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Die Grenze des Sozialismus in Deutschland

Alltag im Niemandsland

von Klaus Schroeder (Band-Herausgeber:in) Jochen Staadt (Band-Herausgeber:in)
©2018 Sammelband 542 Seiten

Zusammenfassung

Zwischen 1949 und 1989 prägten Gewalthandlungen und Menschenrechtsverstöße die Lage an der innerdeutschen Grenze. Die SED-Diktatur konnte ihre Existenz gegen die andauernde Massenflucht aus der DDR nur durch die Errichtung eines mörderischen Grenzregimes behaupten. Dieser Band befasst sich mit den Begleitumständen des DDR-Grenzregimes. Er enthält Beiträge zu den historischen, regional- und alltagsgeschichtlichen Begleitumständen des DDR-Grenzregimes, zu seiner Vorgeschichte von 1945 bis 1949 und zu seiner juristischen Aufarbeitung nach der Wiedervereinigung.
Autorinnen und Autoren: Stefan Appelius, Kerstin Eschwege, Joachim Heise, Ralph Kaschka, Gerhard Schätzlein, Angela Schmole, Enrico Seewald, Klaus Schroeder, Jochen Staadt

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort der Herausgeber
  • Blutige Grenze 1945 bis 1949. Von den Schwierigkeiten, über diese Zeit zu berichten (Gerhard Schätzlein)
  • Leben im Sperrgebiet – Fallbeispiel Nordhausen (Joachim Heise)
  • Repressionen gegen „Republikflüchtlinge“ und Ausreiseantragsteller im Bezirk Magdeburg (Kerstin Eschwege)
  • Verletzt an der DDR-Grenze. Der Umgang mit verletzten Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze (Angela Schmole)
  • Der Umgang mit verletzten Flüchtlingen nach ihrer Haftentlassung (Ralph Kaschka)
  • Diplomatie und Menschenrechte. Das DDR-Grenzregime vor der UNO und die Arbeit der deutsch-deutschen Grenzkommission (Enrico Seewald)
  • Der Eiserne Vorhang. Fluchten von DDR-Bürgern über die „verlängerte Mauer“ (Stefan Appelius)
  • Die DDR-Staatsgrenze West und ihre Bewacher. Schießbefehl, Minen, Überwachung, Abversetzungen, Widerstand, Fahnenfluchten (Jochen Staadt)
  • Siegerjustiz? Die Prozesse gegen Verantwortungsträger des DDR-Grenzregimes und die Täter im Grenzdienst (Klaus Schroeder)
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Dem DDR-Grenzregime an der innerdeutschen Landgrenze fielen zwischen 1949 und 1989 mindestens 327 Menschen zum Opfer. Unbewaffnete Flüchtlinge wurden von Grenzsoldaten erschossen, von Minen und Selbstschussanlagen zerfetzt oder ertranken bei Fluchtversuchen. Auch Grenzsoldaten kamen ums Leben. Werden die bei Fluchtversuchen über die Ostsee Ertrunkenen, die an der Berliner Mauer erschossenen und die an der sogenannten „verlängerten Mauer“ an den Grenzen der Ostblockstaaten ums Leben gekommenen DDR-Flüchtlinge miteinbezogen, sind vermutlich 1 000 DDR-Bürger am Eisernen Vorhang ums Leben gekommen.

Der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin untersuchte von August 2012 bis Dezember 2016 die Schicksale von Männern, Frauen und Kindern, die zwischen der Staatsgründung im Jahr 1949 und dem Fall der Mauer 1989 an der innerdeutschen Grenze zwischen der Lübecker Bucht und der damaligen DDR-Grenze zur Tschechoslowakei ihr Leben verloren. Dieses Forschungs- und Dokumentationsprojekt finanzierten die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Bundesländer Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Als Ergebnis der Recherchen erschien 2017 bereits das biografische Handbuch „Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989“. Die Beiträge in diesem Begleitband des biografischen Handbuchs befassen sich mit historischen, regional- und alltagsgeschichtlichen Begleitumständen des DDR-Grenzregimes, mit seiner juristischen Aufarbeitung und in einer exemplarischen Darstellung mit den Zuständen an der Demarkationslinie der sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis zur Gründung beider deutschen Staaten im Jahr 1949.

Im Rahmen des Forschungsprojekts über die Opfer des DDR-Grenzregimes führte die Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt das Teilprojekt „Repression gegen Flüchtlinge und Ausreiseantragsteller im Bezirk Magdeburg von Oktober 1949 bis Oktober 1989“ eigenständig aus. Ziel des Teilprojekts war die möglichst vollständige statistische Erfassung aller Personen, die wegen des Vorwurfs versuchter Republikflucht, der „Mitwisserschaft“ oder wegen der von ihnen gestellten Ausreiseanträge im DDR-Bezirk Magdeburg politischer Verfolgung ausgesetzt waren. Die Ergebnisse dieser exemplarischen Untersuchung liegen mit dem Beitrag von Kerstin Eschwege in diesem Band vor. Die Wissenschaftlerin wertete die Beschuldigtenkartei der Magdeburger Bezirksverwaltung des Staatssicherheitsdienstes mit insgesamt 5 411 dort erfassten Personen aus sowie ← 7 | 8 → kriminalpolizeiliche Ermittlungsakten und Statistiken der Volkspolizei, deren Bezirksverwaltung in einer Kerblochkartei „Grenze“ ihrerseits Daten von 5 480 Personen wegen Flucht- oder Ausreiseabsichten registriert hatte. Die Untersuchung von Kerstin Eschwege belegt auch die Art und Weise der intensiven Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Deutscher Volkspolizei (DVP) sowie weiteren mit der Grenzsicherung befassten Institutionen und Personen.

Im ersten Beitrag dieses Bandes beschreibt Gerhard Schätzlein die Zustände an der Demarkationslinie nach Kriegsende. Die Zonengrenze kostete bereits vor Gründung der beiden deutschen Staaten zahlreiche Menschenleben. Da das biografische Handbuch über die Opfer des DDR-Grenzregimes nur die Zeit von Gründung der DDR bis zum Mauerfall abdeckt, baten die Herausgeber den Regionalhistoriker und Experten Gerhard Schätzlein um eine Darstellung der Grenzgeschichte von 1945 bis 1949 in seiner Heimatregion zwischen Harz und tschechoslowakischer Grenze. Die Ergebnisse seiner Recherche stehen exemplarisch für die oft tödlichen Folgen des von der Sowjetunion errichteten Grenzregimes in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Um den Alltag im Sperrgebiet Nordhausen geht es in einem von Joachim Heise verfassten weiteren regionalgeschichtlichen Beitrag.

Zum Umgang mit den durch Minen und Schüsse an der innerdeutschen Grenze verletzten Flüchtlingen liegen bislang keine tiefergehenden Untersuchungen vor. Mit zwei hier abgedruckten Texten versuchen wir, dieses Forschungsfeld ansatzweise zu ergründen. Angela Schmole untersucht in ihrem Beitrag den inhumanen Umgang mit verletzten Opfern des DDR-Grenzsperrsystems. Ralph Kaschka ist der Frage nachgegangen, welcher Repression verletzte Flüchtlinge nach ihrer Genesung und Haftentlassung ausgesetzt waren. Er führte seine Untersuchung im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) durch. Ralph Kaschka ist insbesondere zu danken, da ihm nach einem langwierigen Vergabeverfahren der Behörde für die Fertigstellung seines Beitrages – entgegen der ursprünglichen Zusage vom Januar 2016 – nur drei Monate blieben.

Die vom Bundesbeauftragten Roland Jahn versprochene Unterstützung des Forschungsprojektes über die Opfer des DDR-Grenzregimes entpuppte sich im Fall von Angela Schmole als eine systematische Behinderung. Der zuständige Abteilungsleiter für den Bereich Forschung des Bundesbeauftragten untersagte der Autorin die Nutzung des BStU-internen Recherchesystems, so dass sie ihre Untersuchung – obwohl sie Mitarbeiterin der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde ist – nebenberuflich beantragen und außerhalb ihrer Arbeitszeit bewerkstelligen musste. Die mehrmals versprochene Unterstützung dieses ← 8 | 9 → wissenschaftlichen Begleitbandes seitens des Bundesbeauftragten reduzierte sich letztlich auf die um Monate verspätete Vergabe eines kurzfristigen Werkvertrages für Ralph Kaschka.

Außenminister Hans-Dietrich Genscher thematisierte 1976 vor der 31. Vollversammlung der Vereinten Nationen die von der DDR zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen an der innerdeutschen Grenze. Auch die im Januar 1973 eingerichtete deutsch-deutsche Grenzkommission befasste sich auf Betreiben der westdeutschen Seite und gegen den Willen der DDR-Delegation bis 1989 mit schweren Zwischenfällen an der innerdeutschen Grenze. Enrico Seewald hat die Überlieferung des Auswärtigen Amtes und der Grenzkommissionsdelegationen beider Seiten ausgewertet und fasst diese in seinem Beitrag zusammen.

Die von Enrico Seewald behandelte UNO-Konvention über „Verbote oder Beschränkungen der Anwendung von Minen, heimtückischen Fallen und anderen Vorrichtungen“ zog, wie Jochen Staadt in seinem Beitrag belegt, die Entscheidung der SED-Führung nach sich, Minen an der innerdeutschen Grenze abzubauen. Der dazu gefasste Beschluss erfolgte bereits vor dem Beginn der Verhandlungen über den Milliardenkredit von 1983. Die SED-Führung hatte allerdings nichts dagegen, dass sich Franz Josef Strauß mit dem Lorbeer schmückte, er habe durch sein Verhandlungsgeschick den Abbau der Splitterminen herbeigeführt.

Erstaunlich hoch ist die Zahl der vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit unter verschiedenen Vorwänden vom Grenzdienst zurückversetzten Soldaten und Offiziere. Angehörige der Grenztruppen wurden oft aus geringfügigen Gründen von grenzsichernden Einheiten abgezogen und in rückwärtige Einheiten versetzt. Gründe für das Misstrauen des MfS, die zu „legendierten Abversetzungen“ führten, konnten vage Spitzelhinweise zu möglichen Fahnenfluchtabsichten sein, Ausreiseanträge von Verwandten oder Freundinnen oder auch nur positive Äußerungen von Grenzsoldaten über westliche Fahrzeuge oder Konsumartikel. In Jochen Staadts Beitrag geht es um solche Vorgänge, aber auch um Widerstandshandlungen bis hin zur Ablehnung des Schusswaffengebrauchs durch junge Grenzsoldaten und die Durchsetzung der DDR-Grenztruppen mit Aufpassern und Informanten des Staatssicherheitsdienstes.

Viele zur Flucht entschlossene DDR-Bürger hielten die Grenzen der „sozialistischen Bruderstaaten“ für leichter überwindbar als die innerdeutsche Grenze. Das war ein tragischer Irrtum. Stefan Appelius behandelt in seinem Beitrag gelungene und gescheiterte Fluchten über die „verlängerte Mauer“ und beschreibt die Maßnahmen der verbündeten sozialistischen Sicherheitsorgane zur Bespitzelung und Verfolgung von Fluchtverdächtigen sowie exemplarische Schicksale von DDR-Flüchtlingen, die an den Grenzen anderer Ostblockstaaten ums Leben kamen. ← 9 | 10 →

Die strafrechtliche Ahndung der Verbrechen, die von der SED-Führung angeordnet und in zahllosen Verwaltungsverordnungen, Weisungen, Befehlen und Gesetzen menschenrechtswidrige Realität wurden, führte auf Seiten der Systemträger des SED-Regimes zu dem Vorwurf, eine westdeutsche „Siegerjustiz“ rechne mit dem untergegangenen Sozialismus und seinen Repräsentanten ab. Klaus Schroeder legt eine Analyse der Gerichtsverfahren vor, in denen Unrechtshandlungen von Grenzsoldaten und ihren Befehlsgebern verhandelt wurden. Dabei zeigt sich, dass die überwiegend milden Urteile gegen die Verantwortlichen und Ausführenden von schwersten Menschenrechtsverletzungen bis hin zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze in keiner angemessenen Relation zu dem Unrecht stehen, das der SED-Staat Hundertausenden seiner Bürger zugefügt hat.

Klaus Schroeder

Jochen Staadt

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Gerhard Schätzlein

Blutige Grenze 1945 bis 1949

Von den Schwierigkeiten, über diese Zeit zu berichten

Die Voraussetzungen

Mitte 2013 nahm der Forschungsverbund SED-Staat erstmals Kontakt mit mir auf. Es ging um meine Unterlagen zu Vorfällen an der Grenze. Nachdem der Forschungsverbund sich mit Todesfällen an der Grenze seit Gründung der DDR befasste, zeigte ich mein Interesse, in die finstere Zeit vor der DDR-Gründung mehr Licht zu bringen. Im November 2013 erhielt ich dazu einen Rechercheauftrag des Forschungsverbunds.

Nachdem ich bereits bei meinem Buch über den Reichsarbeitsdienst in der Rhön viel Unterstützung der Gemeinden und viele Rückmeldungen aus der Bevölkerung erhalten hatte, schrieb ich nun voller Enthusiasmus alle 120 Gemeinden und Städte entlang der damaligen Zonengrenze an, wobei ich mir als Nordgrenze den Harz und als Süd- bzw. Ostgrenze die Grenze zur Tschechoslowakei vorgegeben hatte. Ich machte meinen Ansprechpartnern in den Kommunen deutlich, dass dies nach mehr als 60 Jahren die wahrscheinlich letzte Möglichkeit ist, noch Zeitzeugen zu befragen und Hinweise zu erhalten. Gleichzeitig bat ich um Bekanntgabe im Gemeinde- oder Amtsblatt und schrieb auch alle Tageszeitungen entlang der ehemaligen Grenze an.

Das Ergebnis war, gemessen an der Zahl der Rückmeldungen, „durchwachsen“. Ein großer Teil der Standesbeamten hatte sich die Mühe gemacht, die Unterlagen von 1945 bis 1949 nach Todesfällen zu durchsuchen. Die meisten meldeten jedoch kein Ergebnis. Das lag unter anderem daran, dass in sehr vielen Fällen anhand der Sterbekunde nicht nachvollzogen werden kann, ob der Todesfall in Zusammenhang mit Zwischenfällen an der Grenze steht. So wurde mir aus Bad Königshofen kein Todesfall gemeldet. Als ich jedoch konkret nach der am 10. Juni 1946 an der Grenze erschossenen Elisabeth Schubert fragte, erhielt ich umgehend die Sterbeurkunde. Meine Recherche gestaltete sich auch schwierig, weil die Standesbeamten für eine große Anzahl von kleinen eingemeindeten Orten zuständig sind. Hinzu kommt eine größere Zahl von Gemeinden im Rahmen einer Verwaltungsgemeinschaft. Nicht selten wurde ich deshalb darauf verwiesen, selbst vor Ort zu recherchieren. Für einen einzelnen Forscher ist das jedoch kaum durchführbar. Allerdings gaben sehr viele Ansprechpartner weiterführende Adressen und Hinweise. ← 11 | 12 →

Als zu kompliziert und aufwändig für einen Einzelkämpfer stellte sich bisher auch die Recherche in den zuständigen Archiven heraus. Einige, wie Würzburg, hatten überhaupt keine Unterlagen, andere verwiesen auf Einzel- bzw. Zufallsfunde. Einzig im Staatsarchiv Coburg fanden sich in Akten der Polizeidirektion Coburg bzw. in den Akten der Staatsanwaltschaft Hinweise auf mehr als 50 Vorfälle aus der Zeit bis 1949. Die Akten im Staatsarchiv Weimar sind noch nicht ausgewertet.

In der Presse wurden Todesfälle und Gewalttaten mehrfach thematisiert, teilweise bereits in einer Zeit, als es noch Zeitzeugen oder deren Hinterbliebene gab. Auch hier wäre es nötig, die Zeitungen der damaligen Zeit intensiv zu durchforsten.

Martina Hunka, die für die Tageszeitung Freies Wort in Sonneberg arbeitet, durchsuchte im Stadtarchiv die verfilmten Ausgaben der Zeitung Das Volk und wurde fündig. Sie stieß auf eine Todesanzeige mit folgendem Wortlaut: „Unser lieber, herzensguter Sohn und Bruder Heinz Hetzelt, geb. 28.9.1926 wurde in der Blüte des Lebens von uns gerissen. Sonneberg, den 3. Juni 1949. In unermesslichem Schmerz: Reinhold Hetzelt und Frau, Horst Hetzelt und Anverwandte.“ Sie wusste, wonach sie suchte – doch aus der Todesanzeige geht nicht hervor, dass Heinz Hetzelt von Russen erschossen worden war. Besonders in der Sowjetischen Besatzungszone hatten die Hinterbliebenen viel zu große Angst, solche Dinge öffentlich anzusprechen, wahrscheinlich hätten auch die Zeitungen eine solche Anzeige gar nicht erst angenommen.

Auch persönliche Rückmeldungen erhielt ich in größerer Zahl. Viele erzählten mir ihre Leidensgeschichte oder berichteten vom Leid oder dem Tod von Anverwandten. Viele dieser Geschichten hatte ich bereits seit 1990 gesammelt. Das Material, das ich in all den Jahren zusammengetragen habe, soll in einem eigenen Buch veröffentlicht werden. Doch auch aus vielen Erzählungen, die ich mir anhören durfte, zeigen, welche Schwierigkeiten diese erlebte Geschichte mit sich bringt. Es ist ja nicht nur so, dass das Alter und der Lauf der Zeit die Erinnerung trüben kann. Zusätzlich hat sich kaum jemand, der nicht amtlich damit befasst war, oder der Unterlagen aus der eigenen Familie über all die Jahre und Jahrzehnte aufgehoben hat, das genaue Datum notiert oder den Namen gemerkt, wenn es nicht ein naher Verwandter war.

Informationen über die Vorkommnisse aus dieser Zeit erhoffe ich mir auch vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Aus den bisherigen Unterlagen weiß ich, dass nicht nur Angehörige über den Suchdienst nach ihren spurlos verschwundenen Verwandten suchten, sondern dass auch die Polizei und andere Behörden bis zu sieben Suchdienste und zusätzlich die Presse einschalteten, um die Identität unbekannter Toter aufzuklären. Die Suchdienste damals waren das ← 12 | 13 → DRK in München und Leipzig, die Zentralstelle für Vug. W Angeh. Berlin1, der Caritas-Verband Bamberg, der Suchdienst der Zonenzentrale Arolsen2 und das Hilfswerk der evangelischen Kirchen in Berlin.

Aus dem bisher Gesagten wird vielleicht klar, dass es nicht die Sache von wenigen Monaten sein kann, ein Buch über diese Zeit zu verfassen. Es kann hier nur ein Überblick über diese fürchterliche, weithin unerforschte Zeit gegeben werden.

Der verlorene Krieg und die direkten Folgen

Man kann sich heute keine Vorstellung machen, welcher Menschenstrom zwischen 1945 und 1949 in beide Richtungen die Grenze überquerte.

Etwa zwölf bis vierzehn Millionen Flüchtlinge kamen in diesen Jahren nach Restdeutschland auf der Suche nach Verwandten, Angehörigen, einer Bleibe. Dazu waren vom Balkan „etwa 9 Millionen zu erwarten.“3

Etwa vier Millionen Menschen waren durch den Bombenkrieg heimat- und obdachlos geworden und suchten nun den Weg zurück und ihre Angehörigen.

Elf Millionen Wehrmachtsangehörige waren in Gefangenschaft geraten und suchten nun ihre Heimat, ihre Angehörigen, ein neues Zuhause.

Zur Zwangsarbeit unter dem NS-Regime waren zwischen sieben und elf Millionen Menschen fast überall im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten eingesetzt. Sie sowie befreite Kriegsgefangene und Vertriebene anderer Nationen dieser „Displaced Persons“ (DPs) wurden vorerst in DP-Lagern untergebracht.

All diese Menschen wollten heim, suchten eine neue Heimat, waren auf der Suche nach Angehörigen, nach Resten ihrer bisherigen Existenz, ihres Besitzes.

Ein großer Teil dieser Menschen war gezwungen, die Grenze ein- oder mehrmals zu überschreiten. Diese Millionen trafen seit Juli 1945 auf eine Grenze, die sich mitten durch Deutschland schlängelte, das Herz Deutschlands zerschnitt.

Im Westen dieser Grenze regierten und agierten die Siegermächte USA und Großbritannien, sie wurden teilweise unterstützt von norwegischen und holländischen Kontingenten. Im Osten, in der SBZ hatten die Russen, die Soldaten der Sowjetunion das Sagen. ← 13 | 14 →

In Bayern und Hessen kontrollierten die US-Streitkräfte die Grenze.

Über Verordnungen oder Direktiven, welche das Verhalten der Besatzungsmächte bei der Kontrolle der Demarkationslinie regelten, ist kaum etwas Konkretes bekannt. Mehrmals berufen sich Autoren auf das Gesetz Nr. 161 der Militärregierung zur Grenzkontrolle, für dessen Durchführung ab dem 15. März 1947 die Bayerische Grenzpolizei hauptverantwortlich wurde. Doch weder in der Erst-4 noch in der abgeänderten Fassung5 ist das Gesetz auf die Demarkationslinie zwischen Westzone und SBZ anwendbar, da als Grenzen in beiden Fassungen jeweils die (Außen-)Grenzen des Deutschen Reiches von 1947 definiert werden. Trotz dieser Irritation scheint das Gesetz Nr. 161 die Grundlage für das Verhalten zumindest der US-Militärregierung gewesen zu sein. Ob auch die Sowjettruppen sich nach diesem Gesetz richteten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Danach war grundsätzlich „jeder Verkehr von Personen, Waren und Vermögen irgendwelcher Art nach Deutschland und aus Deutschland verboten“. Einzige Ausnahme: „Angehörige der Alliierten Streitkräfte oder Personen, welche eine besondere Erlaubnis seitens der Militärregierung erhalten haben“.

Dieses grundsätzliche Verbot eines Grenzübertritts ohne ausdrückliche Erlaubnis war nach meiner Meinung die Grundlage auch für die Maßnahmen der Sowjetgrenztruppen entlang der Demarkationslinie.

Gründe für rigides Durchgreifen konnten die Grenzorgane beiderseits in der Verordnung Nr. 1 finden, die sofort nach der Kapitulation Deutschlands erlassen worden sein muss6. Die Verordnung bezieht sich auf die Alliierten Streitkräfte.

Danach werden folgende „Verbrechen“ mit dem Tode bestraft:

1. Spionage;

2. Verbindung mit feindlichen Streitkräften;

3. Übermittlung von Nachrichten, welche die Sicherheit der Alliierten Streitkräfte bedrohen;

4. Bewaffneter Angriff oder bewaffneter Widerstand gegen die Alliierten Streitkräfte;

5. Tötung eines Angehörigen der Alliierten Streitkräfte oder Angriff auf einen solchen; ← 14 | 15 →

6. Auftreten als Angehöriger der Alliierten oder unbefugtes Tragen von deren Uniformen;

7. Ungesetzlicher Besitz;

8. Ungesetzlicher Gebrauch von Feuerwaffen, Munition, Sprengstoff usw.;

9. Hilfe zum Entkommen einer von den Alliierten verhafteten Person oder deren Verbergung;

10. Sabotage irgendwelchen Kriegsmaterials der Alliierten.

Demnach war es für die Grenzüberwachungsorgane nicht allzu schwer, Gründe zu finden, die es ihnen erlaubten, zur Waffe zu greifen.

Die Amerikaner an der Grenze

Nach ihrem Rückzug an die Grenze Bayerns zu Thüringen im Juli 1945 kontrollierte die 3. US-Army die Ostgrenzen Unter- und Oberfrankens mit Teilen der 1., 9. und 102. Infanteriedivision sowie der 4. Panzerdivision.7 Der hessische Grenzabschnitt, für den die 7. US-Army zuständig war, wurde durch die 3. Infanteriedivision wahrgenommen. Mit diesen Kräften bauten die Amerikaner anfangs eine effektive Grenzkontrolle auf: Die Fuß- und motorisierten Streifen wurden anfangs durch berittene Züge in Stärke von 30 Soldaten unterstützt. Zudem standen spezielle Grenzkontrollteams der Gegen-Abwehr-Corps (CIC) den diensttuenden Wachtruppen hilfreich zur Seite, besonders zur Vernehmung verdächtiger Personen und illegaler Grenzgänger.8 In dieser Zeit werden einmal „die Amerikaner als die schärfer Kontrollierenden angesehen, dann wieder die Russen“.9

Für die Amerikaner stellte sich sehr schnell heraus, „daß die ‚Grenzkontrollen aus der Tiefe‘ effektiver waren. Daher wurde ab 10. Mai 1946 eine 10-Meilen-Zone festgelegt, in der die Constabulary ihre Streife mit je 1 M8-Aufklärungspanzer sowie 3 Jeeps und 13 Soldaten Besatzung durchführte.“10 Der Grund war jedoch weniger die Effektivität, als die massive Reduzierung durch Rückführung von Kampftruppen und deren Abzug in den pazifischen Raum. Ende 1945 waren 80 Prozent der vormaligen Kampftruppen abgezogen. „Diese massive Rückführung führte […] zu einem teilweise chaotischen Durcheinander von Zuständigkeiten und Befehlsstrukturen. Die Grenztruppe der USA entpuppte sich schließlich als „eine kleine, unorganisierte, undisziplinierte, untrainierte Ansammlung von ← 15 | 16 → Individuen, vollkommen ungeeignet für eine vorausschauende strategische Unterstützung der amerikanischen Außenpolitik“, zitiert Hans-Jürgen Schmidt den Militärhistoriker Norman O. Frederiksen11.

Die amerikanische Grenzüberwachung aus Sicht eines bayerischen Grenzpolizisten

„Geschick und Behutsamkeit waren die notwendigsten Tugenden für den Neuaufbau der Grenzpolizei in jenen Tagen, stand doch jede Kompetenzzubilligung oder gar -erweiterung in dem oftmals sehr subjektiv gehandhabten Ermessen der örtlichen Repräsentanten der Besatzungsmacht. Da war dem einen die Zahl der festgehaltenen illegalen Grenzgänger zu hoch, dem anderen zu niedrig; da vermochten clevere Geschäftsleute, sprich Schwarzhändler, der im Besatzungsdienst stehenden Justitia die Binde so fest um die Augen zu ziehen, daß sie durchaus den Stand ihrer Waagschalen nicht mehr zu beobachten vermochte; da überkam nach dem ersten Versuch zu sicherheitlicher Kooperation den im Wettschießen zwischen Besatzern und Grenzpolizisten unterlegenen US-Sergeanten ein bedrängendes Gefühl, mit eben dieser Kooperation zu weit gegangen zu sein, und er ließ die erst vor kurzem an die Grenzer ausgegebenen Karabiner wieder einziehen“, schreibt Gustav Häring in seiner kleinen Geschichte der bayerischen Grenzpolizei.12 Ganz folgerichtig hieß es dabei im „Titel 9“ Nr. 9–415 Ziffer 4 der Vorschriften der Militärregierung: „Es ist wichtig, daß die Bayerische Grenzpolizei in diplomatischer Weise die Befugnisse ausübt, da die künftige Ausdehnung der Zuständigkeiten der deutschen Polizei weitgehend davon abhängt, wie diese Befugnisse ausgeübt werden.“

Die Russen kommen

„Hinter den Soldaten der 8. Gardearmee hatte ein mehrere Tausend Kilometer langer Kampfweg von Stalingrad über die Ukraine nach Deutschland gelegen. Spuren und Bilder grausamster deutscher Verbrechen hatten sich in die Köpfe der Rotarmisten eingebrannt. Sie kamen als zornige Sieger, die nicht gut auf die besiegten Deutschen zu sprechen waren. Jetzt besetzten sie Thüringen und die Grenzen zu Bayern und Hessen.“, schreibt der Oberstleutnant Horst Liebig in seiner Autobiographie13. ← 16 | 17 →

Die Ausstellung des Erfurter Stadtmuseums „Thüringen vor 70 Jahren: Die Russen kommen“, 2005 schlussfolgerte: „Die Thüringer und zahlreiche Kriegsflüchtlinge sahen nach dem Abzug der Amerikaner mit Furcht den Sowjetsoldaten entgegen. Die Sieger wurden zur Projektionsfläche der Ängste der Besiegten vor Vergeltung. Berichte über sowjetische Untaten verdrängten das Nachdenken über die eigene Verantwortung […] Gerüchte grassierten, alle deutschen Frauen würden zu Sklavinnen der Sieger gemacht.“

„Tatsächlich kam es zu Exzessen wie Erschießungen und Vergewaltigungen. Allerdings ließen sich dafür keine Befehle nachweisen“, schrieb die Thüringer Allgemeine.14

Gerhard Reisenweber, der Chronist des Grenzregiments Herbert Warnke, der selbst den Einmarsch und die Anwesenheit der Russen miterlebte, beschreibt das Verhältnis der Rotarmisten zu den Einwohnern als „korrekt, verständnisvoll und hilfsbereit“. Schließlich sein abschließendes Urteil: „Obwohl ihre Heimat geschändet war, obwohl sie abertausendfaches Leid erlebt hatten, bewahrten sie ihr menschliches Antlitz. Sie wussten zu unterscheiden zwischen den deutschen Faschisten und den ehrlichen, aufrechten Deutschen, zwischen Feinden und Antifaschisten, Patrioten.“15 Auch andere beschrieben die Russen als manchmal skurril, aber meist nicht allzu gefährlich, manchmal auch freundlich und hilfsbereit.

Mit dem SMAD-Befehl Nr. 5 vom 9. Juli 1945 wurde in Thüringen der Kommandeur der 8. Gardearmee Generaloberst Wassilij Tschuikow mit der Verwaltung der Provinz und der Wahrnehmung der Kontrolle der örtlichen Selbstverwaltung beauftragt.16 Allerdings finden sich nirgendwo Unterlagen, dass die Sowjetische Militäradministration in Deutschland in das Grenzregime eingegriffen hätte.17 Es scheint, dass Tschuikow als Kommandeur der 8. Gardearmee die alleinige Befehlsgewalt über die an der Grenze stehenden Truppen gehabt hätte. Es sieht nach den vorhandenen Unterlagen so aus, als habe es zwar möglicherweise Richtlinien, jedoch keine verbindlichen Befehle gegeben, wie mit illegalen Grenzgängern zu verfahren sei. ← 17 | 18 →

Die Lage an der Grenze aus Sicht der Kriminalaußenstelle Coburg

In einem Schreiben der Kriminalaußenstelle Coburg an die Landpolizei Bayern, Chefdienststelle Ansbach, vom 16.12.1949 wird die Situation an der Grenze eindringlich und klar beschrieben, auch wenn vielleicht die Rolle der US-amerikanischen Grenztruppen zu nachsichtig gesehen wird. In dem Schreiben ging es um unbekannte Tote an der Zonengrenze. Den Auftrag dazu hatte die Chefdienststelle I der Kriminalpolizei am 13.12.1949 fernmündlich erteilt.

Details

Seiten
542
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631742372
ISBN (ePUB)
9783631742389
ISBN (MOBI)
9783631742396
ISBN (Hardcover)
9783631742365
DOI
10.3726/b13084
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Deutsch-deutsche Grenzkommission DDR-Staatsgrenze West Siegerjustiz Zonengrenze 1945-1949 Sperrgebiet Repression
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018., 542 S., 40 s/w Abb., 11 Tab., 3 Graf.

Biographische Angaben

Klaus Schroeder (Band-Herausgeber:in) Jochen Staadt (Band-Herausgeber:in)

Klaus Schroeder lehrt als Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 1992 leitet er den Forschungsverbund SED-Staat. Jochen Staadt ist Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin und seit 1992 dessen Mitarbeiter.

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