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Hieronymus' Witwenbüchlein für Salvina (epist. 79)

Text, Übersetzung, Einführung und Kommentar

von Philip Polcar (Autor:in)
©2022 Dissertation 376 Seiten

Zusammenfassung

Was schreibt man einer trauernden, kaiserlichen Witwe? Wie macht man ihr ein asketisches Leben schmackhaft und bringt sie dazu, obwohl man sie persönlich nicht kennt, mit einem Freundschaft zu schließen? Derartige Fragen dürfte sich Hieronymus gestellt haben, als er sich ca. im Jahre 399 brieflich an die Dame Salvina wandte. Diese kunstvoll gestaltete Epistel nimmt Philip Polcar in ihren Details und großen argumentativen Linien in den Blick. Sie ist ein Kleinod der spätantiken Konsolationsliteratur und gleichzeitig ein Werbetraktat für eine lebenslange Keuschheit. Die individuellen Trostgedanken und Ratschläge entpuppen sich als Zugang zur asketischen Frömmigkeit und zur Kommunikation unter Gebildeten in der christlich werdenden Spätantike.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Zu diesem Buch
  • 1.2 Hieronymus: Leben5
  • 1.3 Die lateinische Epistolographie und Hieronymus’ epist. 79
  • 2 Text und Übersetzung
  • 2.1 Bemerkungen zum Text
  • 2.2 Text und Übersetzung
  • 3 Die Adressatin: Herkunft, Leben und Wirken
  • 3.1 Gildo, Salvinas Vater
  • 3.2 Salvina
  • 3.3 Nebridius, Salvinas verstorbener Ehemann
  • 3.4 Salvinas Entscheidung zur Witwenschaft
  • 4 Taxonomie und epist. 79
  • 4.1 Vorüberlegungen
  • 4.2 Konsolation und Totenlob
  • 4.3 Aufforderung und Rat zur keuschen Witwenschaft
  • 4.4 Fazit
  • 5 Wie ein Kamel durch’s Nadelöhr geht: Der Brief als Anfrage nach finanzieller Unterstützung und amicitia
  • 5.1 Kirchenmänner und reiche Gönnerinnen
  • 5.2 Armer Mönch sucht superreiche Witwe
  • 6 Zur Datierung des Briefes
  • 6.1 Forschungsstand
  • 6.2 Neue Aspekte: Nebridius’ Amt und Fabiolas Tod
  • 7 Hieronymus’ Witwentrilogie
  • 7.1 Schriften für Witwen
  • 7.2 Adel verpflichtet
  • 7.3 Fornicatio, Deliciae und der Tod der Seele
  • 7.4 Die zweite Ehe als Zugeständnis
  • 7.5 Das Problem der 60-jährigen Witwe
  • 7.6 Das Problem der Nachkommenschaft
  • 7.7 Eheschelte (Misogamie)
  • 7.8 Almosen
  • 7.9 Exempla: Biblisch
  • 7.10 Exempla: Zeitgenossen
  • 7.11 Praktische Ratschläge: Gerüchte
  • 7.12 Praktische Ratschläge: Gesellschaft mit Freien und Unfreien
  • 7.13 Praktische Ratschläge: Essensregeln/Fasten
  • 7.14 Praktische Ratschläge: Bibelstudien
  • 7.15 Praktische Ratschläge: Erscheinungsbild
  • 7.16 Überblick und Schlussfolgerungen
  • 7.17 Zur Sondersituation von epist. 123
  • 8 Kommentar
  • 8.1 Vorbemerkungen
  • 8.2 Titel
  • Ad Salvinam
  • 8.3 Abschnitt 1
  • 8.4 Abschnitt 2
  • 8.5 Abschnitt 3
  • 8.6 Abschnitt 4
  • 8.7 Abschnitt 5
  • 8.8 Abschnitt 6
  • 8.9 Abschnitt 7
  • 8.10 Abschnitt 8
  • 8.11 Abschnitt 9
  • 8.12 Abschnitt 10
  • 8.13 Abschnitt 11
  • 9 Schluss
  • 10 Bibliographie
  • Index nominum
  • Reihenübersicht

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1 Einleitung

1.1 Zu diesem Buch

Ein grundlegendes Arbeitswerkzeug der textbasierten Altertumswissenschaften ist der Kommentar. Was aber bei vielen klassischen Autoren selbstverständlich ist, nämlich dass jedes ihrer Werke ausführlich und gar mehrfach kommentiert wurde, ist bei den lateinischen Kirchenvätern, auch bei Hieronymus, noch in weiter Ferne.1 Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu schließen. Arbeiten von Scourfield, Adkin und Cain haben bereits demonstriert, wie nützlich Kommentare zu einzelnen Hieronymusbriefen sein können.2 Denn nur anhand von präzisem, den Textdetails und sprachlichen Effekten nachspürendem Lesen kann eine solide Arbeitsgrundlage für Philologen, Theologen und Historiker geschaffen werden. Das Forschungsobjekt vorliegenden Buches ist die allgemein unterschätzte epist. 79, die zwar im Vergleich zu den bereits kommentierten Briefen (epist. 1, 22, 52, 60, 108) literarisch weniger kunstfertig gestaltet ist, dafür aber andere Merkmale aufweist, die für die Forschung von Interesse sind.3

Methodisch wurde also der Text als Objekt in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, wodurch sich die Struktur der Arbeit fast von selbst ergab. Dementsprechend stehen Text und Übersetzung, nach einigen allgemeinen Bemerkungen in dieser Einleitung (Kapitel 1.2 f.), als Ausgangspunkt am Anfang der Arbeit (Kapitel 2). Aber nicht alle Fragen und Probleme, die bei der Lektüre von epist. 79 entstehen, können ausreichend umfangreich im zur Knappheit verpflichteten Zeilenkommentar besprochen werden. Daher gehen ihm die Kapitel 3 bis 7 voraus: In Kapitel 3 werden die Quellen zu Salvina und ihrem Mann Nebridius einer genauen (Neu-) Interpretation unterzogen. Kapitel 4 behandelt die Frage, um was für eine Art von Brief es sich bei epist. 79 überhaupt handelt und inwiefern sich er und andere hieronymianische Briefe klassifizieren lassen. Kapitel 5 liefert eine insgesamt neue Interpretation der Intention des Hieronymus für das Verfassen der epist. 79. Das Schreiben wird im Kontext der im späten 4. Jahrhundert verstärkt feststellbaren Geldakquise durch Kirchenmänner beleuchtet und mit anderen Texten des Hieronymus kontextualisiert, besonders solchen, die aus den ←11 | 12→390ern stammen. Die von ihm vermehrt propagierte Lehre der pauperes sancti spielt dabei eine zentrale Rolle. In Kapitel 6 wird kurz die mit Problemen behaftete Datierung der epist. 79 diskutiert. Kapitel 7 kontextualisiert den Brief ausführlich mit zwei anderen Briefen an Witwen, nämlich epist. 54 und 123, mit denen von einer „Witwentrilogie“ gesprochen werden kann. Die Untersuchung zeigt, welche größeren Themen ein hieronymianisches „Witwenbüchlein“ ausmachen, wer damit angesprochen werden sollte, ob der Kirchenvater seine Werke aufeinander abstimmte und welche konkreten Umstände zum Inhalt der einzelnen Schriften geführt haben.

In Kapitel 8 folgt das eigentliche Herzstück des Buches: der Zeilenkommentar. Er ist als „guided reading“ konzipiert – eine Auswertung des Textes, die philologische, historische und theologische Probleme diskutiert. Geboten wird eine Erklärung von Sprache und Ausdruck mit Blick auf das Gesamtwerk des Hieronymus und auf die (lateinische) Literatur der Antike.4 Zum Verständnis von epist. 79 ist aber auch immer eine Erläuterung des von Hieronymus’ zugrunde gelegten Bibeltextes nötig, da der Kirchenvater in seinen zahlreichen Anspielungen und Exempla dessen Kenntnis voraussetzt. Schließlich bietet der Kommentar eine Fülle von kulturgeschichtlichen Informationen. Insgesamt richtet sich das Buch an Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich auf Hieronymus, auf Frauen in der Spätantike, auf kirchliche Finanzen, Askese, Ehe und Witwenschaft, Trost und Eschatologie spezialisiert haben.

1.2 Hieronymus: Leben5

Eusebius Hieronymus von Stridon (ca. 347 – ca. 419) wird von der Römisch-Katholischen Kirche neben Ambrosius, Augustinus und Gregor I unter die Großen Kirchenlehrer gezählt. Diesen Status hat er vor allem der Übersetzung und Neubearbeitung von Bibeltexten zu verdanken, seine vielleicht nachhaltigste Arbeit, ironischerweise gleichzeitig eine, für die er von Zeitgenossen besonders stark kritisiert und angefeindet wurde. Neben seinem Interesse für Bibelwissenschaft, die er mit durchaus fortschrittlichen Methoden betrieb,6 widmete er einen großen Teil seines Schrifttums dezidiert der Askesebewegung.

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Geboren wurde Hieronymus in Stridon als ältester Sohn einer wohlhabenden Familie. Er hatte einen Bruder namens Paulinianus und eine namentlich unbekannte Schwester. Stridon wurde im Zuge des Goteneinfalls um das Jahr 379 wohl vollständig zerstört und konnte bisher nicht lokalisiert werden. Man vermutet es im Grenzgebiet des heutigen Slowenien und Kroatien, unweit von Ljubljana, dem damaligen Emona.

Hieronymusʼ Familie war wohlhabend genug, um ihn zur Ausbildung nach Rom zu schicken. Dort studierte er Grammatik und Rhetorik beim berühmten Grammatiker Aelius Donatus.7 Anschließend, wohl 366, zog er nach Trier, wahrscheinlich weil er in der Reichsverwaltung eine Karriere anstrebte. Hier muss es zu seiner asketischen Bekehrung gekommen sein, denn Hieronymus gab seine Karrierepläne auf und schloss sich schließlich einem monastischen Zirkel in Aquileia an.8 Während seines Aufenthaltes in Norditalien schloss er neue Freundschaften in asketischen Kreisen. Zu seinen neuen Freunden zählte auch Evagrius von Antiochia, von dessen Unterstützung er in den nächsten Jahren stark profitierte. Wohl 372 begann Hieronymus eine Pilgerreise ins Heilige Land, die er aber wegen Krankheit vorzeitig abbrach und sich in Antiochia bei Evagrius aufhielt. Hieronymus lernte in dieser Zeit möglicherweise Hebräisch9 und verbesserte sein Griechisch10; förderlich war gewiss, dass er in einem griechischsprachigen Haushalt lebte und Vorlesungen bei Apollinaris von Laodicea hörte.11 Auch ist in diese Zeit, wohl 378/379, sein „Wüstenaufenthalt“ zu datieren, den er in seiner Selbstdarstellung effektiv verwendete und der ihm später in Rom unter den asketisch interessierten aristokratischen Damen Beachtung einbrachte.12 Es gilt aber als akzeptiert, dass Hieronymus eher in Wüstennähe auf dem Landgut des Evagrius gelebt haben muss, nicht wirklich zwischen „Schlangen und Skorpionen“.13 Einige Briefe und die vita Pauli, die Hieronymus frühe Bekanntheit als asketischer Schriftsteller einbrachte, verfasste er in dieser Zeit. Auch ließ er sich zum Priester weihen. Im Jahr 379 zog Hieronymus nach Konstantinopel, wo er beim Konzil von 381 zugegen war. Hier lernte er unter anderem Gregor von Nazianz kennen, den er stolz zu ←13 | 14→seinen Lehrern zählte.14 Für vorliegende Arbeit ist ferner relevant, dass Hieronymus auch Nebridius maior, den Vater des Verstorbenen aus epist. 79, in dieser Zeit kennengelernt haben dürfte, mit dem er laut eigener Aussage intima necessitudine verbunden war.15 Auch seine Freundschaft zum sonst unbekannten Avitus dürfte während seiner Zeit in Konstantinopel ihren Anfang genommen haben; von Avitus ging jedenfalls der Anstoß zur Abfassung von epist. 79 aus.16 Mit Paulinus von Antiochia und Epiphanius von Salamis reiste Hieronymus 382 nach Rom, wo er mit Marcella und ihrem aristo-asketischen Kreis auf dem Aventin in Berührung kam. Er lernte hier auch Paula kennen, eine asketische Dame, die den Großteil seines und ihres Lebens an seiner Seite verbringen sollte. Bis 384 stand Hieronymus im Dienst von Bischof Damasus, dessen Tod Hieronymus seinen zahlreichen Feinden auslieferte. Hieronymus musste Rom 385 aufgrund eines Skandals verlassen und ließ sich schließlich mit Paula in Bethlehem nieder, wo sie drei Klöster und ein Pilgerhospiz gründeten. Hier sollte er „das Abendland mit glänzenden wissenschaftlichen Leistungen beschenken“17: Die meisten seiner Werke verfasste er hier als Zönobit am praesepe Christi.18 Er verstarb mit über 70 im Jahr 419 oder 420.

1.3 Die lateinische Epistolographie und Hieronymus’ epist. 79

Das Feld der antiken Epistolographie ist komplex.19 Was unter dem Terminus „Brief“ klassifiziert wird, zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt an Texten aus.20 Schon antike Vorschriften sind vage und werden oft nur nach Belieben von den Verfassern befolgt.21 Auch die viel zitierte Distinktion Deissmanns zwischen Brief und Epistel ist rigide und überholt.22 Überhaupt den Begriff „Gattung“ zu verwenden, ist problematisch. Wilson schlägt deshalb vor, von einem „Gattungscluster“ zu sprechen.23 Andere Wissenschaftler/innen haben sich bemüht, alternative Termini zu finden. Conring hat in ihrer Arbeit zu Hieronymus’ epistolographischen Œuvre den ←14 | 15→textlinguistischen Begriff „Textsorte“ vorgeschlagen.24 Als „Transform“ beschreibt Derhard den antiken Brief, entschließt sich aber aus pragmatischen Gründen dazu, den Terminus Gattung zu verwenden.25 In dieser Arbeit soll denjenigen gefolgt werden, die von einer „Textform“ oder einem „Textformat“ sprechen.26

Letztlich hat sich der Fokus der Forschung von der Gattungsproblematik verlagert und sich nicht mehr nur auf den einzelnen Brief, sondern ganze Briefsammlungen gerichtet, eine methodische Umorientierung, die es gestattet, Briefsammlungen als literarische Werke und möglicherweise sogar als eigenständige literarische Gattung zu begreifen.27 Beim Herausgeber kann es sich um den Autor selbst gehandelt haben, wie im Falle von Plinius, der seine Prosabriefe eigens auswählte und in mehreren Büchern zirkulieren ließ, um sich selbst als erfolgreichen Alleskönner der römischen Gesellschaft zu porträtieren; er achtete bei der Anordnung seiner Briefe auf thematische varietas, um den Lesegenuss zu optimieren.28 Oft handelt es sich bei dem Herausgeber aber um eine dritte Person, welche die Episteln sammelte und, manchmal postum, veröffentlichte; das bekannteste Beispiel dafür ist Cicero, der zwar selbst mit dem Gedanken einer Veröffentlichung spielte, für die Zirkulation des 914 Briefe in fünf Sammlungen umfassenden Corpus aber gewiss nicht selbst verantwortlich war. Möglicherweise wurden die 426 Episteln ad Atticum in 16 Büchern gegen Ende des augusteischen Prinzipats veröffentlicht (14 n. Chr.), die Briefe ad familiares gar erst gegen Ende der Herrschaft des Tiberius (37 n. Chr.).29

Die Briefsammlungen von Cicero und Plinius wurden zu Musterbeispielen der Epistolographie in der lateinischen Spätantike, einer Epoche, aus der Briefsammlungen in großem Umfang überliefert sind. Hieronymus selbst hat, wie einige seiner Zeitgenossen, umfangreiche Corpora hinterlassen: Zehn Bücher Briefe des Ambrosius von Mailand (339–397) sind überliefert, die er möglicherweise gegen Ende seines Lebens selbst publiziert hat.30 Umstritten ist, ob er sich bei der thematischen Anordnung der Episteln ←15 | 16→an der varietas des Plinius orientierte.31 Die Briefsammlung bot jedenfalls abwechslungsreichen Lesestoff für den Geschmack der Oberschicht, aber richtete sich inhaltlich nach dem Vorbild des ersten christlichen Theologen, Paulus, der Briefe als Mittel für Exegese, Predigten und Missionstätigkeit in absentia – und damit auch zur Festigung seiner Autorität – nutzte.32

Paulinus von Nola sammelte und publizierte seine Briefe nicht selbst.33 Dennoch zirkulierten Sammlungen seiner Schreiben. Wahrscheinlich fanden Zeitgenossen Stil und Inhalt derart ansprechend, dass das Bedürfnis bestand, an den Gedanken des asketischen Aristokraten teilhaben zu können. Diese Briefsammlungen beinhalteten neben Prosabriefen auch poetische Episteln, etwa den versifizierten Austausch zwischen Paulinus und seinem Lehrer Ausonius, der auch selbst ein Briefcorpus hinterlassen hat.34

Der wohl nachhaltigste Kirchenlehrer der Zeit, Augustinus von Hippo, hinterließ, je nach Zählung, 309 Briefe in seinen Briefsammlungen, von denen 252 aus seiner Hand stammen; trotz der beachtlichen Anzahl handelt es sich nur um einen Bruchteil seiner schriftlichen Kommunikation, besonders aus der Zeit seines Episkopats zu Hippo, die seine amtliche Tätigkeit dokumentieren.35 Unter diesen Briefen lassen sich anhand der handschriftlichen Tradition Briefsammlungen ausmachen.36 Inwiefern Augustinus selbst für die Zirkulation dieser Sammlungen verantwortlich war, ist ungewiss. Einige der Briefe werden wohl von Augustinus selbst gruppiert und publiziert worden sein, andere Briefsammlungen von seinen Adressaten.37 Johannes Divjak hat vorgeschlagen, es könnte eine „Standardsammlung“ gegeben haben, die sich aus 120 bis 140 Briefen zusammensetzte und dem bischöflichen Archiv in Hippo entnommen wurde, vielleicht ohne Einwirken des Autors selbst.38 Dies lässt sich letztlich aber nicht belegen.

Hieronymusʼ Ruhm geht zwar vor allem auf seine Leistungen im Verfassen von Bibelübersetzungen und Kommentaren zurück,39 seine literarische Meisterschaft zeigt sich jedoch besonders anhand seiner Briefe, die von stilistischer Virtuosität und leidenschaftlicher Rhetorik geprägt sind.40 ←16 | 17→123 genuin hieronymianische Briefe sind überliefert.41 Andrew Cain hat dargelegt, dass Hieronymus seine Briefe selbst als Vehikel zur Selbstrepräsentation nutzte und dadurch sein öffentliches Bild wie seine kirchliche Autorität konstruierte.42 Es ist davon auszugehen, dass die überlieferten Episteln zum überwiegenden Teil von ihm, oft von vornherein, zur Veröffentlichung bestimmt und nach auktorialen editorischen Eingriffen zur Zirkulation freigegeben wurden. Der Modus der Publikation differierte von Fall zu Fall: Teils veröffentlichte er seine Episteln in kleineren, mehrere Stücke umfassenden Briefsammlungen, wie den liber ad diversos (epist. 2–15, 16/17), ein Werk, mit dem er sich selbst als gebildeter Römer, zuverlässiger amicus, Wüstenasket und Kämpfer für die Orthodoxie stilisierte, oder wie den ad Marcellam epistularum liber (epist. 23–29, 32, 34, 38, 40–44), ein Büchlein, mit dem er u.a. seine Präsenz im asketischen Kreise Marcellas in Rom zumindest textlich aufrechterhielt.43 Doch viele seiner Briefe, die auch für Hieronymus überdurchschnittlich lang ausfielen, wurden auch einzeln veröffentlicht, beispielsweise der liber ad Eustochium de virginitate servanda (epist. 22), wohl Hieronymus’ nachhaltigster Text für asketisch interessierte aristokratische Römerinnen;44 oder der Nachruf auf seine asketische Lebensgefährtin Paula, epist. 108, mit dem er versuchte, Paula als Heilige darzustellen und möglicherweise einen Kult für sie anzustoßen.45 In diese Gruppe von libri fällt konzeptuell auch dasjenige Schreiben, das vorliegende Arbeit zum Thema hat, ad Salvinam (epist. 79). Wie die zuvor genannten Beispiele weist auch dieser Text einen zentralen Aspekt von Hieronymusʼ Episteln auf: Briefe waren sein wichtigstes Instrument im Kampf um die Durchsetzung asketischer Normen in der römischen Gesellschaft.46 Einer der Gründe für die Wahl des Briefformats dürfte seine anpassungsfähige Form gewesen sein, denn sie erlaubte es Hieronymus, seine Anliegen zu verschiedenen, oft Virginitätsideale betreffenden Themen mit seinen ←17 | 18→hervorragenden rhetorischen Fähigkeiten recht frei von gattungsbedingten Zwängen an sein Publikum heranzutragen. Diese Briefe, oft de facto Traktate, dienten zur Belehrung, Erbauung und manchmal sogar zur Unterhaltung seines asketisch interessierten Publikums. Die persönliche Dimension zwischen Sender und Empfänger ist trotz aller propagandistischer Aspekte im Dienste der Askese und Hieronymusʼ Selbstdarstellung nicht zu vernachlässigen.47 Es ist stets abzuwägen, inwiefern der Brief tatsächlich auch als solcher verfasst und über den üblichen Botenweg überbracht wurde.48 Im Falle von Salvina (epist. 79) sprechen Aufbau und Inhalt des Briefes dafür, dass das Schreiben, trotz der schon beim Verfassen vorhandenen Einbezugnahme eines weiteren Publikums, auch auf der persönlichen Ebene funktionierte. Es darf vorweggenommen werden, dass Hieronymus sich erhofft hatte, in Salvina eine weitere reiche und einflussreiche Patronin zu finden.49 Mit einer solchen Intention ist eine Übermittlung des Briefes als persönliches Schreiben zwingend Voraussetzung.

Der Brief an Salvina (epist. 79) hat in der Forschung wenig Aufmerksamkeit bekommen. Er findet sich immer wieder in marginalen Bemerkungen und fristet bisweilen das Schicksal eines „u.a.-Texts“.50 Das mag damit zusammenhängen, dass epist. 79 im Vergleich zum Witwenbüchlein an Furia (epist. 54) und anderen Schriften, die Jungfräulichkeit und Witwenschaft zum Thema haben (epist. 22, adversus Iovinianum), rhetorisch weniger ansprechend ausgearbeitet ist. Zudem finden sich in früheren Texten schon die meisten Argumente und Ideen zur keuschen Witwenschaft. Hieronymus liefert in diesem Text wenig Neues. Vorliegende Arbeit wird aber zeigen, dass und warum epist. 79 als zweiter Teil seiner Witwentrilogie einen vom Autor selbst als relevant betrachteten Platz in seinem asketischen Werk einnimmt.51 Diese Mittelposition stellt auch einen guten Ausgangspunkt dar, um das hieronymianische Witwenœuvre als Ganzes zu betrachten und Fragen zu Komposition, Intention und Rezeption zu untersuchen.

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Zu bemerken ist auch, dass sich im hieronymianischen Briefcorpus kein zweites Schreiben findet, das Konsolation und Witwentraktat miteinander kombiniert, was epist. 79 zu einer einzigartigen thematischen Komposition macht. Diese Individualität in Form und Inhalt kennzeichnet generell Hieronymus’ Episteln und lässt erkennen, warum er das Briefformat bevorzugte und wie er es innovativ für seine Anliegen nutzte – ergo auch, wie sich Hieronymus’ Episteln einer Klassifizierung entziehen: Ihr zentrales Merkmal ist eben ihre anliegenorientierte Individualität und ihr Facettenreichtum.52

Details

Seiten
376
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631869369
ISBN (ePUB)
9783631869376
ISBN (Hardcover)
9783631860489
DOI
10.3726/b19203
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Christliche Askese Keusche Witwenschaft Konsolationsliteratur Kirchliche Finanzen Reichtum und Almosen Frauen und Kirche Kirchenväter Zeilenkommentar Epistolographie Ehe
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 376 S., 2 s/w Abb., 2 Tab.

Biographische Angaben

Philip Polcar (Autor:in)

Philip Polcar studierte Latein, Englisch und Geschichte – später auch Gräzistik – und wurde mit vorliegender Arbeit im Fach Latinistik an der Universität Konstanz promoviert. Er war Assistent am Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein der Universität Wien. In Folge lehrte er dort Latein und war später als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Projekten The Cult of Saints in Late Antiquity (Universität Warschau) und Der apokryphe Sonntag in der Spätantike und im frühen Mittelalter (Universität Wien) sowie am CSEL (Universität Salzburg) tätig. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der patristischen Literatur mit Blick auf Rhetorik, Reichtum, Macht und kirchliche Autorität.

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Titel: Hieronymus' Witwenbüchlein für Salvina (epist. 79)
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