Lade Inhalt...

Die Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen im Verfahren des Widerrufs einer Strafaussetzung zur Bewährung

von Wilfried Gunia (Autor:in)
©2018 Dissertation 178 Seiten

Zusammenfassung

Kommt der Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung in Frage, muss eine Prognose gestellt werden, ob mit neuen Straftaten des Verurteilten zu rechnen ist. Das Gericht muss den psychischen Zustand des Probanden beurteilen, wobei ein Sachverständigengutachten hilfreich sein könnte. Ist der Verurteilte damit nicht einverstanden, müsste die Begutachtung mit Zwang durchgeführt werden können, wofür das Gesetz aber keine Ermächtigungsgrundlagen vorsieht. Auch stehen dem Präventionszweck Freiheitsrechte des Verurteilten gegenüber. Unter Einbeziehung einer empirischen Studie präsentiert der Autor einen Lösungsvorschlag de lege ferenda, wonach eine zwangsweise Vorführung legitimierbar wäre. Eine zwangsweise Untersuchung dürfte dagegen auch weiterhin nicht zu rechtfertigen sein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Problemstellung
  • 1.2 Die Entscheidung des OLG Hamm vom 17.1.1974
  • 1.3 Inhaltliche Aspekte der Ausgangsentscheidung
  • 1.4 Weiterführende Aspekte zur Ausgangsentscheidung
  • 2. Zwangsmaßnahmen in der StPO
  • 2.1 Zwangsmaßnahmen zur Untersuchung des Körpers und der Psyche eines Beschuldigten
  • 2.2 Zwangsmaßnahmen zur Erlangung gegenständlicher Beweismittel
  • 2.3 Zwangsmaßnahmen zur Überwachung des gesprochenen Wortes
  • 2.4 Zwangsmaßnahmen zur Erkundung der Nutzung telefonischer Verbindungen
  • 2.5 Zangsmaßnahmen zu Durchsuchungszwecken
  • 2.6 Untersuchungshaft
  • 2.7 Einstweilige Unterbringung
  • 2.8 Sachverständige Begutachtung gem. § 454 Abs. 2 Nr. 1 StPO bei Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafen gem. § 57a StGB
  • 2.9 Zusammenfassung
  • 3. Zulässigkeit psychiatrischer Begutachtung im Parallelverfahren
  • 3.1 Zeitlicher Zusammenhang der Widerrufsentscheidung mit der Begutachtung des Verurteilten
  • 3.2 Zwangsmaßnahmen und Amtshilfe
  • 3.2.1 Die Grundsätze der Amtshilfe
  • 3.2.2 Die Zwangsmaßnahmen des Amtshilfeverfahrens
  • 3.3 Zwangsmaßnahmen und Verfahrenszweck
  • 3.4 Rechtsunsicherheit bei verschiedenartigen Untersuchungszielen
  • 3.4.1 Verschiedene Beweggründe bei früherer Tat und Anlasstat
  • 3.4.2 Positive Prognose nach erneuter Straftat trotz früherer Verurteilungen
  • 3.5 Verknüpfung von Maßnahme und Verfahrenszweck am Beispiel des Beschlagnahmerechts
  • 3.6 Anwendung der §§ 81, 81a StPO bei Gleichartigkeit von Anlasstat und abgeurteilter Tat
  • 3.7 Bedeutung der Gleichartigkeit in der Entscheidung des OLG Hamm
  • 3.8 Zwischenergebnis
  • 4. Meinungsstand zur Entbehrlichkeit von Ermächtigungsgrundlagen bei Unterbringungen
  • 4.1 Die Auffassung des OLG Celle
  • 4.1.1 Stellungnahme zur Auffassung des OLG Celle
  • 4.1.2 Die Auffassungen der OLGe Hamm und Celle im Vergleich
  • 4.2 Die herrschende Meinung
  • 4.2.1 Meinungsstand
  • 4.2.2 Die Auffassungen der OLGe Hamm und Celle im Lichte der herrschenden Meinung
  • 4.3 Die Auffassung Wohlers‘
  • 4.3.1 Ermächtigung zur Untersuchung des Beschuldigten innerhalb der Haftanstalt
  • 4.4 Beschuldigteneigenschaft als Zulässigkeitsvoraussetzung
  • 4.5 Zwischenergebnis
  • 5. Richterliche Praxis und Regelungsbedarf
  • 5.1 Strafaussetzung zur Bewährung, § 56 Abs. 1 S. 1 StGB
  • 5.2 Dauer der Bewährungszeit, § 56a StGB
  • 5.3 Widerruf der Strafaussetzung, § 56f StGB
  • 5.4 Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe, § 57 StGB
  • 5.5 Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe, § 57a StGB
  • 5.6 Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 StGB
  • 5.7 Absehen von Strafe, § 60 StGB
  • 5.8 Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, § 67d StGB
  • 5.9 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, § 63 StGB
  • 5.10 Späterer Beginn der Unterbringung, § 67c StGB
  • 5.11 Grundsätze der Strafzumessung, § 46 StGB
  • 5.12 Verhängung kurzer Freiheitsstrafen in Ausnahmefällen, § 47 StGB
  • 5.13 Zusammenfassung
  • 6. Die Abhängigkeit des Gerichtes von sachverständiger Hilfe
  • 6.1 Erforderlichkeit körperlicher Untersuchungen für die Erstellung einer Prognose
  • 6.2 Richterliche Sachaufklärungspflicht
  • 6.2.1 Richterliche Sachaufklärungspflicht im Erkenntnis- u. Vollstreckungsverfahren
  • 6.2.2 Vergleichbarkeit der Sachaufklärungspflicht im Erkenntnis- u. Widerrufsverfahren
  • 6.2.3 Mögliche Fehlprognosen und Aufklärungspflicht
  • 6.2.4 Ausschöpfung von Beweismitteln nach gewonnener richterlicher Überzeugung
  • 6.2.5 Richterliche Sachaufklärungspflicht im Widerrufsverfahren
  • 6.3 Mindestanforderungen an die Begutachtung
  • 6.4 Zusammenfassung
  • 7. Richterliche Sachaufklärung und Präventionszweck
  • 7.1 Rückfallwahrscheinlichkeit
  • 7.1.1 Bedeutung der Rückfallwahrscheinlichkeit für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen
  • 7.1.2 Konsequenzen für das Widerrufsverfahren
  • 7.2 Gewicht der Tat und Verhältnismäßigkeit
  • 7.3 Zwischenergebnis
  • 8. Richterliche Sachaufklärung durch Beweiserhebung
  • 8.1 Nachweisbarkeit von Prognosetatsachen
  • 8.2 Behandlung von Zweifelsfragen beim Widerruf
  • 8.2.1 Prognose und Prognosegrundlage
  • 8.2.2 Rechtsnatur des Zweifelssatzes
  • 8.2.3 „In dubio pro reo“ und Prognosestellung
  • 8.2.4 Eigene Stellungnahme
  • 8.2.5 Beispielsfall
  • 8.2.6 Anwendbarkeit des Zweifelssatzes im Widerrufsverfahren
  • 8.3 Zwischenergebnis
  • 9. Auferlegen von Weisungen
  • 9.1 Die Rechtsnatur der Weisungen
  • 9.2 Funktion der Weisungen
  • 9.3 Verhältnismäßigkeit (Zumutbarkeit) von Weisungen
  • 9.4 Zwischenergebnis
  • 9.5 Die Weisungen in der richterlichen Praxis
  • 9.6 Die zulässige Reichweite von Grundrechtsbeeinträchtigungen aufgrund § 56c StGB
  • 9.7 Erweiterungen bestehender Grundrechtseingriffsmöglichkeiten durch Weisungen
  • 9.8 Zwischenergebnis
  • 9.9 Zwangsausübung bei Nichtbefolgung von Weisungen
  • 9.10 Verhältnis von Weisungen und Maßregeln der Besserung und Sicherung
  • 9.11 Zwischenergebnis
  • 10. Verantwortlichkeit des Verurteilten
  • 10.1 Das Störermodell von Krauß
  • 10.2 Überprüfung des Störermodells
  • 10.3 Übertragbarkeit des Störermodells auf das Widerrufsverfahren
  • 10.3.1 Prognosegrundlagen als eigenständige Störung
  • 10.3.2 Einstufung des Verurteilten als Störer
  • 10.4 Zusammenfassung
  • 11. Zwangsmaßnahmen zur Sicherung von Anhörungsrechten
  • 11.1 Ermessen des Gerichtes zur Anhörung des Verurteilten
  • 11.2 Gesetzliche Grundlagen der Anhörungspflicht
  • 11.3 Umgehung der Anhörung durch das Gericht
  • 11.4 Verkürzung des Rechtsmittelzuges durch unterlassene Anhörung
  • 11.5 Verwirkung von Anhörungsrechten
  • 11.5.1 Verwirkung durch Auflagenverstoß
  • 11.5.2 Nachholung rechtlichen Gehörs
  • 11.5.3 Zwischenergebnis
  • 12. Anforderungen an eine lex ferenda
  • 12.1 Handlungspflicht des Gesetzgebers
  • 12.1.1 Der Fall aus BVerfGE 33, 1ff.
  • 12.1.2 Zwischenergebnis
  • 12.1.3 Erforderliche Dauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
  • 12.1.4 Eigene Sachkunde des Gerichts
  • 12.1.5 Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung zu Zwecken der Untersuchung
  • 12.1.6 Untersuchungsverweigerer
  • 12.1.7 Erhebung über Zwangsanwendung gegenüber untersuchungsunwilligen Probanden
  • 12.1.8 Gründe für das Nichtbefolgen einer Vorladung zur gutachterlichen Untersuchung
  • 12.1.9 Strategien zur Vermeidung von Zwangsvorführungen
  • 12.1.10 Rückschlüsse aus der Verweigerung der Untersuchung
  • 12.1.11 Konsequenzen für das Widerrufsverfahren
  • 13. Gesamtergebnis
  • Literaturverzeichnis

← 10 | 11 →

Kapitel 1
Einleitung

1.1  Problemstellung

Zu denjenigen Formen staatlicher Reaktion auf strafbares Verhalten, die auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit präsent sind, gehört die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe unter Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung, § 56 StGB. Dieses strafrechtliche Instrument verfolgt die Zielsetzung, dem Verurteilten die Rechtswidrigkeit seiner Tat vor Augen zu führen und ihn zu veranlassen, sich künftig straffrei zu verhalten. Gleichzeitig soll er eine realistische Chance erhalten, in einem Leben in Freiheit zu beweisen, dass er nun gewillt ist, sich künftig straffrei zu verhalten. Er soll die Chance haben, sich zu bewähren. Damit ihm dabei keine Steine in den Weg gelegt werden, sollen nach Möglichkeit diejenigen, meist schwerwiegenden sozialen Konsequenzen vermieden werden, welche die Vollstreckung der Freiheitsstrafe mit sich bringt: Verlust des Arbeitsplatzes, Probleme im familiären Bereich, Verlust von sozialen Kontakten, Freundschaften und Beziehungen. Die bloße Tatsache, dass der Täter in ein Strafverfahren verwickelt ist und das Erlebnis einer mündlichen Verhandlung vor einem Strafgericht sollen den Täter dermaßen beeindrucken, dass er in Zukunft keine weiteren Straftaten mehr begehen wird. Die Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung gibt es nur bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr, in Ausnahmefällen von bis zu zwei Jahren.

Das Gericht setzt die Vollstreckung der Strafe aber nur dann zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Diese sog. Erwartungsformel ist in § 56 Abs. 1 S. 1 StGB enthalten. Das erkennende Gericht muss sich also Gedanken darüber machen, ob es wahrscheinlich ist, dass der Verurteilte keine weiteren Straftaten mehr begehen wird, wenn er die Freiheitsstrafe nicht verbüßen muss und in Freiheit bleibt. Das Gericht muss eine Prognose treffen, die im Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung zu treffen ist.

Zum Wesen einer jeden Prognose gehört, dass sie sich im Laufe der Zeit als falsch erweisen kann. Der Verurteilte kann erneut straffällig werden, wodurch die Prognose als Voraussetzung für die Aussetzung widerlegt wird, mit der Folge, dass der Widerruf der Aussetzung, § 56f Abs. 1 StGB, in Betracht kommt.

Es gibt aber auch noch andere Gründe, aus denen die Vollstreckungsaussetzung zu widerrufen sein kann. Die einzelnen Gründe nennt das Gesetz in § 56f ← 11 | 12 → StGB. Ein Widerrufsgrund liegt vor, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht, gegen Weisungen oder Auflagen verstößt, die ihm das Gericht bei der Strafaussetzung zur Bewährung erteilt hat oder sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers entzieht.

Die genannten Widerrufsgründe führen für sich genommen jedoch noch nicht zwangsläufig zum Widerruf. Es müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein, um diese Rechtsfolge auszulösen. Wenn der Verurteilte erneut straffällig wird, liegt auf der Hand, dass sich die Erwartung, die der Strafaussetzung ursprünglich zugrunde lag, nicht erfüllt hat, § 56f Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 StGB. Ein Weisungsverstoß für sich genommen löst den Bewährungswiderruf dagegen noch nicht aus. Hinzukommen muss, dass er „gröblich oder beharrlich“ ist. Genau wie das Verhalten desjenigen Verurteilten, der sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers entzieht, muss der Weisungsverstoß Anlass zu der Besorgnis geben, dass die verurteilte Person erneut Straftaten begehen wird, § 56f Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StGB.

Fraglich ist allerdings, wie das Gericht beurteilen können soll, ob wirklich damit zu rechnen ist, dass der Verurteilte neue Straftaten begeht. Wie schon bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung muss das Gericht auch jetzt wieder eine Prognose darüber anstellen, ob von dem Verurteilten in Zukunft erneut Straftaten zu erwarten sind.

Um die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung vorzubereiten, kann es durchaus hilfreich sein, sich ein präzises Bild darüber zu verschaffen, welches Persönlichkeitsbild der Verurteilte aufweist und welche Umstände zu der Tat oder dem Verhalten geführt haben, das jetzt der Grund für einen Widerruf sein könnte. Es könnte immerhin sein, dass die erneute Straftat die Folge ganz außergewöhnlicher Umstände war, sodass sich die Erwartung straffreien Verhaltens zwar nicht erfüllt hat, in Zukunft aber trotzdem keine weiteren Straftaten zu erwarten sind, weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass derart ungewöhnliche Umstände jemals wieder zusammentreffen. Ob dies tatsächlich so ist, bedarf einer genauen Aufklärung, u. U. auch einer genauen Untersuchung des Verurteilten und seiner Persönlichkeit. Denkbar ist z. B., dass jemand wiederholt wegen Diebstahls verurteilt wurde und der Verurteilte die Taten zur Finanzierung seiner Drogensucht begangen hat. Im Gegensatz dazu kann die erneute Straftat, wegen der es jetzt zum Widerruf kommen könnte, einen ganz anderen Hintergrund haben. So kann es sein, dass der Verurteilte seine Drogensucht zwischenzeitlich überwunden hat und die erneute Straftat, wie vorstehend ← 12 | 13 → ausgeführt, auf ganz außergewöhnlichen Umständen beruht und keine weiteren Straftaten mehr zu befürchten sind1.

Natürlich wird das Gericht, das über den Widerruf zu entscheiden hat, aufgrund seiner langjährigen Erfahrung über ein entsprechendes Beurteilungsvermögen verfügen. Trotzdem verfügt es nicht über das Fachwissen eines Psychologen oder Psychiaters, sodass es immer wieder vorkommen wird, dass es Fälle zu beurteilen hat, in denen das eigene Beurteilungsvermögen nicht mehr ausreicht und ein psychologisches oder psychiatrisches Gutachten eingeholt werden muss. Nun kann das Gericht aber nicht einfach ein Gutachten anfertigen lassen. Dies ist nur dann möglich, wenn der Verurteilte damit einverstanden ist oder eine gesetzliche Regelung das Gericht hierzu ausdrücklich ermächtigt.

Wenn der Verurteilte mit einer solchen Begutachtung einverstanden ist, stellt die Einholung eines Gutachtens ohnehin kein Problem dar. Liegt das Einverständnis des Verurteilten jedoch nicht vor, benötigt man eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Bei der Suche nach einer solchen Ermächtigungsgrundlage stößt man jedoch auf Schwierigkeiten. Zwar existieren solche Ermächtigungsgrundlagen für das Erkenntnisverfahren, also für das Verfahren bis zur Rechtskraft des Urteils. Es gibt im Gesetz jedoch keine entsprechenden Ermächtigungsgrundlagen für das Widerrufsverfahren. Es stellt sich also die Frage, ob die Zulässigkeit solcher und anderer Maßnahmen, sollen sie zwangsweise gegen den Willen des Verurteilten durchgeführt werden, rechtlich begründet werden kann.

1.2  Die Entscheidung des OLG Hamm vom 17.1.1974

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist ein bereits älterer, aber nach wie vor aktueller Beschluss des OLG Hamm vom 17.1.19742. Dort war die Frage zu entscheiden, ob die Anordnung einer Maßnahme nach § 81 StPO zur Vorbereitung einer Entscheidung nach § 42h Abs. 3 StGB a. F. im Strafvollstreckungsverfahren statthaft ist3. ← 13 | 14 →

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Ein seit 1957 „wegen Geistesschwäche Entmündigter“ fiel am 30.1.1964 wegen eines Falls aggressiver Exhibition auf. Da er unzurechnungsfähig war, ordnete das Landgericht D seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an, weil von ihm weitere exhibitionistische Handlungen und schwerwiegende Sittlichkeitsdelikte Kindern gegenüber erwartet wurden.

Zum 3.5.1968 wurde er bedingt aus der Unterbringung entlassen, weil die Gefahr schwerer sexueller Kriminalität nicht mehr wahrscheinlich erschien, obwohl im psychischen Zustand des Verurteilten keine Besserung eingetreten war.

Seit Anfang des Jahres 1970 fiel der Verurteilte verschiedentlich durch aggressive Handlungen auf, die teilweise im Umfeld des Sexuellen entstanden. Seit Mai 1973 wurde sogar wegen Verdachts der schweren Unzucht in Tateinheit mit Notzucht (§ 176 StGB a. F.) gegen ihn ermittelt.

Die Staatsanwaltschaft hatte beantragt, die weitere Vollstreckung der Maßregel nach § 42h Abs. 3 StGB a. F. wegen der erneuten Vorkommnisse anzuordnen. Da jedoch die bedingte Entlassung bereits 1968 erfolgt war, hielt es die ← 14 | 15 → Strafkammer für geboten, den Verurteilten vor einer weiteren Vollstreckung der Maßregel durch einen Facharzt für Psychiatrie dahin begutachten zu lassen, ob immer noch Zurechnungsunfähigkeit zu bejahen war. Da der Sachverständige sich ausserstande sah, das erforderliche Gutachten ohne stationäre Beobachtung des Verurteilten zu erstatten, dieser aber nicht bereit war, sich stationär untersuchen zu lassen, hatte die Strafkammer nach § 81 StPO a. F.4 seine Unterbringung zur Beobachtung angeordnet. Hiergegen erhob der Vormund die nach §§ 462, 463a StPO a. F. zulässige Beschwerde5, die das OLG Hamm als begründet ansah6.

Zur Begründung führte das OLG Hamm an, dass das Vollstreckungsgericht, wenn es Zweifel daran gehabt hätte, ob die Voraussetzungen des Widerrufs gegeben sind, ob also der Zweck der ursprünglich angeordneten Maßnahme deren weitere Vollstreckung erfordert, diese Zweifel zugunsten des Verurteilten zu berücksichtigen gehabt hätte7. Für einen solchen Fall hätte der Widerruf somit unterbleiben müssen8.

Details

Seiten
178
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631749678
ISBN (ePUB)
9783631749685
ISBN (MOBI)
9783631749692
ISBN (Paperback)
9783631746776
DOI
10.3726/b13538
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
Sachverständiger Rückfallwahrscheinlichkeit Prognose Ermächtigungsgrundlage Verhältnismäßigkeit Richterliche Sachaufklärungspflicht
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 178 S.

Biographische Angaben

Wilfried Gunia (Autor:in)

Wilfried Gunia studierte Rechtswissenschaften in Mannheim und Münster und promovierte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er war Mitarbeiter am kriminalwissenschaftlichen Institut. Darüber hinaus befasste er sich mit dem Kommunalabgaben- und Steuerecht.

Zurück

Titel: Die Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen im Verfahren des Widerrufs einer Strafaussetzung zur Bewährung
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
180 Seiten