dass sie den wesentlichen Unterschied zwischen beiden unrechtmäßig ignorieren. Denn während sich das zeitliche Werden, insofern es in der Form der sinnlichen Anschauung verläuft, in eine „lineare“ Aufeinanderfolge von zufälligen Ereignissen dirimiert, nimmt der ewige Prozess der Idee – wie es bei jedem Nexus von innerer Zweckmäßigkeit der Fall ist – die Form eines „Kreislaufes“ an, in welchem sein absoluter Endzweck, der am Anfang noch ein bloßes Ansichsein ist und in den nachfolgenden Phasen seiner Selbstverwirklichung sich entäußert, in der letzten, die sein Resultat ist, in sich selbst zurückkehrt, und so sein Ende mit seinem Anfang identifiziert, was im Fall des zeitlichen Werdens grundsätzlich unmöglich ist, denn in ihm bringt der Tod des natürlichen Individuums seine Wiedergeburt nicht hervor.

Details

Seiten
166
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631891650
ISBN (ePUB)
9783631891667
ISBN (Hardcover)
9783631891414
DOI
10.3726/b20276
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Juni)
Schlagworte
Metaphysik Deutscher Idealismus Romantische Kunstform Gesamtkunstwerk Italienische Ästhetik Britische Ästhetik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 166 S.

Biographische Angaben

Giacomo Rinaldi (Autor:in)

Giacomo Rinaldi, 1954 in Bergamo geboren, ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Urbino und ‚Honorary Senior Research Fellow of the Archive of Caucasian Philosophy and Theology of the New Georgian University’. In zahlreichen, auf Italienisch, Englisch und Deutsch verfassten Büchern und Artikeln hat er die Prinzipien des philosophischen Idealismus theoretisch-systematisch dargestellt und ihre Verwirklichung in der Geschichte der abendländischen Philosophie kritisch rekonstruiert.

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