Lade Inhalt...

Psychologen im Konzentrationslager – Methoden und Strategien des Überlebens

von Frank Wiedemann (Autor:in)
©2017 Dissertation 827 Seiten

Zusammenfassung

In der Studie wird anhand von Fallbeispielen (Ernst Federn, Viktor Frankl, Ella Lingens, Louis Tas) untersucht, inwieweit «psychologisch» Ausgebildete – neben den Psychologen also auch Psychoanalytiker – alternative Überlebensstrategien im Konzentrationslager entwickeln und anwenden konnten. Die Untersuchung wird mittels einer psychoanalytischen Textinterpretation, der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse, durchgeführt. Dabei wird insbesondere die Erinnerungsliteratur überlebender Psychologen nicht nur auf die manifest enthaltenen symbolisierten, sondern auch auf die latenten desymbolisierten Interaktions- und Sinnzusammenhänge hin analysiert. Es konnte im Ergebnis ein Fundus an Strategien ermittelt werden, deren Anwendung eine professionsspezifische Ausbildung förderte oder erforderte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Fragestellung – Erkenntnisinteresse
  • 1.2 Vorgehensweise – Gliederung – Begriffsbestimmungen
  • 1.3 Methode
  • 1.4 Forschungsstand – Quellensituation
  • 2. Grundlagen der Dissertation
  • 2.1 Das System der Konzentrationslager
  • 2.1.1 Frühe Konzentrationslager 1933–1936
  • 2.1.2 Reformierung und Reorganisierung des KZ-Systems 1936–1939
  • 2.1.3 Erste Kriegshälfte 1939 bis 1942
  • 2.1.4 Zweite Kriegshälfte 1942 bis 1944
  • 2.1.5 Evakuierungs- und Auflösungsphase der KZ von Herbst 1944 bis Mai 1945
  • 2.1.6 Das System der Funktionshäftlinge
  • 2.2 Der Alltag und die Lebenswelt der Häftlinge im Konzentrationslager
  • 2.2.1 Der Alltag als historischer Begriff – Geschichte des Alltags?
  • 2.2.2 Alltag im Konzentrationslager
  • 2.2.3 Bewusst angewandte Überlebensstrategien im KZ-Alltag und hilfreiche vorkonzentrationäre Prägungen und Fähigkeiten
  • 2.2.4 Unbewusste Überlebensstrategien und Abwehrmechanismen
  • 2.3 Die Entwicklung des Psychoanalytiker- und des Psychologenberufsstandes
  • 2.3.1 Psychoanalytiker
  • 2.3.2 Psychologen
  • 3. Folgen der Verfolgung – Erinnerungsliteratur nach traumatischer Erfahrung
  • 3.1 Gedächtnisleistung, Erinnerungsarbeit und deren Beeinflussungen
  • 3.2 Die Traumen der KZ-Haft – traumatische Folgen und Folgen des Traumas
  • 3.2.1 Konzentrationslager-Syndrom – Überlebenden-Syndrom
  • 3.2.2 Überlebendenschuld
  • 3.2.3 Strukturelle Dissoziation
  • 3.3 Voraussetzungen, Bedingungen und Funktionen von Erinnerungsliteratur
  • 3.3.1 Körperliche, soziale und materielle Bedingungen
  • 3.3.2 Psychische Bedingungen
  • 3.3.3 Funktionen von Erinnerungsliteratur
  • 3.4 Erinnerungsliteratur als wissenschaftliche Quelle
  • 4. Psychologen im Konzentrationslager – Methoden und Strategien des Überlebens
  • 4.1 Ernst Federn
  • 4.1.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte
  • 4.1.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien
  • 4.2 Viktor Frankl
  • 4.2.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte
  • 4.2.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien nach dem KZ
  • 4.3 Ella Lingens
  • 4.3.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte
  • 4.3.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien nach dem KZ
  • 4.4 Louis Tas
  • 4.4.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte
  • 4.4.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien nach dem KZ
  • 5. Resümee
  • 5.1 Ernst Federn
  • 5.2 Viktor Frankl
  • 5.3 Ella Lingens
  • 5.4 Louis Tas
  • 5.5 Psychologen im Konzentrationslager – Überlebens- und Weiterlebensstrategien
  • 5.6 Ausblick
  • 6. Literaturverzeichnis
  • 6.1 Dokumentarische Quellen
  • 6.2 Audiovisuelle Medien
  • 6.3 Digitale Quellen
  • 6.4 Zeitschriften
  • 6.5 Primärquellen
  • 6.6 Sekundärquellen

Frank Wiedemann

Psychologen im
Konzentrationslager –
Methoden und Strategien
des Überlebens

Autorenangaben

Frank Wiedemann ist Gründungsmitglied der Forschungswerkstatt Tiefenhermeneutik und promovierte interdisziplinär in Geschichtswissenschaft und Sozialpsychologie. Forschungsschwerpunkte sind das System der Konzentrationslager, Folgen der NS-Verfolgung sowie Überlebensstrategien und Weiterlebensstrategien von Menschen in und nach Extremsituationen.

Über das Buch

In der Studie wird anhand von Fallbeispielen (Ernst Federn, Viktor Frankl, Ella Lingens, Louis Tas) untersucht, inwieweit ‚psychologisch‘ Ausgebildete – neben den Psychologen also auch Psychoanalytiker – alternative Überlebensstrategien im Konzentrationslager entwickeln und anwenden konnten. Die Untersuchung wird mittels einer psychoanalytischen Textinterpretation, der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse, durchgeführt. Dabei wird insbesondere die Erinnerungsliteratur überlebender Psychologen nicht nur auf die manifest enthaltenen symbolisierten, sondern auch auf die latenten desymbolisierten Interaktions- und Sinnzusammenhänge hin analysiert. Es konnte im Ergebnis ein Fundus an Strategien ermittelt werden, deren Anwendung eine professionsspezifische Ausbildung förderte oder erforderte.

Zitierfähigkeit des eBooks

Diese Ausgabe des eBooks ist zitierfähig. Dazu wurden der Beginn und das Ende einer Seite gekennzeichnet. Sollte eine neue Seite genau in einem Wort beginnen, erfolgt diese Kennzeichnung auch exakt an dieser Stelle, so dass ein Wort durch diese Darstellung getrennt sein kann.

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Fragestellung – Erkenntnisinteresse

1.2 Vorgehensweise – Gliederung – Begriffsbestimmungen

1.3 Methode

1.4 Forschungsstand – Quellensituation

2. Grundlagen der Dissertation

2.1 Das System der Konzentrationslager

2.1.1 Frühe Konzentrationslager 1933–1936

2.1.2 Reformierung und Reorganisierung des KZ-Systems 1936–1939

2.1.3 Erste Kriegshälfte 1939 bis 1942

2.1.4 Zweite Kriegshälfte 1942 bis 1944

2.1.5 Evakuierungs- und Auflösungsphase der KZ von Herbst 1944 bis Mai 1945

2.1.6 Das System der Funktionshäftlinge

2.2 Der Alltag und die Lebenswelt der Häftlinge im Konzentrationslager

2.2.1 Der Alltag als historischer Begriff – Geschichte des Alltags?

2.2.2 Alltag im Konzentrationslager

2.2.3 Bewusst angewandte Überlebensstrategien im KZ-Alltag und hilfreiche vorkonzentrationäre Prägungen und Fähigkeiten

2.2.4 Unbewusste Überlebensstrategien und Abwehrmechanismen

2.3 Die Entwicklung des Psychoanalytiker- und des Psychologenberufsstandes

2.3.1 Psychoanalytiker

2.3.2 Psychologen

3. Folgen der Verfolgung – Erinnerungsliteratur nach traumatischer Erfahrung

3.1 Gedächtnisleistung, Erinnerungsarbeit und deren Beeinflussungen

3.2 Die Traumen der KZ-Haft – traumatische Folgen und Folgen des Traumas

3.2.1 Konzentrationslager-Syndrom – Überlebenden-Syndrom←5 | 6→

3.2.2 Überlebendenschuld

3.2.3 Strukturelle Dissoziation

3.3 Voraussetzungen, Bedingungen und Funktionen von Erinnerungsliteratur

3.3.1 Körperliche, soziale und materielle Bedingungen

3.3.2 Psychische Bedingungen

3.3.3 Funktionen von Erinnerungsliteratur

3.4 Erinnerungsliteratur als wissenschaftliche Quelle

4. Psychologen im Konzentrationslager – Methoden und Strategien des Überlebens

4.1 Ernst Federn

4.1.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte

4.1.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien

4.2 Viktor Frankl

4.2.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte

4.2.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien nach dem KZ

4.3 Ella Lingens

4.3.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte

4.3.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien nach dem KZ

4.4 Louis Tas

4.4.1 Biographisches – Lebens- und Verfolgungsgeschichte

4.4.2 Überleben im KZ, Aufarbeitungs- und Verarbeitungsstrategien nach dem KZ

5. Resümee

5.1 Ernst Federn

5.2 Viktor Frankl

5.3 Ella Lingens

5.4 Louis Tas

5.5 Psychologen im Konzentrationslager – Überlebens- und Weiterlebensstrategien

5.6 Ausblick←6 | 7→

6. Literaturverzeichnis

6.1 Dokumentarische Quellen

6.2 Audiovisuelle Medien

6.3 Digitale Quellen

6.4 Zeitschriften

6.5 Primärquellen

6.6 Sekundärquellen←7 | 8→ ←8 | 9→

Abkürzungsverzeichnis

ANP anscheinend normale/r Persönlichkeitsanteil/e

DMD Dokumentationsstelle KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

DIFP Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie

DPG Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft

EP emotionale/r Persönlichkeitsanteil/e

HKB Häftlingskrankenbau

IPV Internationale Psychoanalytische Vereinigung

KZ das/die Konzentrationslager

NS Nationalsozialismus, nationalsozialistisch

SDG SS-Sanitätsdienstgrad

SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei

SPÖ Sozialdemokratische Partei Österreichs (bis 1934 Sozialdemokratische Arbeiterpartei, 1945 bis 1991 Sozialistische Partei Österreichs)

WPV Wiener Psychoanalytische Vereinigung←9 | 10→ ←10 | 11→

1. Einleitung

Das nationalsozialistische Konzentrationslagersystem und die Zustände in den einzelnen Konzentrationslagern (KZ), in denen Hunderttausende von Menschen unter verheerenden Bedingungen um ihr Leben kämpfen mussten, macht uns heute teilweise immer noch sprach- und fassungslos und verursacht nicht selten auch Schamgefühle ob der begangenen verbrecherischen Untaten. Hier stellt sich häufig die Frage, wie die lebensfeindlichen Bedingungen, der Schrecken und die Grausamkeiten überhaupt überlebt und ausgehalten werden konnten, ohne schwerste oder gar bleibende psychische Schäden davonzutragen. Um der Fassungslosigkeit zu begegnen und bestimmte Erklärungen hierfür zu finden und vor allen Dingen um zukunftsgewandte Schlüsse hieraus zu ziehen, ist es notwendig, die zugrundeliegende strukturelle und exzesshafte Gewalt der Täter, die individuelle und kollektive Verantwortung und die Möglichkeiten des Widerstandes und Überlebens der Häftlinge intensiv zu erforschen. Obschon die diesbezügliche Forschungslage mittlerweile als gut bezeichnet werden muss, wie im Abschnitt 1.4 gezeigt wird, existieren nach wie vor bestimmte Forschungslücken. Einem dieser Desiderate wird in der vorliegenden Dissertation mit der Erforschung der inhomogenen ‘Berufsgruppe’ der Psychologen, Psychoanalytiker, Psychiater, Psychotherapeuten1 sowie der sich in einer solchen Ausbildung befindlichen Personen anhand von Fallbeispielen exemplarisch begegnet.←11 | 12→

1.1 Fragestellung – Erkenntnisinteresse

In der vorliegenden Dissertation Psychologen im Konzentrationslager – Methoden und Strategien des Überlebens wird untersucht, ob und inwieweit ‘psychologisch ausgebildete’ Menschen, also die hier unter der Bezeichnung Psychologen subsumierten verschiedenen Berufsgruppen bzw. Professionen, andere, spezifische oder weiterführende Überlebensstrategien und Handlungsalternativen im Gegensatz zu ihren Mithäftlingen im Konzentrationslager2 entwickeln und ausagieren konnten. Der erkenntnisleitende Ausgangspunkt knüpft dabei an Jean Amérys bisher noch unbeantwortete Frage an:

„Haben Geistesbildung und intellektuelle Grunddisposition einem Lagerhäftling in den entscheidenden Momenten geholfen? Haben sie ihm das Überleben erleichtert?“3

Der Fokus muss hierbei nicht nur auf das Überleben in lebensbedrohlichen Extremsituationen4 gelegt werden, sondern auch auf die Möglichkeiten und Bedingungen des Weiterlebens, also auf die Verarbeitung und Bewältigung der potenziell traumatisierenden Erfahrungen. Überleben heißt angesichts der massiven Traumata und der daraus resultierenden, verheerenden, permanent anhaltenden psychischen und physischen Folgen durch die KZ-Haft nicht nur die Befreiung zu erleben, sondern auch die Reintegration des eigenen Selbst in die Gesellschaft zu ermöglichen und darin einigermaßen stabil weiterzuleben. Dies bedeutete eine enorme Herausforderung für die Überlebenden, denn „in mancherlei Hinsicht war das Überleben hinterher schwerer als im KZ“5. Unter diesen Voraussetzungen in Zusammenhang mit der Berufsgruppe der Psychologen wurden die folgenden zwei zentralen Fragekomplexe dieser Dissertation entwickelt:

1. War es ‘psychologisch’ ausgebildeten Personen „besser“6 oder im Ergebnis „erfolgreicher“ als ihren Mithäftlingen möglich, ihre eigene Identität vor der←12 | 13→ von den Nazis im KZ forcierten Desintegration der Persönlichkeit zu schützen, weil sie z. B. mit dem Abgründigen, „den Schattenseiten des Menschen mit seinen Hassgefühlen und Zerstörungswünschen“7 vertraut und dementsprechend auf die Grausamkeiten im KZ besser vorbereitet oder gewappnet waren? Daran anschließend wird zu untersuchen sein, in welcher Art und Weise ihr Überleben direkt mit ihrer vorkonzentrationären8 Ausbildung zusammenhing und ob spezielle Möglichkeiten, Fertigkeiten oder Methoden ihres Berufes als bewusste Überlebensstrategie angewandt werden konnten. Gelang es ihnen im Unterschied zu den übrigen Häftlingen, z. B. durch ihre spezifische Kenntnis menschlicher Psyche in Konfrontationen mit den gewaltbereiten, skrupellosen oder bürokratisch-zynischen Tätern, innovative Reaktionsweisen zu entwickeln oder besaßen sie beispielsweise spezielle Formen der Kontaktinitiative zu Mithäftlingen? War es den Experten der Psyche möglich, zu ihren Gunsten Interaktionen dergestalt zu manipulieren, dass deren Ergebnis ein von ihnen intendiertes war?

2. Gelang es den Psychologen „besser“ als anderen Überlebenden, sich nach der Befreiung und dem Kriegsende wieder in das alltägliche, zivilgesellschaftliche Leben zu integrieren? Wie gestaltete sich ihr Weiterleben in der Nachwelt der KZ? Aus diesen beiden Fragen ergeben sich zwangsläufig weitere Fragestellungen: Therapierten sich die Psychologen in irgendeiner Art und Weise bewusst oder unbewusst selbst oder gingen sie im Wissen um ihre KZ-induzierten Schädigungen in Therapie? Wie hat sich ihre berufliche Arbeit bzw. ihr beruflicher Werdegang nach der Befreiung durch ihre leidvolle traumatische Erfahrung verändert, wurde sie z. B. von den Erlebnissen maßgeblich geprägt←13 | 14→ oder überhaupt nicht beeinflusst? Haben sie die Nähe zu anderen Überlebenden gesucht oder sich vielleicht sogar als Therapeuten auf die Behandlung des „KZ-Traumas“9 bzw. der KZ-bedingten Traumata spezialisiert?

Das Erkenntnisinteresse und die Intention dieser Arbeit sind also darauf ausgerichtet zu ermitteln, ob und – wenn ja – welche professionsspezifischen Überlebensstrategien es unter den Psychologen im KZ gab, wie trennscharf sich diese von den Strategien der ‘Nicht-Psychologen’ abgrenzen lassen, in welcher Art und Weise diese bewusst oder aber unbewusst angewandt wurden und welche Bedeutung diesen in der nachträglichen Reflexion beigemessen wurde und wird. Die zentrale Leitfrage, ob es denjenigen, die sich beruflich und wissenschaftlich mit der Psyche, dem Gedächtnis, den verdrängten Erinnerungen und psychischen sowie psychosomatischen Folgen von Extremsituationen auseinandersetzten, „besser“ als anderen Überlebenden gelang, wieder eine stabile Persönlichkeit zu erlangen und ihr Selbst in der Nachkriegsgesellschaft zu reintegrieren, soll über eine qualitative Analyse – vor allen Dingen mit der im Abschnitt 1.3 dargestellten tiefenhermeneutischen Kulturanalyse nach Alfred Lorenzer – persönlicher Berichte und versachlichter Schilderungen überlebender Psychologen erfolgen. Auf die Interviewfrage Kaufholds – die die verkürzte Forschungsfrage dieser Dissertation darstellt – ob eine psychoanalytische Bildung in Extremsituationen hilfreich für das Überleben sein könne, was Bruno Bettelheim in seinen Werken Aufstand gegen die Masse und Erziehung zum Überleben als zweifelhaft ansah, obschon er ebenso Passagen anführte, in denen er genau dies für sich selbst reklamierte, antwortete Ernst Federn, der in dieser Arbeit eines der zu untersuchenden Fallbeispiele ist: „Mir haben die psychoanalytischen Erkenntnisse im Lager das Leben gerettet, ob das für andere gelten kann, ist nicht zu sagen.“10 Es wird zu untersuchen sein, ob diese Selbsteinschätzung nach der analytischen Untersuchung der Quellen bestand hat und ob diese Aussage auch auf die drei weiteren Fallbeispiele Louis Tas, Ella Lingens und Viktor Frankl anwend- und verallgemeinerbar ist.

Primäres Ziel dieser Untersuchung aufgrund der spezifischen Fragestellung und der – wie im Abschnitt 1.3 dargestellt wird – eher unkonventionellen Me←14 | 15→thode zur (geschichts-)wissenschaftlichen Analyse von Überlebendenberichten, ist Aufschluss darüber zu erhalten, wie die traumatischen Erfahrungen der KZ-Haft und der Massenvernichtung von Individuen, die vermeintlich aufgrund ihrer Ausbildung und Fertigkeiten in der Lage sind, die Ursache und Wirkungen psychischer Zerstörung, Entsubjektivierung und Entindividualisierung zu verstehen und zu analysieren, verarbeitet wurden. Die Erkenntnisse hieraus könnten wiederum Hinweise, Beurteilungskriterien oder Bewältigungsmuster für andere von Menschen verursachte Katastrophen, wie z. B. der Ausrottung der mesoamerikanischen Hochkulturen, wie Mario Erdheim anführt, sein.11

Es ist häufig nicht ermittel- und abwägbar – und spielt für den Erkenntnisgewinn dieser Arbeit auch keine Rolle – ob eine bestimmte Handlung eine Überlebensstrategie im Lager gewesen war oder aber eine Weiterlebensstrategie des Subjektes in der nachträglichen Reflexion darstellte, um die potenziell traumatisierenden Erfahrungen und aufkommenden schmerzhaften Erinnerungen der Extremsituation zu verarbeiten. Wichtig ist vielmehr, welche Bedeutung die so dargestellte Szene für das gegenwärtige und damalige Individuum hatte, wie sich darin enthaltene latente Inhalte von den manifesten unterscheiden und warum dies so ist. Das Verstehen wird dabei zum wichtigsten Erkenntnisprinzip. Die tiefenhermeneutische Kulturanalyse hilft hierbei zwischen dem, was und wie im Text manifest beschrieben ist – der eine Objektivation einer oder mehrerer Interaktionen darstellt und gleichzeitig wiederum bestimmte kollektive bzw. kulturelle Objektivationen beinhaltet, wobei während dieser Interaktionen nicht nur Sprache ausagiert, sondern auch Wünsche, Affekte und Triebansprüche mit inszeniert werden – und dem, was nicht beschrieben wird, aber latent mitschwingt, zu unterscheiden und die damit verbundenen symbolisierten und desymbolisierten Sinninhalte zu deuten.

1.2 Vorgehensweise – Gliederung – Begriffsbestimmungen

Der in dieser Arbeit häufig verwendete Begriff des „Überlebenden“ ist zunächst erklärungswürdig und -bedürftig. Durch diesen Begriff soll die menschliche Person keinesfalls auf sein bloßes Über- und Durchleben der Extremsituation im KZ-Alltag12 reduziert werden. Er beinhaltet und intendiert zudem keine Deutungen oder Wertungen, dass die mit der NS-Verfolgung und KZ-Haft verbundenen potenziell traumatisierenden Erfahrungen und deren schwerwiegende Folgen←15 | 16→ überlebt, also beendet seien und dementsprechend als etwas Vergangenes betrachtet werden könnten. Nichtsdestotrotz ist weder in wissenschaftlicher noch in populärer Literatur zu vermeiden, dass dieser Begriff für diejenigen im KZ-Gewesenen verwendet wird, deren physische Existenz im Lager oder durch dessen Auswirkungen nicht zerstört und beendet wurde. Der Begriff des Überlebenden wird also auch in dieser Dissertation als Arbeitsbegriff für den betreffenden Personenkreis verwendet, schließt aber etwaige weitergehende inhaltlichen Zuschreibungen, Deutungen oder damit verbundene Reduzierungen und Entsubjektivierungen, wie die oben angeführten, aus. Die Überlebenden als Zeit-Zeugen sind hier nicht nur Auskunftspersonen für das subjektiv Erlebte, dessen Verarbeitung und die damit verbundenen Bedeutungszuweisungen, sondern auch „Quellen für das individuelle und kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft“13. Der ebenso bereits verwendete Begriff der „Extremsituation“ bezeichnet eine Situation, Erfahrung oder einen Zustand, der das Individuum durch äußere Bedingungen an die menschlichen Grenzen oder darüber hinaus führt. Nach Bettelheim, der diesen Begriff im Zusammenhang mit der eigenen Lagerhaft in Dachau und Buchenwald in seiner Veröffentlichung 194314 einführte, befindet sich eine Person in einer Extremsituation, wenn sie unerwartet und damit unvorbereitet in eine Lebenssituation gerät oder gedrängt wird, „in der unsere alten Anpassungsmechanismen und Wertvorstellungen nicht mehr helfen, ja wo sogar einige von ihnen unser Leben gefährden, anstatt es wie früher zu schützen.“15 Wie Kersten Reich darstellt, ist der Inhalt dessen, was die jeweilige Extremsituation ausmacht, in der objektiven Betrachtung nur schwer fassbar, da die Reflexion und vor allem die Narration dessen bereits eine distanzierende subjektive Verarbeitung impliziert:

„Extremsituation ist ein ebenso künstlicher, geradezu technischer Begriff wie Konzentrationslager, der die Ängste und Traumata, die Unsicherheit und Hilflosigkeit bereits intellektuell distanziert, da die emotionale Realität unerträglich ist und kaum für jemanden wiedergegeben werden kann, der sie nicht erlebte.“16

Auch wenn die Beurteilungen dessen, wie und vor allem ob man die individuelle Einwirkung des KZ-Alltages auf einen bestimmten Überlebenden als traumati←16 | 17→sierend bezeichnen und deuten könne, in den Forschungen auseinandergehen, besteht indes kein Zweifel, dass die KZ-Haft und die damit einhergehenden Bedingungen und Auswirkungen auf die Inhaftierten im Vergleich zu anderen historischen Gewalt- und Haftsystemen extrem waren. Der Begriff der (Überlebens-)Strategie im Zusammenhang mit dem Überleben im KZ wird in dieser Arbeit nicht nur als eine Vorgehensweise verwendet, die bewusst eingesetzt wurde, weil von ihr positive Folgen, d. h. ein gewünschter Erfolg erwartet oder zumindest erhofft wurde.17 Die Verwendung von Überlebensstrategien kann auch bedeuten, dass ihre Genese und Anwendung gar nicht der bewussten Entscheidung entspringt, sondern Ausdruck und Folgen der aus der psychoanalytischen Theorie bekannten unbewussten Abwehr- und Schutzmechanismen sowie Reaktionsweisen des Ichs sind. Dabei muss es nicht allein um das langfristige, dauerhafte Überleben gehen, denn angesichts der verheerenden Zustände in den Konzentrationslagern konnten geringe materielle Vergünstigungen, z. B. in Form eines extra Stückes Brot, oder aber die zeitweilige Entbindung vom auslaugenden Arbeitszwang bereits das Überleben für diese spezielle Situation oder Zeitphase sichern und sind ebenso in den Gesamtkontext des Begriffes Überlebensstrategie – der spontane einmalige wie dauerhaft bzw. wiederholend angewandte Methoden beinhaltet – einzuordnen. Damit grenzt sich der hier verwendete Begriff der (Überlebens-)Strategie vom herkömmlichen Bedeutungsinhalt – ein geplantes, bewusstes Verhalten und Vorgehen – in gewisser Weise ab. Die unbewussten Strategien als lebensnotwendige Abwehrmechanismen zur Existenzsicherung, Subjekterhaltung und Ich-Stabilisierung entziehen sich sowohl bewusster Kontrolle und zielgerichteter Handlungsweisen als auch der selbstreflexiven Beurteilung ihrer Ursachen und Wirkungen und können nach Ende der akuten lebensbedrohlichen und häufig auch traumatischen Situation für die Person extrem negative Wirkungen entfalten,←17 | 18→ wenn deren Aufrechterhaltung nicht zurückgenommen wird bzw. aufgrund der Zugriffsunmöglichkeit nicht zurückgenommen werden kann. Nichtsdestotrotz erweist sich eine narrative Trennung von (bewussten) Überlebensstrategien einerseits und (unbewussten) Überlebensmechanismen andererseits selten als hilfreich und praktikabel, so dass der Begriff der Strategie bzw. Überlebensstrategie trotz der spannungsgeladenen, teils ambivalenten Differenzierung als ein idealisierter Arbeitsbegriff in dieser Arbeit verwendet wird.

Voraussetzung für eine wissenschaftliche Anwendung und Beurteilung der Ergebnisse der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse ist eine gewisse Einsicht und Akzeptanz in die theoretischen Grundkonzepte der Psychoanalyse und deren Begriffe, die in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität hier nicht im Einzelnen besprochen und reflektiert werden können. Beispielhaft seien hier die Verinnerlichung als eine Rückwendung eines Triebes auf die eigene Person, die Introjektion als eine psychische Einverleibung und das Übertragungs-Gegenübertragungsmodell genannt. Im Laufe dieser Dissertation muss und wird die Thematik immer wieder dahin führen, dass bestimmte Situationen bzw. deren Einwirkungen auf die Individuen traumatisch bzw. potenziell traumatisierend gewesen waren und deshalb das Erleben dessen, mitunter auch die Erinnerung hieran, ein Trauma darstellt. Die Wucht und die Vielzahl der verschiedenen Einwirkungen macht es hierbei notwendig, den KZ-Alltag und dessen Auswirkung nicht als ein einzelnes Trauma, sondern als ein Konglomerat von verschiedenen Traumata oder, wie Kaufhold treffend formuliert, als „eine kumulative Sequenz von Traumatisierungsprozessen“18 zu begreifen, wie im Abschnitt 3.2 ausführlicher dargestellt wird. Der bereits verwendete Begriff des Traumas, der hier mit Rückgriff auf Hans Keilson als ein sequenzielles Verlaufsmodell und Rahmen verstanden wird und kein isoliertes, einzelnes Ereignis darstellt, ist von wesentlicher Bedeutung im Zusammenhang mit Untersuchungen über Überlebende der KZ-Haft und beinhaltet folgende drei Phasen: 1. traumatische Situation bzw. Ereignis, 2. Traumaerlebnis und kurzfristige traumatische Reaktion und 3. langfristiger traumatischer Anpassungs- und Verhaltensprozess nach Ende der traumatischen Situation.19 Es ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass die Identifizierung von traumatischen Situationen nicht automatisch bedeutet, dass alle teilnehmenden Individuen hiervon traumatisiert wurden, wie auch David Becker←18 | 19→ nachvollziehbar darlegt.20 Kaum ein psychoanalytisch durchdrungener Begriff bzw. Bedeutungsinhalt des Begriffs wird so vielschichtig und verschiedenartig verwendet wie der des Traumas, wobei teilweise auch kontroverse Positionen und Zuschreibungen zu Tage treten. Ursprünglich liegt diesen Diskursen vor allem der freudsche Traumabegriff zugrunde. Freud beschreibt als Ursache einer traumatischen Erkrankung „die Unfähigkeit, ein überstark affektbetontes Erlebnis zu erledigen“21. Dies bedeutet, dass Ereignisse, die extreme Angst auslösen, traumatisch werden bzw. je nach psychischer Konstitution traumatisch werden können. Ein Trauma ist also ein Erlebnis, „welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, dass die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normalgewohnter Weise missglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen“22. Die oben angeführte Unfähigkeit resultiert hierbei aus dem inneren unbewussten Widerstand, der die Bewusstwerdung bzw. Wiederbelebung verdrängter schmerzlicher, unlustvoller Vorstellungen und Affekte verhindert. Das Wesentliche dieser Verdrängung

„liegt nicht in der Verweisung psychischer Inhalte ins Unbewusste, sondern im Scheitern der Integration dieser Inhalte in den Bereich der persönlichen Identität.“23

Das Verdrängte übt einen permanenten Druck auf das Bewusstsein aus. Es kostet deshalb ein hohes Maß an psychischer Energie, diesem Druck entgegenzuwirken, so dass die Psyche unter Dauerbelastung steht und dementsprechend anfällig für zusätzliche Beeinträchtigungen und Verletzungen wird. In Verbindung mit der Lagerhaft und deren Folgen ist der Begriff der Verdrängung teilweise von der ursprünglichen Bedeutung der psychoanalytischen Theorie – also dass Konflikte und Erfahrungen aus dem Bewusstsein in das dem direkten Zugriff verschlossene, Unbewusste verschoben und damit verdrängt werden – abgekoppelt. Die KZ-Erfahrung ist häufig nicht vollständig verdrängt, sondern im Gegenteil überrepräsentiert. Verdrängung und auch Abspaltung der Affekte von den dazugehörigen Vorstellungsinhalten sind dahingehend deshalb „weniger als Störun←19 | 20→gen, denn als adäquate Mechanismen zum Schutz des eigenen Ich zu verstehen“24, wie Arin Sharif-Nassab treffend formuliert. Da nicht nur die KZ-Haft und deren direkte Folgen, sondern bereits die rassistische oder politische Verfolgung im nationalsozialistischen Regime, aber auch der gesellschaftliche Umgang mit den Überlebenden in der Nachkriegszeit traumatisierende Elemente enthalten und entsprechende Wirkungen entfalten können, weswegen wie beschrieben von kumulativen und sequenziellen Einwirkungen ausgegangen wird, ist es sinnvoll, statt von einem bzw. dem Trauma – dessen Ursprung, Inhalt und Wirkung aufgrund der Fülle gar nicht explizit abgegrenzt werden kann – von Traumata zu sprechen.

Unter den bis hierhin vorgestellten Voraussetzungen wird der Fragenkomplex dieser Dissertation bearbeitet, indem zunächst, intensiver als möglicherweise üblich, die Bedingungen und Voraussetzungen der Genese und Analyse der verwendeten Quellen – den subjektiven Überlebendenberichten und daraus resultierenden verallgemeinerten Sachberichten oder Forschungsbeiträgen – dargestellt werden. Dies ist zum einen notwendig, da die Herangehensweise der tiefenhermeneutischen Methodik nicht unkritisch gesehen wird, und zum anderen, da das Anwendungsgebiet und die subjektiven Quellen, die die Verschriftlichung der nachträglichen Reflexionen und Verarbeitungen von unter potenziell traumatischen Extremsituationen gemachten Erfahrungen darstellen, problematisch sein bzw. nur unter besonderer Berücksichtigung dessen analysiert werden können. Dementsprechend muss nach einer kurzen Darstellung des KZ-Systems und des damit verknüpften, für diese Arbeit bedeutsamen Funktionshäftlingssystems und nach der Darstellung des Ausbildungs- und Berufsstandes der hier untersuchten Berufsgruppe im zweiten Kapitel eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik der Erinnerungsliteratur nach traumatischer Erfahrung und den Möglichkeiten und Voraussetzungen für eine Analyse dieser erfolgen. Dies wird im dritten Kapitel vorgenommen. Die wissenschaftliche Auswertung von ‘normaler’ Erinnerungsliteratur ist bereits eine Herausforderung an den Forscher und muss unter besonderer Quellenkritik aufgrund des subjektiven Gehalts und der Erinnerungs- und Gedächtnisbeeinflussungen (3.1) durchgeführt werden. Im Rahmen der kumulativen Traumata und Traumatisierungssequenzen des KZ-Alltages (2.2), die aufgrund ihrer Fülle und Vielseitigkeit im Abschnitt 3.2 nur beispielhaft angeführt werden können, unterliegen Texte auf Basis dieser Erfahrungen und Erinnerungen zusätzlich besonderen Beeinflussungen und Bedingungen. Wie Erinnerungsliteratur unter derartigen Voraussetzungen dennoch fruchtbare und wichtige Quelle wissenschaftlicher Un←20 | 21→tersuchungen sein kann, insbesondere für die komplexe Fragestellung dieser Dissertation, wird im Abschnitt 3.3 und 3.4 herausgearbeitet und dargestellt. Vor der Analyse der selbstverfassten Texte der Psychologen auf manifeste und latente Sinn- und Bedeutungszusammenhänge innerhalb der szenischen Handlung hin werden ebenso die verschiedenen Motive zum Schreiben – die bei den Zeitzeugenberichten überlebender Konzentrationslagerhäftlinge eine besondere Spezifik darstellen – und die damit verbundenen Funktionen für die Autoren hervorgehoben. Gerade weil die Überlebendenberichte größtenteils für einen unbestimmten Leser, also als Zeugenschaft, geschrieben wurden25, ist die dyadische Interaktion zwischen Autor und Leser – die keine direkte, sondern eine über den Text vermittelte ist – ein speziell zu untersuchendes Phänomen.26

Die Auswahl der im vierten Kapitel behandelten Fallbeispiele ist einerseits durch die vorhandene Quellenlage bedingt, folgt aber andererseits auch nachstehenden Kriterien und Überlegungen. Viktor Frankl muss als der bekannteste aller im KZ inhaftierten Psychologen gelten, zudem bereits eine Fülle von Publikationen sowohl von ihm als auch über ihn erschienen ist. Auch wenn aufgrund dieses Umstandes ein Verzicht auf Frankl als Fallbeispiel erwartet werden mag, wird er in der vorliegenden Arbeit als Fallbeispiel zur Analyse herangezogen. Denn gerade die Vielzahl an Perspektiven und Facetten seines Wirkens und seines Überlebens ermöglichen ein umfassendes und vielseitiges Bild mithilfe der in dieser Form so noch nicht als Analysemethode verwendeten tiefenhermeneutischen Kulturanalyse. Frankl war zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung weder ausgebildeter Psychoanalytiker noch Psychologe, beschäftigte sich, d. h. engagierte sich, forschte und veröffentlichte jedoch schon über zwanzig Jahre intensiv mit der Psychoanalyse und vor allem mit der adlerschen Individualpsychologie, bevor er Ende der 1920er, Mitte der 1930er Jahre begann, sein eigenes psychotherapeutisches System zu entwickeln. Als Dr. med. und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie praktizierte und forschte er zudem bereits jahrelang beruflich auf einem ähnlich gelagerten Feld, so dass er als Psychiater als für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit vielsprechendes Fallbeispiel ausgewählt wurde. Ella Lingens wurde ausgewählt, da sie zum einen eine der wenigen Frauen überhaupt war, die in die betreffende Personengruppe fällt – sie absolvierte zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung gerade die mehrjährige Ausbildung zur Psychoanalytikerin bei←21 | 22→ August Aichhorn – und zudem die einzige, die auswertbares Material hinterlassen oder verfasst hat. Dementsprechend ist es von besonderem Interesse zu fragen bzw. zu prüfen, ob sich bei ihr spezifisch weibliche Überlebensstrategien, die die männlichen Psychologen in der Form nicht entwickelten und wahrnahmen, nachweisen lassen. Ernst Federn, Sohn des berühmten Psychoanalytikers Paul Federn, der einer der ersten Wegbegleiter Freuds in der Mittwochs-Gesellschaft und anschließend Sekretär der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gewesen war, absolvierte erst 1950 seine Psychoanalyse. Dennoch war er stärker und tiefer in die Entwicklung und Theoretisierung der Psychoanalyse als Wissenschaft und Therapie involviert als alle anderen Fallbeispiele. Da an seinem Wohnort, dem Haus seiner Eltern, regelmäßige Treffen, psychoanalytische Vorstellungen, Konsultationen, Diskussionen und Behandlungen stattfanden und Ernst Federn, der aufgrund der Funktion des Vaters, bzw. in den 1930ern als dessen angestellter Assistent, die Korrekturfahnen der neuesten Veröffentlichungen des Psychoanalytischen Verlages las, kam er wie kaum ein anderer in Kontakt mit der Etablierung und Institutionalisierung der psychoanalytischen Bewegung, was ihn nicht nur im Rahmen seiner eigenen nachträglichen historischen Einordnungen der Psychoanalyse als Wissenschaft, sondern auch in Bezug zu seinem persönlichen Erleben der Extremsituation und deren Bewältigung zu einem bedeutenden Fallbeispiel macht. Auch die Auswahl von Louis Tas erfolgte aufgrund seiner besonderen Situation und dessen einzigartigem Verhältnis zur Psychoanalyse. Im Rahmen des Fortschritts seiner beruflichen Ausbildung zum Mediziner, aber auch in seinem Verhältnis zur Psychoanalyse – er hatte erst wenige Monate vor der Verhaftung mit der eigenen Analyse begonnen – war er im Vergleich zu den anderen Fallbeispielen am ‘weitesten’ von der Psychoanalyse entfernt. Der Grund, ihn dennoch auszuwählen, liegt in der einzigartigen Konstellation seiner KZ-Haft und der zugrundeliegenden maßgeblichen Quelle. Er schrieb zum einen sein Tagebuch bereits während der Haft, was bedeutet, dass er bei jeder Eintragung keinesfalls sicher wusste, ob er den nächsten Tag überhaupt er- und überleben, geschweige denn jemals wieder befreit werden und das Kriegsende erleben würde. Zum anderen befanden sich seine Eltern und auch der Analytiker des Vaters, Karl Landauer, der wiederum Tas im Lager psychoanalytisch geprägte Gespräche anbot, ebenso in Bergen-Belsen. Diese spannende und einzigartige Konstellation und die unmittelbare Verarbeitung dessen bzw. die inneren Monologe und die Auseinandersetzung hierüber, die im Tagebuch niedergeschrieben wurden und dementsprechend eine besondere Quelle der tiefenhermeneutischen Textanalyse darstellen, waren die Gründe dafür, ihn als Fallbeispiel auszuwählen.←22 | 23→

Obwohl zum Alltag und Erleben in den Konzentrationslagern innerhalb der letzten 15 Jahre eine Fülle von Publikationen und Forschungen erschienen sind – zum historischen Begriff des Alltags und zur Verknüpfung dessen mit der KZ-Haft siehe Abschnitt 2.2 –, ist es aufgrund des individuellen Erlebens und Fühlens der Überlebenden sowie der spezifischen Einzigartigkeit jedweder Situation nicht möglich, eine realitätsgetreue Rekonstruktion von Ereignissen und Szenen vorzunehmen.27 Ähnlich wie bei der tiefenhermeneutischen kulturanalytischen Untersuchung latenter Sinnzusammenhänge müssen und werden die bruchstückhaft bekannten Situationen und Begebenheiten des KZ-Alltages der gewählten Psychologen jeweils mit Hilfe von eigenen Selbst- und Vorannahmen bzw. mit Vergleich ähnlicher dem Autor bekannter Situationen auch aus der Beschreibung anderer Überlebender, zu „… einem historisch sinnhaften Ganzen verdichtet …“28, um ein möglichst detailgetreues und plausibles Bild der Situation zu erstellen, und darin wiederum die etwaigen Überlebensstrategien zu lokalisieren und zu deuten. Die Motivation und Erwartung des in einer bestimmten Situation handelnden Psychologen muss in eine solche Darstellung und deren Deutung einfließen, da hierbei von vornherein bestimmte Handlungsalternativen aufgrund negativ beurteilter Konsequenzen ausgeschlossen oder aufgrund zu erwartender positiver Folgen präferiert werden können. Die Untersuchung der ausgewählten Psychologen auf ihre Überlebens- und Bewältigungsstrategien hin erfolgt im vierten Kapitel. Hierfür werden, neben der qualitativen Auswertung, ausgewählte Szenen oder Textpassagen aus ihren Veröffentlichungen und überlieferten Äußerungen mittels der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse untersucht und die hierbei gewonnenen Deutungsangebote im Rahmen theoretischer Rückbindung interpretiert. Die Dissertation, die über die beschriebenen Fragestellungen sowohl ein geschichtswissenschaftliches als auch ein sozialpsychologisches Forschungsinteresse formuliert, muss und ist dementsprechend interdisziplinär angelegt, wie bereits durch die gewählte Untersuchungsmethode deutlich wird.

1.3 Methode

Aufgrund der Spezifik der Fragestellung und der Begrenztheit der Quellenlage ist eine besonders ausgewogene und geeignete Wahl der Untersuchungsmethoden notwendig. Makrohistorische, d. h. strukturanalytische, gesamtgesellschaftliche Ansätze sind nicht dazu geeignet, das beschriebene Forschungsdesiderat aufzulö←23 | 24→sen und auf den erwarteten Erkenntnisgewinn hinzuarbeiten. Damit die Analyse erfolgreich sein kann, ist es notwendig, die Lebenszusammenhänge der Psychologen zu ergründen und szenisch zu erschließen. Die Herangehensweise muss deshalb eine mikrohistorische, d. h. sozial- bzw. alltagsgeschichtliche Analyse29 der einzelnen Psychologen sein. Der sozialgeschichtliche Erkenntnisgewinn basiert auf der Untersuchung sozialer Beziehungsnetze und Handlungszusammenhänge sowie auf Deutungsvorstellungen und auf Sinnsetzungen des Einzelfalls ohne ausschließliche Fixierung auf äußere gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle oder politische Verhältnisse. Eine kritische Reflexion über die Repräsentativität des Einzelfalls sowie über die etwaige grundsätzliche kategoriale Verschiedenheit des aus den Einzelfällen hervorgehenden Gesamtbildes ist hierbei obligatorisch. Die Fantasie und das Vorstellungsvermögen des Historikers bei der Interpretation und Einordnung muss jedoch nicht notwendig und zwingend ausgeblendet werden, wie Winfried Schulze und Karl Acham herausgearbeitet haben:

„Zum erzählenden Historiker gehört die Imagination. Wenn hier von Imagination die Rede ist, so ist vor allem an zweierlei gedacht: an die Fähigkeit zur methodischen Suche nach dem Exemplarischen sowie das Vermögen der quellenmäßig abgestützten, gleichwohl notwendig fiktiven Rekonstruktion der intentionalen >Innenseite< des historischen Geschehens.“30

Die Reflexion des Forschers über seine Annahmen, Projektionen, Wünsche, kulturelle Sozialisation, Wahrnehmungen und seinen Kenntnisstand ist kein auszuschaltender Störfaktor, sondern als Kennzeichen qualitativer Forschung ein signifikanter Teil der Erkenntnis.31 Hans-Georg Gadamer postuliert in diesem Zusammenhang die Bedingung, dass derjenige, der mit dem historischen Bewusstsein die Vergangenheit verstehen will, „die eigene Geschichtlichkeit mitdenken“32 muss. Um einen maximalen Erkenntnisgewinn zu erzielen, werden nicht nur ausgewählte Einzelfälle analysiert, sondern zudem komparativ←24 | 25→ zueinander in Beziehung gesetzt. Dies geschieht, um Gemeinsamkeiten für etwaige Generalisierungen und Unterschiede zur Kontrastierung der Psychologen in ihren Handlungsmustern während der KZ-Inhaftierung, aber auch Verarbeitungsstrategien der traumatischen Erlebnisse nach der Befreiung für einen Gesamtzusammenhang herauszuarbeiten. Zusätzlich wird an bestimmten Stellen durch parallelen Vergleich mit den Handlungen und Strategien nicht-psychologisch ausgebildeter, zumeist bekannter Überlebender33, sowie mit nahezu unbekannten Berichten und unveröffentlichten Materialien aus den Archiven der KZ-Gedenkstätten, an die zentrale Fragestellung angeknüpft. Um der Gefahr der „selektiven Plausibilisierung“34 entgegenzuwirken, wird zudem mit der Methode des „konstanten Vergleichs“ – also der permanenten Überprüfung, Aktualisierung und gegebenenfalls Anpassung bereits gewonnener Erkenntnisse im Laufe der Untersuchung – gearbeitet.35 Mit dem „dezentrierenden Vergleichen“36, d. h. die Einzelfälle als Bezugspunkt zu nehmen, anstatt generalisierend über sie hinwegzugehen, wird es möglich, über den mikrohistorischen Einzelfall hinausgehende induktive Schlüsse zu ziehen. Da „das historische Verstehen […] immer einen Prozess der Umbildung, Nachbildung, psychologischer Umformung, Verdichtung und Symbolisierung „fremder Bewusstseinsakte…“37 darstellt, muss geklärt werden, auf welche Art und Weise die Fragestellung dieser Arbeit zu bewältigen und welche spezifische Methode der Quellenanalyse hierfür am geeignetsten ist. Die Überlebendenberichte allein mittels angenommener und erwarteter Handlungsmuster aufgrund bestimmter sozialisationsspezifischer Charakteristika und Milieukategorien zu untersuchen, kann keine ergiebigen Ergebnisse hervorbringen und nähme den Überlebenden ihre aktive Handlungsautonomie und individuelle Persönlichkeitsausprägung – die ihnen mittels der analytischen Untersuchungen individueller Überlebensstrategien aus←25 | 26→ ihren Berichten ja gerade (zurück-)gegeben und zugestanden werden soll – und degradierte sie erneut zu einem passiven Objekt, da all ihr Handeln ja in gewisser Weise vorgeprägt wäre. Eine geeignete Methode kann dementsprechend nur aus dem Bereich der Hermeneutik als einer Wissenschaft stammen, die die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens von Texten untersucht bzw. nach Alexander von Plato die „Lehre vom Hineinversetzen der Heutigen in die Vergangenheit“38 ist. Die von Alfred Lorenzer entwickelte tiefenhermeneutische Kulturanalyse als Ausprägung einer psychoanalytischen Hermeneutik, welche bestimmte Vorverständnisse beim Analytiker voraussetzt39, ist für die Anforderungen der subjektorientierten Quellenanalyse prädestiniert.40 Die tiefenhermeneutische Kulturanalyse bzw. ein Arbeiten mit dieser Methode bedeutet nicht einfach ein Anwenden psychoanalytischer Begriffe im kultur- bzw. hier im geschichtswissenschaftlichen Feld – da bestimmte Begriffe wie z. B. Gegenübertragung, Verdrängung oder Emanzipation eine andere Bedeutung aufweisen als in der psychoanalytischen Therapie –, sondern sie ist als eine psychoanalytische Literaturinterpretation eine lebensgeschichtliche Herleitung des Sinngehaltes sprachlicher Symbole und subjektiver Lebensentwürfe, die dem Autor←26 | 27→ des Textes unbekannt bzw. in dieser Form nicht bekannt waren.41 Sie bietet die Möglichkeit, mithilfe der Orientierung an psychoanalytische Erfahrungen und Untersuchungsweisen unbewusste und desymbolisierte Sinnzusammenhänge des Textes bzw. im Text, z. B. als Ausdruck der vom gesellschaftlichen Konsens ausgeschlossenen Lebensentwürfe, sichtbar zu machen.42 Dies ist von großer Bedeutung für die Dissertation, da die Psychologen in ihren Schriften, die sie nach der Befreiung verfassten, infolge der Traumatisierung in der permanenten Extremsituation des Konzentrationslagers häufig andere Prioritäten in der Darstellung setzten. Dabei handelt es sich z. B. um die Beschreibung der Erlebnisse anderer Häftlinge oder um das absichtliche Weglassen bzw. das Ersetzen der eigenen Person durch einen fiktiven Dritten beim Beschreiben von aus heutiger Sicht moralisch heiklen Handlungen. Um etwas über bewusst oder unbewusst eingesetzte Strategien zum Überleben zu erfahren, ist also eine tiefergehende systematische Untersuchung des Sinns sowie der Beziehungs- und Interaktionszusammenhänge in den verschiedenen Situationen der Texte obligatorisch. Da narrativ dargestellte Lebensgeschichte immer einer bewussten oder unbewussten Zensur unterliegt43, müssen auch das fremde, unbewusste Innenleben des Autors des Textes bzw. die in ihm enthaltenen, latenten Sinnentwürfe – also die nicht im Einklang mit geltenden Moral- und Normvorstellungen befindlichen Lebensentwürfe – herausgearbeitet werden, um Rückschlüsse über Ursachen und Hintergründe der Zensur ziehen zu können. Die Forschungen zu den Kurz- und Langzeitfolgen von Extremtraumatisierungen können hierbei Aufschluss geben. Im Gegensatz zur philosophischen Hermeneutik ist das Ziel der in dieser Arbeit angewandten Tiefenhermeneutik, die systematisch verzerrte bzw. nur←27 | 28→ vordergründig sich abspielende ‘manifeste’ Kommunikation aufzudecken, um die darunterliegenden Schichten der ‘latenten’ Kommunikationsebene – die desymbolisierten Interaktionsformen44, wie z. B. Klischees und Zeichen als Ausdruck von unbewussten, noch-nicht-bewussten, sozial verpönten oder neurotischen Inhalten – freizulegen. Dies geschieht in einem gruppenanalytischen und damit gleichsam analysierend-interpretierenden wie supervisorisch wirkenden Setting. Es wird davon ausgegangen, dass in der Interaktion die Genese des Bezugsrahmens des Gedächtnisses liegt und die Herkunft und Deutungsmöglichkeit unbewusster Sinnzusammenhänge nicht nur im Subjekt existieren, sondern vielmehr gemeinsamer ‘Besitz’ eines Kollektivs sind.45 Nur über das von Lorenzer postulierte einfühlende Verstehen des Fremdpsychischen durch das „szenische Verstehen“46 ist es möglich, die ‘latenten’ Sinn- und Bedeutungszusammenhänge47 zu rekonstruieren und zu deuten.48 Den latenten Sinn herauszufiltern←28 | 29→ bedeutet jedoch keineswegs eine Dekonstruktion des manifesten Sinns – selbst wenn dieser den latenten negiert –, der durch ersteren nicht ersetzt oder abgelöst wird. Wie Robert Heim prägnant zusammenfasst, ist hierbei dem

„szenischen Verstehen […] die Aufgabe gestellt, die unbewussten Anteile am Erleben, Verhalten und Handeln eines Menschen im Zuge einer lebensgeschichtlichen Rekonstruktion herzuleiten“49.

Das „szenische Verstehen“ ist lebenspraktisches Verstehen und damit weder rein logisches oder semantisch-syntaktisches noch rein psychologisches Verstehen. Es basiert auf lebenspraktischen Vorannahmen50, die in die verschiedenen Szenen so lange eingesetzt werden, bis die Fremdlebensentwürfe von eigener Lebenserfahrung her verstanden werden können. Das Fremdverstehen als Nachvollzug der Perspektive und Motivation des Anderen wird zum „relationalen Akt“51, denn der Zugang zur Erkenntnis ist nur in der Relation zum Selbstverstehen möglich, wie auch Thomas Leithäuser und Birgit Volmerg konstatieren: „Das szenische Muster ist immer auch ein Beziehungsangebot an die Interpretierenden, das sie nur in dem Maße rekonstruieren können, wie sie sich selbst auf den Text eingelassen haben.“52 Dieser Bildungs- und Annäherungsprozess, der „immer von der Aufhebung der Differenz zwischen bewussten und unbewussten Verhaltensformen […] begleitet ist“53, ermöglicht dadurch die Dechiffrierung der unbewussten Inhalte der Lebenspraxis.54 Im Gegensatz zur therapeutischen Psychoanalyse wird der Leser, d. h. der Analysierende, in der tiefenhermeneutischen Literaturinterpretation zum veränderbaren Subjekt. Er muss im Rahmen des Prozesses des „szenischen Verstehens“ seine eigenen bewussten und unbewussten Geistestätig←29 | 30→keiten bzw. Reaktionen in das Analyseverfahren aktiv miteinbeziehen, wie auch Rolf Haubl konstatiert.55 Die Gleichzeitigkeit des Selbst- und Fremdverstehens wird in ihrer Wechselwirkung zum hermeneutischen Zirkel. Die Kulturanalyse ist somit keine starre Anwendungsmethode, die objektive Ergebnisse auswirft, sondern eine aus ihrer Struktur heraus dynamische Erkenntnismethode mit einem konstruktiven, subjektiven Forschungsanteil.56 Auftauchende Gegensätze sind in der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse Ausdruck von Konflikten zwischen individuellen, anstößigen Triebansprüchen und den herrschenden Moralvorstellungen und sozialen Verhaltensvorschriften.57 An einer solchen ‘Bruchstelle’, die eine Störung in der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“58 verursacht bzw. eine „eingespielte Erfahrungsselbstverständlichkeit“59 reizt, lassen sich dann die unterschiedlichen ‘manifesten’ und ‘latenten’ Sinnzusammenhänge herausfiltern. Der Interpret muss sich also vom Text – der ein kulturelles Sinnangebot darstellt und soziale Verhaltensmodelle enthält – ‘benutzen lassen’. Er muss die ihm als Leser zugeschriebene Rolle übernehmen und den Text auf das eigene Unbewusste einwirken lassen, um Verstehensbarrieren durchbrechen zu können, damit durch eigene Einfälle und Assoziationen die Möglichkeit des Zugangs zum ‘latenten’ Sinn erschlossen wird.60 Haubl fasst den eben beschriebenen Aspekt prägnant zusammen:

„Der Leser erlebt Irritationen, die sich ihm als differentielle Affekte aufdrängen und seine gleichschwebende Aufmerksamkeit stören. Sie müssen einer tiefenhermeneutischen Textanalyse […] als primäre Daten dienen.“61←30 | 31→

In der psychoanalytischen Interpretation werden nach Reinhard Wolff hierbei der Texte als

„Endergebnisse assoziativer Prozesse des psychischen Primärvorgangs (Verdichtung, Verschiebung, Symbolisierung), als Kompromissbildung aus Triebwunsch und Verdrängungswiderstand begriffen, bei dem der manifeste Text nach entsprechenden Dechiffrierungsregeln aufgelöst werden kann und sich aus den dadurch gewonnenen Elementen der latente Sinn des Werkes rekonstruieren [lässt].“62

Die erwähnten Irritationen im Zusammenhang mit der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse bedeuten eine beim Analysierenden ausgelöste Befremdung durch die im zu analysierenden Text wahrgenommenen oder erlebten Inkonsistenzen. Die Beobachtung der daraufhin entstehenden eigenen spontanen unbewussten Projektionen, Vorstellungen, Assoziationen, Ängste und Wünsche als (Gegen-)Reaktion auf die im Text wahrgenommenen Konflikte und Gegensätze zu lebenspraktischen Vorannahmen sowie die Anerkennung eigener Betroffenheit und den Verzicht, „die an sie herangetragenen Denk- und Handlungsmuster abzuwehren“63, sind wesentlicher methodischer Zugang bzw. Bestandteil der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse und werden deshalb in diese Untersuchung eingearbeitet.64

Details

Seiten
827
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631729205
ISBN (ePUB)
9783631729212
ISBN (MOBI)
9783631729229
ISBN (Hardcover)
9783631729199
DOI
10.3726/b11543
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Konzentrationslageralltag Erinnerungsliteratur Psychoanalytiker Tiefenhermeneutik Überlebenskampf Subjektstatus
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 827 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Frank Wiedemann (Autor:in)

Frank Wiedemann ist Gründungsmitglied der Forschungswerkstatt Tiefenhermeneutik und promovierte interdisziplinär in Geschichtswissenschaft und Sozialpsychologie. Forschungsschwerpunkte sind das System der Konzentrationslager, Folgen der NS-Verfolgung sowie Überlebensstrategien und Weiterlebensstrategien von Menschen in und nach Extremsituationen.

Zurück

Titel: Psychologen im Konzentrationslager – Methoden und Strategien des Überlebens
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
830 Seiten