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Der Münzmeister, Stempelschneider und Medailleur Hans Jacob I. Gessner (1677-1737)

Zum Münz- und Medaillenwesen im Zürich des 18. Jahrhunderts. Band 1

von Marie-Alix Roesle (Autor:in)
©2020 Dissertation 706 Seiten

Zusammenfassung

Ab 1707 verändert sich das Münz- und Medaillenbild von Zürich augenfällig. Mit Hans Jacob I. Gessner hatte ein junger Goldschmiedemeister ab 1706 als gewählter Münzmeister die Bühne für die Münz- und Medaillenherstellung in Zürich betreten. In talentierter, technisch geschickter und feiner Kunstfertigkeit veränderte er das Münz- und Medaillenbild, er erweiterte dessen ikonographischen Kanon und inszenierte unter dem Einfluss des in Zürich sich ausbreitenden Gedankengutes der Aufklärung im Auftrag der Stadt Zürich deren Selbstwahrnehmung im Münz- und Medaillenbild. Nach seinem Ableben 1737 überstrahlte sein Vermächtnis bis zum Ende des alten Stadtstaates 1798 die Münzprägung von Zürich, die Medaillenprägung nahm nach ihm ein abruptes Ende.
Der vorliegende Band 18/1 enthält den Textteil und der gleichzeitig erscheinende Band 18/2 beinhaltet den Oeuvrekatalog.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titelseite
  • About the author
  • Widmung
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Ausgangslage und Fragestellung
  • 2. Forschungsstand
  • 3. Zusammenfassung
  • I. Geschichtliches Umfeld
  • 1. Einleitung
  • 2. Politische Lage
  • II. Das Münz- und Geldwesen
  • 1. Die Bedeutung des Münzwesens
  • 2. Die Münz- und Geldverhältnisse in Europa
  • 3. Die Münz- und Geldverhältnisse in der Eidgenossenschaft
  • 4. Die Münz- und Geldverhältnisse in Zürich
  • III. Die Organisation des Goldschmiedeberufs in Zürich
  • 1. Die Zunftzugehörigkeit
  • 2. Die Handwerksordnung der Goldschmiede
  • 3. Die Goldschmiede im Zürich des 18. Jahrhunderts
  • IV. Die Organisation und der Betrieb der Münzstätte
  • 1. Münzstätte, Silberstrecke, Technik und Prägestempel
  • 2. Die Organisation der personellen Zuständigkeiten bei der Münzprägung
  • V. Biografische Daten und familiäres Umfeld des Hans Jacob I. Gessner
  • 1. Einleitung
  • 2. Die Vorfahren
  • 3. Geburt, Eltern und Geschwister
  • 4. Ehegattinnen, Nachkommen und Ableben
  • 5. Der Stammbaum
  • 6. Weitere Erwähnungen des Hans Jacob I. Gessner
  • VI. Der berufliche Werdegang des Hans Jacob I. Gessner
  • 1. Die Lehrzeit
  • 2. Die Wanderjahre
  • 3. Die Ernennung zum Meister der Goldschmiede
  • 4. Die Lehrknaben
  • 5. Die erste Tätigkeit in der Münze
  • 6. Die Aufnahme in die Gesellschaft zur Constaffel
  • 7. Die Amtsniederlegung des Münzmeisters Hans Georg Gyger und die Wahl von Hans Jacob I. Gessner zum Münzmeister
  • VII. Das Münzmeisteramt der Stadt Zürich
  • 1. Das Eidbuch der Stadt Zürich
  • 2. Das Münzmeisteramt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
  • 3. Die Münzstätte zu Beginn des 18. Jahrhunderts
  • 4. Das Münzmeisteramt unter Hans Jacob I. Gessner ab 1706
  • 5. Die Entwicklung der Beiträge aus dem Prägegeschäft im Staatsschatz von Zürich
  • 6. Das Vermächtnis von Münzmeister Hans Jacob I. Gessner
  • VIII. Das Werk von Hans Jacob I. Gessner
  • 1. Die Münzen
  • 2. Die Medaillen
  • IX. Auswertung
  • 1. Chronologie der Ausprägungen von Münzen und Medaillen in der Amtszeit von Hans Jacob I. Gessner
  • 2. Auswertung der chronologischen Aufstellung der Prägetätigkeit
  • 3. Die Stellung der Münzmeister im 18. Jahrhundert
  • 4. Die Stellung der Medailleure im 18. Jahrhundert
  • 5. Münzprägung und Propaganda: Die Selbstinszenierung Zürichs im Münz- und Medaillenbild
  • 6. Die Bedeutung von Johann Jacob I. Gessner als Münzmeister und Medailleur
  • 7. Würdigung
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Glossar
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • 1. Genealogische Anmerkungen
  • 2. Originaldokumente
  • 3. Zu den Münzen
  • 4. Zu den Medaillen
  • 5. Zu den Abschlägen und Probeabschlägen
  • 6. Zu den Stempeln
  • 7. Chronologie der Ausprägungen der Münzen und Medaillen in der Amtszeit von Hans Jacob I. Gessner
  • 8. Münzmeister und Stempelschneider in den Städten der ehemaligen Schweiz

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Einleitung

1.Ausgangslage und Fragestellung

Hans Jacob I. Gessner verändert das Zürcher Münzwesen im ersten Drittel des 18. Jahrhundert und sein Vermächtnis überstrahlt nach seinem Ableben 1737 bis zum Ende des alten Stadtstaates die Münzpolitik Zürichs. Zu seinem Werk und Wirken besteht bis zum heutigen Tag keine umfassende Einzeldarstellung. Daher ist es das Ziel der vorliegenden Untersuchung dieses Werk und Wirken von Hans Jacob I. Gessner als Zürcher Stempelschneider und Medailleur sowie als Münzmeister der Stadt in seiner Gesamtheit zu erfassen und auf seine Bedeutung in seiner Zeit hin zu untersuchen. Das numismatische Vermächtnis von Hans Jacob I. Gessner soll dabei in die Tradition der Stempelschneiderkunst in Zürich sowie der gesamten damaligen Schweiz gesetzt werden. Untersucht werden sollen aber auch die Entwicklung und die Bedeutung des Münzmeisteramtes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also zu einer Zeit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entfaltung der Handelsstadt Zürich. Berücksichtigung findet dabei die Frage nach der doppelten (oder gar dreifachen) Funktion des Zürcher Münzmeisters, der zugleich als Stempelschneider und Medailleur tätig war, im Vergleich zu zeitgenössischen Berufskollegen in anderen Schweizer Städten. Diese Untersuchung will somit einen fehlenden Stein in das kulturgeschichtliche Mosaik der Stadt Zürich einsetzen. Die Person und das numismatische Vermächtnis von Hans Jacob I. Gessner werden dabei um ihrer selbst willen untersucht und nicht konsequent in den Rahmen der Wirtschaftsgeschichte von Zürich und der alten Eidgenossenschaft gestellt.

Münzen und Medaillen, zwei den artes minores zugeordnete Kunstgattungen, sind – trotz ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit – in ihrer künstlerischen Ausprägung miteinander verbunden. Als historische Dokumente ihrer Zeit und als Ausdruck einer künstlerischen Botschaft finden sie heute nur wenig Beachtung. Als Quellen und Denkmäler der Kulturgeschichte sind sie bis heute von grosser Bedeutung.

Wie aus Beständen alter Sammlungen abzulesen ist, stiessen Münzen und Medaillen seit der Renaissance auf ein breites Interesse. So auch die mit „HIG“ signierten Gepräge des Stempelschneiders Hans Jacob I. Gessner.

2.Forschungsstand

Seit jeher wurde die Signatur „HIG“ mehrheitlich der Person Hans Jacob I. Gessners (1677-1737) von Zürich zugeordnet. Dabei wurde allerdings oft keine Unterscheidung gemacht hinsichtlich der Arbeiten seines Sohnes Hans Jacob II. Gessner (1713-1770), der ihm als Goldschmied und Münzmeister nachfolgte.

„Gessner (Hans Jacob) der Vater, war lange Jahr Münzmeister zu Zürich, und hat sehr viel Medailles vom Anfang dieses Jahrhunderts an, gestochen.“1 Mit diesen Worten beschreibt Gottlieb Emanuel von Haller in seinem 1780 publizierten Schweizerischen Münz- und ←27 | 28→Medaillenkabinett unter anderen Medailleuren, Münzmeistern und Künstlern den Zürcher Stempelschneider Hans Jacob I. Gessner.2 Eine erstmalige Erwähnung aber findet Hans Jacob I. Gessner bereits 1754 im Allgemeinen Helvetischen Eydgenössischen oder Schweizerischen Lexicon (Bd. 8) von Hans Jacob Leu. Der Eintrag lautet hier folgendermassen: „Des Constantz Amtmann Jacobs anderen Sohns Hans Caspars Sohn und Sohns Sohn beyde Namens Jacob wurden Müntzmeister zu Zürich und ist es der letztere annoch.“3 Aufschlussreicher dagegen ist der Eintrag in dem von Johann Rudolf Füssli 1779-1824 und seinem Sohn Johann Heinrich Füssli 1804-1811 verfassten Allgemeinen Künstlerlexikon:

Gessner, (Joh. Jacob), ein geschickter Medailleur von Zürich, war daselbst Münzmeister von 1706 bis 1737, da er starb. Ohne einige Unterweisung ward er durch Fleiss und Genie einer der besten Münzgravierer s. Zeitalters; auch in Schaumünzen erreichte er einen beträchtlichen Grad der Vollkommenheit, besonders in der Ähnlichkeit seiner Bildnisse.4

Alle späteren Lexikoneinträge zu Hans Jacob I. Gessner beziehen sich auf diese beiden Publikationen.5

2.1.Zu den Medaillen

Im Jahresbericht des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich von 1930 beschrieb und kommentierte der damalige Konservator Emil Gerber 32 Silber- und Goldmedaillen von Hans Jacob I. Gessner sowie die entsprechenden Stempelvarianten, soweit sie sich im dortigen Münzkabinett befanden. Dabei verwies er auf Gessners geistige Orientierung, die aus den Medaillenbildern sprach, sowie auf die hohe Qualität seines Stempelschnitts.6 Unsignierte Medaillen aus der frühen Arbeitszeit von Gessner I. fanden in diesem Bericht keine Erwähnung.7

Im Anschluss an meine Lizenziatsarbeit8 habe ich selbst mehrere kürzere Artikel über die Zürcher Medailleure verfasst, in denen die Arbeit von Hans Jacob I. Gessner gewürdigt wurde.9

1983 erschien das grosse Übersichtswerk von Eva-Maria Lösel Zürcher Goldschmiedekunst vom 13. bis zum 19. .Jahrhundert.10 In einem Beitrag von Dietrich Schwarz erhielt Hans Jacob I. Gessner darin erstmals seinen Platz in der Tradition der Stempelschneiderkunst Zürichs. Für die biografischen Angaben zu Gessner berufen Lösel und Schwarz sich auf meine eigene ←28 | 29→Lizenziatsarbeit „Der Münzmeister und Medailleur Hans Jacob I. Gessner von Zürich 16771737“.11

In dem Artikel des Zürcher Numismatikers und Sammlers Ruedi Kunzmann „Medaillen im Zusammenhang mit dem Namen Escher“12 von 2014 finden auch mehrere Stücke Erwähnung, für die Gessner die Stempel schnitt. Die „Wahlpfennige“13 der Zürcher Zünfte und der Gesellschaft zur Constaffel, die „Schulprämien“14 sowie Siegel und Petschaften aus verschiedenen Aufträgen wurden bislang noch nicht in Hans Jacob I. Gessners Gesamtwerk registriert. Diese Lücke will die vorliegende Arbeit schliessen.

2.2.Zu den Münzen

Der Zürcher Sammler Fritz Schäppi publizierte 1978 einen Aufsatz mit dem Titel „Die frühen Taler von Hans Jacob I. Gessner“.15 Darin griff er in die jahrelange Diskussion um die Autorenschaft der Stempel für die undatierten „Schanzentaler“ ein und wies diese glaubhaft Hans Jacob I. Gessner zu. 1999 folgte in der gleichen Publikationsreihe Schäppis Aufsatz „Gessners’ Goldmünzen. Die Goldprägungen Zürichs 1707-1736 von Hans Jacob Gessner“.16 Darin stellte der Autor die Frage nach den ersten Stempeln, die Gessner zur Prägung von Goldmünzen geschnitten hatte.

In seinem Artikel „Die Taler und Halbtaler Zürichs im 18. Jahrhundert“ untersuchte Ruedi Kunzmann 1997, wie viele Stempel Gessner jeweils für Vorder- und Rückseiten verwendete und wie er verschiedene Vorder- und Rückseitenstempel bei Prägungen miteinander kombinierte.17

Ebenfalls von Ruedi Kunzmann stammt ein Artikel zu den schweizerischen Schillingmünzen18 mit dem Vorschlag einer Typisierung dieser Prägungen. Wegen der vielen Varianten dieser Kleinmünzen (für Zürich sind im Schweizerischen Nationalmuseum über 137 Stückaufgelistet) ist Vollständigkeit hier kaum zu erreichen, worauf Kunzmanns Auflistung berechtigterweise auch keinen Anspruch erhebt.

Die Zürcher Münzen, für die Hans Jacob I. Gessner die Stempel schnitt, sind in ihrer Gesamtheit bisher nicht erfasst. Auch wurden sie bislang stilistisch nicht von den Arbeiten seines Nachfolgers und Sohnes unterschieden. Auch dieser noch offenen Fragestellung soll im Folgenden nachgegangen werden.

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3.Zusammenfassung

Meine Lizenziatsarbeit von 1976 beschäftigte sich mit der Persönlichkeit und dem umfassenden Werk, die sich hinter der Signatur „HIG“ verbergen, aber auch mit dem vielseitigen Wirken von Hans Jacob I. Gessner sowohl als Stempelschneider und Münzmeister seiner Vaterstadt als auch als Medailleur.19 Seither fand das numismatische Vermächtnis Hans Jacob I. Gessners in der Fachliteratur zwar sporadisch,j edoch nur in Einzelaspekten Beachtung. Vor diesem Hintergrund erscheint es wünschenswert, die Untersuchungen zu Person und Wirken des Hans Jacob I. Gessner zu ergänzen, auszuweiten und zu vertiefen.


1 Haller 1780, Bd. l, S. 492.

2 Haller 1780, Bd .1, S. 492.

3 Leu 1754, S. 482.

4 Füssli 1779-1824, Bd. 3, S. 432.

5 Nagler 1837, S. 122; Forrer 1904, S. 252; Brun 1905, S. 567; Thieme 1920, S. 489; Habich 1923, S. 67.

6 Gerber 1930.

7 Bünger-Roesle 1976.

8 Bünger-Roesle 1976.

9 Zürcher Münzbote 6 (Oktober 1977), S. 24-27 (drei Medaillen von Hans Jacob I. Gessner für Graubünden); Du 487 (September 1981), S. 67-69; The Medal 28 (Spring 1996), S. 32-35.

10 Lösel / Meier 1983.

11 Bünger-Roesle 1976.

12 HMZ 10, 2011, S. 7-17.

13 Die geheimen Wahlen für politische Ämter fanden ab 1713 durch Setzen von Wahlpfennigen beim Namen des Kandidaten statt.

14 Silberprägungen durch den Rat von Zürich zur Belohnung von Schülern der Lateinschule für gute Leistungen.

15 Schäppi 1978, S. 489ff.; Fritz Schäppis Privatsammlung mit Geprägen von Hans Jacob I. Gessner ist leider nicht zugänglich.

16 Schäppi 1999, S. 681ff.

17 Kunzmann 1997, S. 530-537.

18 Kunzmann 1985, S. 338-341.

19 Bünger-Roesle 1976.

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I. Geschichtliches Umfeld

1.Einleitung

Hans Jacob I. Gessner wurde zu einer Zeit geboren, in der kirchliche und staatliche Autoritäten das Leben jedes Einzelnen beherrschen. Kirche und Staat unterstützen und ergänzen sich im ausgehenden 17. und angehenden 18. Jahrhundert und bilden in dem Sinne eine Einheit, dass die staatliche Autorität die Regelung der diesseitigen Fragen für sich in Anspruch nimmt, die Kirche dagegen für sich behauptet, die Sicherung des Lebens im Jenseits zu gewährleisten.20

Gessner wächst in die europäische Geistesbewegung der Aufklärung hinein, in der alles am Massstab einer zur Selbstständigkeit erwachten Vernunft gemessen wird.21 Das logische Denken soll sich frei von religiöser bzw. kirchlicher Dogmatik entwickeln. Gestützt auf Beobachtungen, die zu allgemeinen Gesetzen abstrahiert werden, entstehen eine neue Wissenskultur und, mit dieser verbunden, auch neue Machtstrukturen. Städte und Universitäten wirken als Zentren, von denen aus sich ein neuer, profaner Geist verbreitet.22

2.Politische Lage

2.1.Europa und die Eidgenossenschaft

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde das europäische Zeitgeschehen von Frankreich beherrscht. Der Sonnenkönig zelebrierte die monarchische Souveränität und baute Hegemonialpolitik Frankreichs aus. Davon war auch die Eidgenossenschaft betroffen. Die französischen Grenzen wurden immer näher an die Gebiete der Schweiz vorgeschoben.

Die Köpfe der Eidgenossen waren aber auch von internen Konflikten erhitzt. Die konfessionelle Trennung polarisierte und führte immer wieder zu Explosionen. Die reformierten und die katholischen Stände bildeten zwei Blöcke, die auch in gesonderten Tagsatzungen vereint waren. Während die katholischen Landorte ihre Staatlichkeit aus Lehens-Privilegien herleiteten, hatten sich die reformierten Orte ein Gewaltmonopol erkämpft, das sie nun weiter ausbauen konnten. Diese Rivalitäten entluden sich schliesslich 1712 im Zweiten Villmergerkrieg.

Die Reformierten Orte, allen voran Zürich und Bern, nutzten dabei die Tatsache, dass die europäischen Mächte noch im Spanischen Erbfolgekrieg gebunden waren, und verschoben mit ihrer Übermacht an Geld und Truppen das innereidgenössische Gleichgewicht zu ihren Gunsten.23

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2.2.Zürich

Bereits im l7. Jahrhundert, ausgeprägt aber seit dem Zweiten Villmergerkrieg von 1712, wurden die eidgenössisch-politischen Beschlüsse mehrheitlich von den zwei grossen Ständen Bern und Zürich gefasst. Jede der beiden Städte fühlte sich als souveräne Republik. Was Zürich betrifft, so war das von 1693 bis 1698 „um gemeiner Stadt Ehre willen“24 neu erbaute Rathaus Ausdruck eines erstarkten republikanischen Selbstverständnisses. Der repräsentative Bau sollte die Wehrhaftigkeit der Republik und die Tugendhaftigkeit ihrer Obrigkeit kraftstrotzend ins Szene setzen und verherrlichen (vgl. Kap. VIII. 2.5.3.2 und VIII. 2. 5.4.3.).25

Durch Verringerung der Auslagen (Kriegsausgaben, Abschluss der Bauarbeiten für die Befestigungsanlage), durch die Übernahme des Salzmonopols26 und dank einer markanten Steigerung der Fabrikzölle27 hatte Zürich eine bedeutende staatliche Geldreserve als Staatsschatz aufbauen können. Die Stadt an der Limmat entwickelte sich von 1669 bis 1700 von einem verschuldeten Staatswesen, das von fremden Geldern abhängig war, zu einer kapitalstarken Bürgergemeinschaft.

Wirtschaftlich wurde das 18. Jahrhundert für Zürich zu einer Zeit des Aufschwungs und der Entfaltung. Die Stadt war gegenüber dem Land das privilegierte Zentrum des Handwerks, des Handels und der Verwaltung. Die Zunftordnung, die Basis von Verfassung und Regierung, schützte das heimische Handwerk und Gewerbe vor fremder Konkurrenz auch aus der Zürcher Landschaft. Handwerksordnungen regelten die inneren Angelegenheiten der einzelnen Handwerks- und Gewerbezweige. Der Grossteil der Räte und damit der staatlichen Entscheidungsträger wurde von den zunftgebundenen Handwerksorganisationen gestellt. Die Zugehörigkeit zum Rat wiederum verschaffte Zugang zu teilweise sehr einträglichen höheren Ämtern.

Nach dem Toggenburgerkrieg 1712 führten Forderungen der Handwerker nach mehr Partizipation zu einem Staatsaufruhr, bei dem ein bewaffneter Kampf nur knapp abgewendet werden konnte. Eine 700-köpfige Versammlung von unzufriedenen Handwerkern und Bürgern fand sich auf dem Lindenhof ein und verlangte eine Kommission zur Beratung über eine Änderung der Zunftverfassung. Nach langwierigen Verhandlungen führte das Aufbegehren zur Verfassungsänderung, dem letzten Geschworenen Brief.

Die Oberhoheit des Staates über die Kirche war im reformierten Zürich unangefochten. Dennoch waren die beiden Instanzen eng verflochten.28 Die von Zwingli im 16. Jahrhundert gegründete evangelisch-reformierte Kirche blieb auch im 18. Jahrhundert die einzige Staatskirche, und ihr Vorsteher, der Antistes, hatte das Vorrecht, jederzeit im Rat aufzutreten und als moralische Instanz direkt auf das politische Geschehen Einfluss zu nehmen. Allerdings entwickelte sich der Rat gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer mehr zum eigentlichen Hüter der Reinheit des Gemeinwesens und setzte sich als weltlicher Sittenwächter gegen die ←32 | 33→Geistlichkeit durch.29 Denn auch das neue Zürich wollte sich weiterhin als Ort der Tugend und der Reinheit präsentieren. Diese wurden jedoch nicht mehr vorwiegend religiös, sondern vor allem innerweltlich-republikanisch verstanden.30

Bereits vor dem Ende des 17. Jahrhunderts war aufgeklärtes Gedankengut nach Zürich vorgedrungen. Weit gereiste Gelehrte bereicherten mit ihren neuen Denkansätzen die Vorstellungswelt, ja sprengten das enge Korsett theologischer Anschauungen. Der führende Kopf dieser Strömung war in Zürich Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733), ein Zeitgenosse des Stempelschneiders Hans Jacob I. Gessner. Zwar war Scheuchzer noch dem hergebrachten Glauben verbunden, aber durch seine Aufenthalte in Holland und dem Deutschen Reich fühlte er sich bereits experimentellen Methoden verpflichtet und verbreitete die neuen Kenntnisse der Naturwissenschaft und der Mathematik.31

Als Johann Jacob Scheuchzer 1733 starb, hatte ihn Johann Jacob Bodmer (1698–1783), die zentrale Figur des literarischen Zürich, im aufgeklärten Geist bereits überflügelt. Scheuchzers Schüler Johannes Gessner (1709–1790) jedoch prägte als Professor der Mathematik und Physik am Zürcher Collegium Carolinum die naturwissenschaftliche Ausbildung der Zürcher Oberschicht im aufgeklärten Geist. Seine zahlreichen Schüler (wie Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Rahn, Salomon Schinz, Johann Georg Sulzer oder Johann Heinrich Waser) fanden in der 1746 gegründeten „Pysikalischen Societät“ (später „Naturforschende Gesellschaft“) eine Plattform zur praktischen Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die bis heute existiert.32

Der zentrale staatliche Entscheidungsträger im Zürcher Stadtstaat war seit der Zunftrevolution 1336 das sogenannte „Regiment“, bestehend aus dem „Kleinen“ und dem „Grossen“ Rat sowie seit dem Dreissigjährigen Krieg dem „Geheimen Rat“.33

Das Regiment34

Der Kleine Rat war in zwei Hälften geteilt, die sich mit dem ihnen zugeordneten Bürgermeister im Juni und Dezember ablösten. Gewisse Mitglieder des Kleinen Rates hatten eine besondere Stellung inne. Dies betraf neben den beiden Bürgermeistern auch die vier Statthalter. Sie vertraten bei Bedarf den Bürgermeister und kontrollierten ihn auch. Ebenfalls zu den Standeshäuptern gehörten die beiden sogenannten „Seckelmeister“, die für die Finanzen der Stadtzuständig waren.

Der Grosse Rat, auch „Rat der Zweihundert“ oder „Rät und Burger“ genannt, setzte sich aus 212 Mitgliedern zusammen. Dazu gehörten die 50 Mitglieder des Kleinen Rates sowie 162 Grossräte. Sie wurden von den Angehörigen der Zunft bzw. der Constaffel, die im Kleinen und Grossen Rat sassen, auf Lebenszeit gewählt.

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Die Zuständigkeiten des Grossen und des Kleinen Rates waren ursprünglich nur gewohnheitsrechtlich geregelt. Im 16. Jahrhundert wurde festgelegt, dass für wichtige Geschäfte, darunter auch die Münzgesetzgebung, der Grosse Rat zuständig war.

Als Folge des Dreissigjährigen Krieg (1618–1648) wurde der Geheime Rat eingesetzt. Diesem gehörten die neun Standeshäupter sowie fünf Kleinräte an. Als beispielsweise im Jahre 1633 schwedische Truppen bei Stein am Rhein in zürcherisches Territorium eindrangen, trat der Geheime Rat im September zehnmal zusammen. Er kümmerte sich um die Kriegskasse, Proviant sowie Munition und nahm Kontakt mit ausländischen Mächten und anderen eidgenössischen Ständen auf. Nach dem Dreissigjährigen Krieg blieb das Gremium des Geheimen Rates bestehen. Seine genauen Zuständigkeiten waren gesetzlich nicht festgelegt. Er entschied selbstständig über die Anlage von Geldern aus dem Staatsschatz und nahm die Rechnung über den Kriegsfonds ab.

In der Kanzlei des Kleinen, Grossen und Geheimen Rates sassen der Stadtschreiber und der Unterschreiber, beide vom Grossen Rat gewählt. Sie verfassten das Beschlussprotokoll der Ratsverhandlungen, das sogenannte „Ratsmanual“.

Zu seiner Entlastung bei der Bearbeitung von Geschäften erteilte der Rat oftmals einzelnen Ratsmitgliedern den Auftrag zur Erarbeitung von Gutachten, „Ratschläge“ genannt. Für bestimmte Sachgebiete wurden ständige Kommissionen gebildet, die im Rahmen ihrer Kompetenzen aus eigener Initiative handelten. Eine solche Kommission bildeten auch die „Verordneten zum Münzwesen“.


20 Capitani 2006, S. 494.

21 Im Hof l977, S. 675-677.

22 dtv-Atlas Weltgeschichte 1999, Bd. 1, S. 256ff.

23 Maissen 2010, S. 131.

24 Lau 2012, S. 84.

25 Lau 2012, S. 85.

26 Sigg 1971, S. 36ff.

27 Sigg 1971, S. 56 ff.

28 Schneebeli 1986, S. 152.

29 Lau 2012, S. 79.

30 Lau 2012, S. 80.

31 Lau 2012, S. 87.

32 Flüeler / Flüeler-Gauwiler 1996, S. 352ff.

Details

Seiten
706
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783034341486
ISBN (ePUB)
9783034341493
ISBN (MOBI)
9783034341509
ISBN (Paperback)
9783034340977
DOI
10.3726/b17308
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Hans Jacob I. Gessner Münzmeister Stempelschneider Medailleur Münzmeister von Zürich Medaillenherstellung Zürich Münzherstellung Zürich
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 706 S., 281 s/w Abb.

Biographische Angaben

Marie-Alix Roesle (Autor:in)

Marie-Alix Roesle kam zum Fachgebiet der Numismatik nach dem Abschluss ihres Studiums in Kunstgeschichte und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich dank einer Anstellung in der Numismatischen Abteilung der Bank Leu AG, damals geleitet vom bedeutenden Numismatiker Dr. Dr. hc Leo Mildenberg. Er hatte bereits das Thema zu ihrer Lizenziatsarbeit über Hans Jacob I. Gessner angeregt. Später baute die Autorin mit dessen Beratung die Münzensammlung des Moneymuseums Zürich zur Dokumentation der Geschichte des Geldes auf und sie war bis zu ihrer Pensionierung die Kuratorin der Sammlung.

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