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Ingenieure auf der Leinwand

Technische Visionen und Ordnungsvorstellungen im deutschen Zukunftsfilm der 1930er Jahre

von Anke Woschech (Autor:in)
©2019 Dissertation 376 Seiten

Zusammenfassung

Diese Studie wurde vom VDI mit dem Conrad-Matschoß-Preis 2021 ausgezeichnet.
Zu Beginn der 1930er Jahre tauchten im bis dato expressionistisch geprägten deutschen Zukunftsfilm vermehrt Ingenieure auf, die als Helden technischer Großprojekte einem vordergründigen Fortschrittsoptimismus frönten. Dabei verwiesen diese Filmfiguren auf Ordnungsvorstellungen, die technokratische bis völkische Lösungen der zeitgenössisch virulenten Frage nach dem Konflikt von Kapital und Arbeit bemühten. In einem technikhistorischen Zugriff auf cineastische vergangene Zukünfte sowie unter Anwendung des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit analysiert die Autorin die filmische Inszenierung von Ingenieuren und Technik. Sie zeigt auf, dass sich diese Filme als (Zerr-)Spiegel einer zentralen Konfliktlinie der industriellen Klassengesellschaft der Zwischenkriegszeit verstehen lassen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Untersuchungsgegenstand und Fragestellung
  • 1.2 Forschungsstand
  • 1.3 Konzeptioneller Rahmen und Aufbau der Arbeit
  • 2. Auf der Suche nach dem „Neuen Menschen“: F.P.1 antwortet nicht (1932)
  • 2.1 „Luftfahrt ist not!“ – Möglichkeiten und Visionen des Transozeanflugs um 1930
  • 2.2 Die Realisierung künstlicher Inseln in F.P.1
  • 2.3 „Eine Sinfonie aus Stahl und Eisen“220: Ton und Technikdarstellung
  • 2.4 Narrationen des Fliegers und des Ingenieurs, oder: Wer ist der Neue Mensch?
  • 2.5 Exkurs: Calling the German Nation? – (Secrets of) F.P.1
  • 2.6 Zusammenfassung
  • 3. Von kolonialen, völkischen und freiheitlichen Großprojekten: Die Verfilmungen von Bernhard Kellermanns Roman Der Tunnel
  • 3.1 Weiße Elefanten? Meeres- und Ozeantunnel in Geschichte, Literatur und Spielfilm
  • 3.2 Der Tunnel (1915) von William Wauer
  • 3.3 Der Tunnel (1933) von Kurt Bernhardt
  • 3.3.1 Produktionshintergründe und zeitgenössische Kritik
  • 3.3.2 Technikdarstellung
  • 3.3.3 „Ich bin ein Arbeiter wie ihr!“ – Figurencharakterisierung und -konstellation
  • 3.3.4 Der Tunnel versus Le Tunnel: Sprachversionen
  • 3.3.5 Zwischenfazit
  • 3.4 „A mighty weapon of defense“: The (Transatlantic) Tunnel (1935) als Omen des Zweiten Weltkriegs
  • 3.5 Zusammenfassung
  • 4. Der Ingenieur als Maschinenstürmer: Gold (1934)
  • 4.1 Moderne Alchemie – „Atomzertrümmerung“ und Goldsynthese in der Zwischenkriegszeit
  • 4.2 Produktionshintergründe und zeitgenössische Rezeption
  • 4.3 Technikdarstellung
  • 4.4 Figurenanalyse
  • 4.5 Zusammenfassung
  • 5. Der Ingenieur als Sozialtechnologe: Der Herr der Welt (1934)
  • 5.1 Roboter in Realtechnik und Science-Fiction
  • 5.2 „Harry, dieser Film sei dir vergeben!“769 – Produktionshintergrund und zeitgenössische Kritik
  • 5.3 AEG goes mad – Technikdarstellung
  • 5.4 Figurenanalyse
  • 5.5 Zusammenfassung
  • 6. Der Ingenieur als Kleinbürger: Die Welt ohne Maske (1934)
  • 6.1 „Von Paul Nipkow bis – Harry Piel“847: Produktionshintergrund und technisches Sujet
  • 6.2 Technikdarstellung
  • 6.3 Figurenanalyse
  • 6.4 Zusammenfassung
  • 7. Fazit: Die Ingenieursfigur als Mittler zwischen Kapital und Arbeit
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Quellen- und Literaturverzeichnis

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1. Einleitung

„Die SF zelebriert den ‚Mythos der Zukunft‘ und den Ingenieur als Messias; in der Zukunft wird die Menschheit dank dem vernünftigen Einsatz von Wissenschaft und Technik ihre Probleme hinter sich lassen.“1

Im Hinblick auf das von Hollywood-Blockbustern dominierte Science-Fiction-Kino der letzten Jahrzehnte verwundert diese Aussage des Filmwissenschaftlers Simon Spiegel doch ein wenig: In den Universen von Star Wars, Alien, Blade Runner, Terminator, Planet of the Apes bis hin zu Avatar wimmelt es von bedrohlichen Monstern und dämonischen Maschinen, mächtigen und korrupten Großunternehme(r)n, tragisch-heroischen Abenteurern, und auch eine stattliche Vielfalt an mehr oder weniger verrückten Wissenschaftlern, den sprichwörtlichen mad scientists, lässt sich finden2 – jedoch tauchen im seltensten Fall Ingenieure auf, schon gar nicht mit einem heilsgeschichtlichen Auftrag im Gepäck. Zudem bewegen sich die angeführten Akteure und Figuren vorzugsweise in einer Umgebung, in der von einer Läuterung der menschlichen Spezies dank eines segensreichen wissenschaftlich-technischen Fortschritts nichts auszumachen ist. Ganz im Gegenteil werden zumeist die Gefahren einer unkontrollierten und unkontrollierbaren technischen Entwicklung thematisiert und ←13 | 14→somit die mit technischem Fortschritt verknüpften Hoffnungen und Ängste in ihrer vollen Ambivalenz aufgezeigt. Tatsächlich bezieht sich Spiegel mit seiner Aussage eher auf die (gattungsgeschichtliche) Entstehungs- und anschließende Hochphase der Science-Fiction, wie sie in amerikanischen Pulp-Zeitschriften der 1920er bis 1940er Jahre zur Entfaltung kam. Die dort in Unmengen publizierten Kurzgeschichten und Heftromanserien mit ihren futuristischen Schwärmereien und technokratischen Phantasien, in denen – unter zunehmendem Einfluss von Autoren und Herausgebern wie Hugo Gernsback, John W. Campbell Jr. oder Robert Heinlein – vorrangig Ingenieure, Konstrukteure und Techniker als Protagonisten auftraten, zeugen von der nahezu omnipräsenten technik- und fortschrittsoptimistischen Grundstimmung jener im heutigen Fandom als Golden Age bezeichneten Ära.3 Weitaus weniger bekannt als diese spezifische literarische Ausprägung (und Grundlegung) der Gattung sind motivisch ähnlich gelagerte Spielfilme, die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre im Deutschen Reich produziert wurden und das expressionistisch geprägte Weimarer Kino des Phantastischen ablösten. Statt besessener Wissenschaftler und geisterhafter, künstlicher Kreaturen, die als filmische Verarbeitungen der entgrenzten technisierten Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs eine dezidiert pessimistische Sicht auf den technischen Fortschritt aufzeigten,4 standen nunmehr Ingenieursfiguren – heroische, tragische, aber auch tollpatschig-trottelige – sowie deren Großprojekte und Meisterwerke im Mittelpunkt der Handlung. In der Science-Fiction-Filmgeschichte wird diesen Werken gemeinhin eine „ganz und gar positive[ ]; Sicht auf die technischen Erfordernisse der Zukunft“5 bescheinigt. Die vorliegende Arbeit widmet sich diesen zeitgenössisch zumeist erfolgreichen, jedoch innerhalb der akademischen Auseinandersetzung vernachlässigten Werken aus einer dezidiert technikhistorischen Perspektive. Dabei verweisen bereits ←14 | 15→die aufgeführten ersten Befunde auf einen engen Konnex von Ingenieursfigur und technisiertem Fortschrittsglauben. Dieser Zusammenhang prägt allerdings nicht allein literarische oder filmische Entwürfe, sondern ist zuvorderst in realgeschichtlichen Zeugnissen und Manifestationen der technischen Moderne anzutreffen, als deren Reflexionsmedium im Modus des Fiktional-Spekulativen die Science-Fiction letztendlich verstanden werden muss.6

Die Erfolgsgeschichte des Ingenieurs als Hüter und Garant eines normativ verstandenen technischen Fortschritts7 begann mit der Hochindustrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als im Zuge von Urbanisierung und dem Aufkommen neuer Technologien und Industriezweige die Technik aus der Welt der Fabriken ausbrach und massiv in die Lebenswelt breiter Bevölkerungsschichten eindrang, deren Alltag zunehmend (über-)formte und gestaltete.8 Die sich innerhalb weniger Jahrzehnte entfesselnde Dynamik eines umgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandels, der gerade im Deutschen Kaiserreich schneller und tiefgreifender als in anderen europäischen Ländern verlief und erhebliche gesellschaftliche und soziokulturelle Änderungen und Umbrüche mit sich ←15 | 16→brachte,9 basierte immer zu gewissen Teilen auf bahnbrechenden technischen Neuerungen und Innovationsschüben. Der rasante Aufstieg Deutschlands von einem rückständigen Agrarland zu einer der weltweit führenden Industrienationen wurde von den Zeitgenossen weitläufig reflektiert und kommentiert. Massenkulturelle wie intellektuelle Gegenwartsdiagnosen sprachen der modernen Technik eine gesonderte, wirkmächtige Rolle für die rasante Umgestaltung der Lebenswelt zu und interpretierten diese dabei ausnahmslos deterministisch. Die technizistische Metapher der „Technik als Motor der Geschichte“ fand hier ihren prägnanten Ausdruck.10 Neben kulturkritischen und fortschrittsskeptischen Deutungen, wie sie vornehmlich im schreibfreudigen Bildungsbürgertum und Intellektuellenmilieu vertreten wurden und darüber letztendlich Einzug in die philosophische und soziologische Theorienbildung des 20. Jahrhunderts erhielten,11 dominierte um 1900 in weiten Teilen der wilhelminischen Öffentlichkeit ein „futuristischer Optimismus“ im Sinne einer erwartungsvoll-zuversichtlichen Zukunftsorientierung.12 Dieser war durchaus evidenzbasiert, speiste er sich doch aus den jüngeren und jüngsten Erfahrungen eines dank wirtschaftlich-technischer Entwicklungen gestiegenen materiellen Wohlstands und Lebensstandards, der mit Mobilität, Wohnen, Gesundheit und Konsum alle Bereiche des Alltagslebens umfasste und an dem zunehmend selbst ärmere Bevölkerungsschichten ←16 | 17→partizipieren konnten.13 Diese bis dato historisch einmaligen, völlig neuen Erfahrungsräume strukturierten die zeitgenössischen Erwartungshorizonte14 zugunsten eines enthusiastisch übersteigerten technisierten Fortschrittsglaubens, in dem die Potenziale der modernen Technik durch die Extrapolation gegenwärtiger Erfolge von Wissenschaft und Technik mit nahezu heilsgeschichtlichen Bedeutungsaufladungen versehen wurden. Diese wiesen weit über ihren konkreten Anwendungsbereich hinaus, indem sie vor allem auf die Lösung sozialer und gesellschaftlicher Problemlagen zielten.15 Zentrales Vehikel und Leittechnologie dieser Begeisterung war die Elektrifizierung. Mit ihrem Versprechen einer helleren, sauberen und gerechteren Zukunft verkörperte sie „die erste große Hoffnung auf eine umfassende technische Lösungsstrategie für alle Beschwernisse der industriellen Welt.“16

Die Gruppe der Ingenieure war als zentraler Akteur des technischen Wandels sowohl Träger, Katalysator als auch Nutznießer solcher quasireligiös verbrämter Verheißungen und Hoffnungsüberschüsse, die ihren Kampf um sozialen Aufstieg in die Gesellschaftseliten des Deutschen Kaiserreichs stetig begleiteten.17 ←17 | 18→In allmählicher Übereinstimmung von Selbst- und Fremdbild fungierte der Ingenieur als Bürge für die bereits erfahrbaren wie auch zukünftigen Segnungen des technischen Fortschritts; er galt gleichsam als zentraler Experte „für die Entfesselung wie Bändigung technischen Wissens und Könnens“.18 Die Wirkmächtigkeit dieser Zuschreibungen lässt sich auch am Anstieg massenmedialer Erzeugnisse in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ablesen, in denen der Ingenieur zum Fortschrittshelden der Industriemoderne stilisiert wurde.19 Während bereits im deutschen Erfinderroman des 19. Jahrhunderts die Ingenieursfigur als individuelle Verkörperung der Schlichtung sozialer Gegensätze auftrat, wobei diese Mittlerhaltung durchaus der Selbsteinschätzung dieser Berufsgruppe entsprach,20 geriet sie um 1900 im aufkommenden Zukunftsroman schließlich zum Inbegriff für die grundsätzliche Ermöglichung und Umsetzung utopischer Welten, indem qua technischem Wissen und Expertise

„die jeweils auf dem Spiel stehende Utopie (im Sinne einer technisierten Zukunft, eines perfekten Staatengebildes, einer sozialeren Gesellschaft oder einer verschiedentlich zu konkretisierenden, anderen Möglichkeit) vom Verdacht des Illusionären befreit und als herstellbar gezeigt“

wurde.21 In der Konvergenz von Machbarkeitsdenken und Kultur- resp. Gesellschaftsauftrag geriet die Ingenieursfigur, spiegelbildlich zu den verheißungsvollen ←18 | 19→Verlautbarungen der Emanzipationsbewegung dieses Berufsstandes,22 zum literarisch verbrämten „Hohepriester[ ]; des Fortschritts“.23

Nun ist Ingenieuren und auch Wissenschaftlern in Geschichte und Gegenwart ein durchaus ambivalentes Verhältnis zur utopischen Literatur im Allgemeinen und der Science-Fiction im Besonderen zu attestieren. Ihre Stellungnahmen und Äußerungen zu diesem Genre bewegen sich zwischen seiner rigorosen Ablehnung aufgrund der ihm inhärenten phantastischen Spekulationen auf der einen Seite, oft verbunden mit der Beschwerde, dass die fiktionale Darstellung technischer und wissenschaftlicher Experten so gar nichts mit den Wirklichkeiten dieser Berufszweige zu tun hätte.24 Auf der anderen Seite wurde und wird die Science-Fiction nicht nur als berufsbiographisch bedeutsame Inspirationsquelle, sondern sogar als Mobilisierungsressource für realtechnische Vorhaben gezielt in den Dienst genommen, indem eine zeitliche Nähe zu gegenwärtigen Technikentwicklungen und -vorhaben und somit die prinzipielle Machbarkeit der entworfenen Technikfiktion suggeriert wird. Diese Erzählungen werden von Autorenschaft wie Fandom oft als Lehrstück zu einem besseren Verständnis für aktuelle technische Entwicklungen angepriesen. Der bis heute populäre wie irrige Gedanke, dass die zentrale Funktion der Science-Fiction in der Prognostik wissenschaftlich-technischer Entwicklungen liege, sie also die gleichen Kompetenzen wie die ihrerseits heutzutage längst diskreditierte Futurologie innehabe, hat hier seine Ursprünge.25 Dessen ungeachtet ist dieses Genre – diametral zur beschworenen nüchternen Wissenschaftlichkeit und spiegelbildlich zur Rationalitätsfiktion realtechnischer Entwicklungen – einer allzu unwissenschaftlichen, vielmehr zutiefst irrationalen Hoffnung verhaftet, mittels neuer technischer Mittel die bisherigen Grenzen und Beschränkungen des Menschen wie der Menschheit überwinden zu können. Die Science-Fiction spiegelt damit ←19 | 20→die hochmoderne Sehnsucht nach innerweltlicher Erlösung des Menschen durch die Überschreitung seiner bisherigen Möglichkeiten und Grenzen durch Technik.26 Darüber hinaus bestätigt die Science-Fiction den technisierten Fortschrittsglauben selbst in ihren dystopischen Varianten, in denen die mit Spekulationen zu Wissenschaft und Technik verbundenen Befürchtungen und Ängste verhandelt werden: Denn egal wie düster-apokalyptisch diese Szenarien daherkommen, letztlich liegt ihnen weiterhin die Annahme eines immerwährenden Voranschreitens von Technik und Wissenschaft, mithin die deterministische Konzeptualisierung des technischen Fortschritts als „Motor der Geschichte“, zugrunde. Der eingangs zitierte „Mythos der Zukunft“, der sich folglich als Fortschrittsmythos entpuppt, verweist somit auf die Unhintergehbarkeit von Fortschritt und Zukunft als Leitbilder modernen Denkens. In einem Wechselspiel von Rekursen auf Unverfügbares – also Zukunft – und der Verfügbarmachung des Unverfügbaren durch die „Beschreibung zukünftig sich vollziehender historischer Faktizität“27 können im fiktionalen Rahmen der Science-Fiction technisierte Zukünfte als eingelöst präsentiert werden.

Im Medium des Spielfilms nun wird dieser Mythos nicht nur erzählt, sondern mithilfe der Darstellung technischer Nova visuell veranschaulicht und sichtbar gemacht. Da diese per definitionem (noch) nicht realitätskompatibel sind bzw. sein können – ansonsten wären es keine Nova mehr – muss ihre realistische Wirkung primär auf formal-ästhetischer Ebene erzeugt werden. Der Science-Fiction-Film bedient sich dabei einer szientistischen Ikonografie: In seinen Nova werden Bilder, die heutigen Vorstellungen von Wissenschaft und Technik entspringen, erweitert und überhöht, gleichsam visuell extrapoliert. Aufgrund ihres Ursprungs in der Gegenwart erscheinen sie plausibel und prinzipiell möglich, ←20 | 21→das heißt mit den Naturgesetzen vereinbar. Diese Erzeugung eines Realitätseffekts hat Simon Spiegel als Naturalisierung beschrieben:

„Gerade in der Evidenz des photographischen Filmbildes liegt eine wesentliche Stärke des SF-Films: Das Novum bleibt nicht vage Vorstellung, sondern erscheint als tatsächlich sichtbare Abbildung. Dass ein Novum überzeugend wirkt, hängt nur in zweiter Linie von seiner wissenschaftlichen Plausibilität ab, viel wichtiger ist die Tatsache, dass es konkret sichtbar ist.“28

Der utopische Charakter, der in technischen Spekulationen insofern stets ambivalent ist, als Technik notwendig eine zumindest über die Phantasie erschließbare Verheißung prinzipieller Mach- und Planbarkeit enthalten muss,29 wird durch die in solcherlei visuellen Konkretisierungen angelegten Rationalitäts- und Realitätsfiktionen noch einmal zusätzlich negiert, mithin ent-utopisiert. Die dem Science-Fiction-Film eigenen narrativen Fiktionen stehen dabei in einem bestimmten Referenzverhältnis zur jeweiligen außerfilmischen Wirklichkeit, aus der heraus dieser Film entstanden ist. Eine technikhistorische Betrachtung dieser kinematographischen vergangenen Zukünfte kann helfen, den Blick für ihre Verhaftung in die jeweilige gesellschaftliche Gegenwart zu schärfen. Denn schließlich muss „im Grunde genommen […] die Extrapolation bestehender Trends notgedrungen auch zur Aufdeckung der Wünsche und Ängste einer Generation führen.“30 Zwar ist die Science-Fiction im Allgemeinen und der Science-Fiction-Film im Besonderen vielleicht nicht gleich als „präziser Seismograph der herrschenden gesellschaftlichen Grundstimmung“31 zu konzeptualisieren – dafür sind die Entwürfe dieses Genres auch innerhalb eines bestimmten Zeitraumes und epochalen Zuschnittes zu verschieden, dabei ausdifferenziert und in sich widersprüchlich. Aber zumindest kann sie als ein vielversprechender Zugang ←21 | 22→unter vielen zu einem tiefergehenden Verständnis vergangener Zukunftserwartungen und mithin als Teil der historischen Zukunftsforschung verstanden werden, die mit der Untersuchung von Zukunftserwartungen und -horizonten zu einem besseren Verständnis der jeweiligen gesellschaftlichen Gegenwart gelangen will.32

1.1 Untersuchungsgegenstand und Fragestellung

Entgegen der Prominenz oder gar, wie von Robert Leucht behauptet, Omnipräsenz der Ingenieursfigur in der deutschsprachigen Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war und ist die Filmfigur des Ingenieurs eher selten auf der Kinoleinwand anzutreffen. Diese Absenz betrifft nicht nur den (deutschen) Science-Fiction-Film, sondern internationale Spielfilmproduktionen im Allgemeinen.33 Die populärste, Wissenschaft und Technik repräsentierende Spielfilmikone ist eindeutig der Wissenschaftler. Dies spiegelt auch die schier unübersichtliche Forschungsliteratur zu dieser Filmfigur wider.34 Indessen existieren zur Filmfigur ←22 | 23→des Ingenieurs nur wenige Forschungsarbeiten. Eine Ausnahme bildet eine britische Studie, die bezeichnenderweise nicht in einer film- oder medienwissenschaftlichen, sondern bauwirtschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht wurde und sich genau der Frage nach dem raren Erscheinungsbild des Ingenieurs widmet. Bei der vergleichenden Untersuchung der filmischen Repräsentation von Ingenieuren (speziell Bauingenieuren) und Anwälten kommt sie zu folgenden Ergebnissen: Im Gegensatz zu Anwälten, für die sich mit dem Gerichtsdrama sogar ein eigenes Genre herausbildete, werden Ingenieure, wenn sie überhaupt in Erscheinung treten, kaum innerhalb ihres Berufsfeldes porträtiert. Ihre Arbeit nimmt nur wenig inszenatorischen Raum ein. Ingenieurtechnisches Handeln wird sogar in Spielfilmen, in denen die Konstruktionstätigkeit den eigentlichen Kern und Anlass der Erzählung bildet, nur anhand kurzer Sequenzen abgebildet. Stattdessen tritt das fertige Artefakt, das vollendete Bauwerk, in den Vordergrund der Inszenierung:

„[D];espite the large number of engineers working in the developed economies their lives and their work are seldom portrayed in cinema. […] The process of engineering in real life is visible yet in cinematic terms it is ignored. In contrast, the legal process is invisible in real life but has high dramatic content in the cinema. The conclusion is that engineers have to re-engineer themselves to be more visible in society if they are to be regarded as cinematic heroes.“35

Man muss nun diesem Appell, der sich aus dem bauwirtschaftlichen Kontext der Studie erklären lässt, nicht unbedingt folgen. Gleichwohl lassen sich ihre Ergebnisse, die sich auf Spielfilmproduktionen des angloamerikanischen Raumes beziehen, auf die deutsche Kinolandschaft im Allgemeinen und dessen Science-Fiction-Produktionen im Besonderen übertragen. Den Kriterien folgend, dass der Ingenieur erstens als Hauptfigur zu identifizieren ist und zweitens seine berufliche Tätigkeit eine tragende Rolle spielt, gelangen von den insgesamt 126 deutschen Spielfilmen, die sich von Beginn der Filmgeschichte bis 1989/90 diesem Genre zuordnen lassen, nur sechs Produktionen in die engere Auswahl: Der Tunnel (1915)36, F.P.1 antwortet ←23 | 24→nicht37, Der Tunnel (1933)38, Gold39, Der Herr der Welt40 und Die Welt ohne Maske.41 Hierbei überrascht zunächst, dass Produktionen aus der Bundesrepublik oder der DDR überhaupt nicht vertreten sind. Gerade bei letzterer, deren Programm des sozialistischen Umbaus der Gesellschaft in Anlehnung an die marxistisch-leninistische Doktrin auf einer dezidiert technisch pointierten Sozialutopie fußte,42 wäre ein entsprechendes Popularisierungsbedürfnis doch ←24 | 25→zumindest naheliegend gewesen. Während sich unter den rund 700 Spielfilmproduktionen der Deutschen Film AG (DEFA) immerhin noch 14 Werke finden, bei denen als Hauptfiguren Ingenieure bzw. – eine filmgeschichtliche Rarität – Ingenieurinnen auszumachen sind (von denen allerdings nur in neun Filmen die berufliche Tätigkeit einen größeren Raum einnimmt oder überhaupt thematisiert wird), dient in ihren Science-Fiction-Produktionen der Ingenieur nur als Nebenfigur, die sich zumeist innerhalb eines sozialistischen (Raumfahrt-)Kollektivs bewegt.43 Im bundesdeutschen Science-Fiction-Kino gibt es ihn weder als Haupt- noch als Nebenfigur; und auch in den „gesamtdeutschen“ Science-Fiction-Filmen seit 1990, denen aufgrund ihres europäischen resp. transatlantischen Produktionskontextes und der vorherrschenden Orientierung an Hollywood-Standards ohnehin kein nationalspezifischer Charakter mehr zuzusprechen ist, tritt kein Ingenieur als Hauptfigur in Erscheinung.44

Vor diesem Hintergrund fällt die relative, genregeschichtlich einmalige Häufung der Ingenieursfigur im deutschen Zukunftsfilm in der ersten Hälfte der 1930er Jahre umso mehr ins Gewicht.45 Dieser Befund macht eine Einordnung ←25 | 26→dieser außergewöhnlichen Kohorte nach (1) Inhalten und Motiven, (2) film(technik-)geschichtlichen Hintergründen sowie (3) zeitgenössischen Kontexten notwendig:

(1) In allen Filmen ist die Hauptfigur des Ingenieurs mit einem technischen Großprojekt oder einer zentralen, segensreichen Erfindung verknüpft, die das jeweilige technische Novum darstellt. Das Happy End ist an dessen erfolgreiche Realisierung gekoppelt. Die filmische Zukunft ist vornehmlich durch diese Erfindung von der Gegenwart der 1930er Jahre geschieden, wobei selbst die Inszenierung des Novums sich auf vorhandene zeitgenössische Technik stützt. Als Gegenspieler des Ingenieurs treten zumeist Unternehmer (seltener Wissenschaftler) auf, die das technische Projekt aufgrund finanzieller und machtpolitischer Interessen verschiedentlich zu unterminieren oder manipulieren suchen. Darüber hinaus spielen die an der Umsetzung des Vorhabens beteiligten Arbeiter eine wichtige Rolle. Das Spannungsverhältnis dieser für das Science-Fiction-Genre ungewöhnlichen Figurenkonstellation ergibt sich demzufolge aus der Konfliktlinie zwischen Repräsentanten der Technik (Ingenieure, Wissenschaftler, Erfinder), Kapital (Unternehmer, Fabrikanten, Spekulanten) und Arbeit (Industrie- und Landarbeiter sowie Angestellte).

(2) Mit dem Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm fallen diese Werke in eine Zeit umwälzender technischer Innovationen, die an die Filmindustrie gänzlich neue Anforderungen hinsichtlich Stil, Ästhetik und Formensprache und, damit verbunden, der kommerziellen Verwertungsmöglichkeiten stellten. Mit Ausnahme der beiden Harry-Piel-Filme handelt es sich bei der vorliegenden Auswahl denn auch um Sprachversionsfilme: In der Frühphase des Tonfilms war es üblich, für den internationalen Verleih vorgesehene Filme parallel in mehreren Sprachen, d. h. mit verschiedenen Schauspielensembles, aber identischer Ausstattung und Kulisse, zu produzieren. F.P.1 antwortet nicht wurde neben Deutsch auch auf Englisch und Französisch gedreht. Für den englischsprachigen Markt wurden letztendlich zwei Varianten geschaffen – eine für das britische, eine für das amerikanische Kino – die in Länge, Tonschnitt und Szenenfolge zum Teil deutlich voneinander abweichen.46 Der Tunnel (1933) und Gold wurden jeweils ←26 | 27→auf Deutsch und auf Französisch gedreht.47 Diese aus heutiger Sicht umständliche Vorgehensweise war nicht, wie oftmals kolportiert, einer seinerzeit noch mangelhaften Synchronisationstechnik geschuldet – so gab es ab 1929 Nachsynchronisierungen auf technisch hohem Niveau. Es handelte sich vielmehr um eine gezielte Anpassung an die angenommenen oder tatsächlichen Gewohnheiten und Präferenzen des anvisierten Publikums, das einerseits seine nationalen Filmstars bevorzugte und andererseits mit der Kulturtechnik der Synchronstimme noch nicht vertraut war, mithin die geforderte Zuordnung der „geliehenen Stimme“ zum auf der Leinwand agierenden Schauspieler irritierte.48 Die Sprachversionstechnik wurde demnach nicht als Rück-, sondern als weiterer Entwicklungsschritt hinsichtlich der filmtechnischen Möglichkeiten gewertet:

„Das ist der Fortschritt, den der Tonfilm vor den früheren internationalen Stummfilmen voraus hat: Man kann heute den Kinobesucher in der ganzen Welt packen, indem man den Darsteller nach der Mentalität der Sprachgebiete eine Rolle gestalten läßt, während diese Rolle früher durch die Zwischentitel nur illustriert wurde.“49

Dieses Verfahren, das die Produktion aufwändig und teuer werden ließ, verschwand also nicht allein durch verbesserte Synchronisationstechniken und deren schlussendliche Akkulturation, sondern auch im Zuge der nationalsozialistischen, vornehmlich auf den einheimischen Markt abzielenden Filmpolitik, die kaum noch internationale Großproduktionen vorsah.50

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(3) Politikgeschichtlich fällt die Filmkohorte in eine Zeit radikaler, antidemokratischer Umbrüche und bürgerkriegsähnlicher Zustände – mithin in die späten „Krisenjahre“ der Weimarer Republik, die mit den Auswirkungen der ab Herbst 1929 sich entwickelnden Weltwirtschaftskrise ihren Ausgang nahmen, und die Phase der nationalsozialistischen „Machtergreifung“.

Für die deutsche Filmlandschaft zeitigte die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 direkte Folgen: Angesichts der seit Jahren geführten Hetze der Nationalsozialisten gegen jüdische und politisch links stehende Filmkünstler_innen setzte die erste große Emigrationswelle ein. Mit der Ernennung von Joseph Goebbels zum Minister für Volksaufklärung und Propaganda und seiner sich anschließenden Rede vor Vertretern der Filmbranche im Berliner Hotel Kaiserhof im März 1933 wurden die Grundzüge einer nationalsozialistischen Filmpolitik gelegt, die neben einer „völkischen“ Ausrichtung ihrer Inhalte zuvorderst die „Arisierung“ der Filmindustrie forderte. Diese wiederum, allen voran die Universum-Film Aktiengesellschaft (Ufa) als größter deutscher Filmkonzern, reagierte in vorauseilendem Gehorsam mit der Entlassung ihrer jüdischen Mitarbeiter_innen, noch bevor im Juli 1933 das allgemeine Berufsverbot für jüdische Filmschaffende durch die Errichtung der Reichsfilmkammer erfolgte. Filmzensur und Prädikatisierung waren im Vergleich zu diesen direkten Repressalien zunächst von juristischer und personeller Kontinuität geprägt, die sich allerdings aus dem eminent politisch-repressiven Charakter des Weimarer Zensursystems ergab. So wurde im April 1933 in einer ersten „Säuberungsaktion“ die Zulassung von 33 Filmen widerrufen, deren Billigung schon zu Republikzeiten hoch umstritten war. Auch das Lichtspielgesetz vom 16. Februar 1934, das mit der Prüfung aller Drehbuchvorhaben die Vorzensur einführte, brachte keine fundamentalen Änderungen, sondern Erweiterungen des Bestehenden: Neben den bereits erlassenen Verbotsgründen wie der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder staatlicher Interessen sowie dem Verstoß gegen Sitte und öffentliche Moral kam das Verbot der Verletzung des nationalsozialistischen oder künstlerischen ‚Empfindens‘, das aufgrund seiner immensen Interpretationsoffenheit der Willkür im Genehmigungsverfahren vollends freien Lauf ließ. Letztendlich entschied oft das persönliche Votum der beiden selbsterklärten Cineasten Goebbels und Hitler, die in nahezu allabendlich stattfindenden Privatvorführungen neben einem Großteil der deutschen Produktionen auch viele ausländische Filme begutachteten.51 Die etappenweise ←28 | 29→verlaufende vertikale Zentralisierung und Zwangsorganisation der Filmindustrie hatte in den ersten Jahren wiederum nur mittelbare Auswirkungen auf die Filmkritik – einerseits durch den massiven Exodus bedeutender Filmrezensent_innen wie Siegfried Kracauer, Béla Balázs, Lotte Eisner und Rudolf Arnheim, andererseits durch die Vorzensur, die das Entstehen politisch unliebsamer Filme verhinderte. Bis zur faktischen Abschaffung der Filmkritik im November 1936 blieb jedoch innerhalb der verbliebenen Autorenschaft weiterhin ein gewisses Urteilsspektrum vertreten.52

Aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive verdichteten sich zu Beginn der 1930er Jahre die ohnehin virulenten krisenhaften Gegenwartsdiagnosen und Untergangsprophetien, die zuvorderst von den kulturellen Deutungseliten des Deutschen Reiches – Intellektuelle, Publizisten und Politiker jeglicher Couleur – vorgetragen oder befeuert wurden. Die dargelegten Lösungsstrategien und Umgestaltungsvisionen einte bis auf wenige Ausnahmen die radikale Verneinung der parlamentarischen Demokratie, die sukzessive im Verlauf der Weimarer Republik und spätestens infolge der Great Depression massiv an Plausibilität verloren hatte, und die Affirmation mindestens autoritärer, wenn nicht gar radikal völkischer oder totalitärer Ordnungsentwürfe, denen allesamt ein „gestaltungswilliger Grundkonsens“ im Sinne eines optimistisch grundierten Gestaltungswillens und eines Glaubens an die prinzipielle Mach- und Planbarkeit sozialer Ordnung zugrunde lag.53

Nicht von ungefähr markiert – dies nunmehr die technikgeschichtliche Perspektive – diese Zeit auch den Höhepunkt der Technokratiebewegung, die von ←29 | 30→den USA und Kanada ihren Ausgang nahm. Ihre Forderung nach rationaler Organisation von Politik und Gesellschaft durch technische Experten resp. per auf Gesetzen der Wissenschaft und Technik basierendem Sachverstand wurde gerade in der Spätphase der Weimarer Republik von deren technischer Intelligenz verstärkt rezipiert und mit der Gründung einer eigenen Organisation, der Technokratischen Union, im Oktober 1932 auch institutionalisiert.54 Bis zu ihrem baldigen Verbot durch die Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 leistete die Technokratische Union allerdings nur einen eher kläglich ausfallenden programmatischen Beitrag zur „politischen Neuordnungsdebatte der Weimarer Krise“, der auf einer vage und diffus verbleibenden Ebene

„internationalistisch klingende Antipositionen gegen Staat, Imperialismus, Kapitalismus, Faschismus und Klassenherrschaft […] mit einer prinzipiellen Aversion gegen die bisherigen wirtschaftlichen und politischen Eliten und dem Wunsch nach einem Herrschaftsbereich des ‚technischen Menschen‘ “55

verband. Weitaus stärker als diese marginalisierte institutionelle Ausformung wirkte die bereits angedeutete Diffusion technokratischer Ideologeme in verschiedenste politische Ordnungsvorstellungen jenseits der Technokratiebewegung im Sinne eines allgemein planungsoptimistischen, technizistischen Denkens, indem technische Maximen auf genuin außertechnische – soziale, politische und ökonomische – Bereiche übertragen und angewendet wurden.56

←30 | 31→

Zu guter Letzt kam zu dieser Zeit auch die Aufstiegsbewegung der deutschen Ingenieure mit der (bereitwilligen) Indienstnahme dieses Berufsstandes und seiner erfolgreichen Integration in die Führungsriege des NS-Staates zu ihrem Abschluss.57 Die rasch einsetzende, weitläufige (Selbst-)Mobilisierung von Wissenschaft und Technik für die Ziele der neuen Machthaber verweist darüber hinaus auf das in den Geschichtswissenschaften lange Zeit kontrovers diskutierte Verhältnis des Nationalsozialismus zur Technik bzw. zur (technischen) Moderne. Während ältere Arbeiten die völkische Agrarideologie von „Blut und Boden“ als Indiz für eine allgemeine Technikfeindlichkeit des Naziregimes ansahen und ihm eine generell antimoderne Stoßrichtung bescheinigten, ging eine zweite Forschungsgeneration von einem affirmativen Beziehungscharakter aus, in dem sich antiwestliche und antimodernistische Traditionen mit der modernen Technik aussöhnten. Als einflussreichste begriffliche Bestimmung dieser eigentümlichen Melange von völkisch-nationalistischer Ideologie und technologischer Entwicklung ist Jeffrey Herfs „reactionary modernism“ anzusehen.58 Herfs Konzept wurde in der Forschung zum Nationalsozialismus vielfach angewandt, erweitert und in Teilen auch kritisch revidiert.59 Gleichwohl lieferte es den wohl wichtigsten Impuls im Verstehen des Nationalsozialismus als Herrschaftssystem und -praxis, das mit genuin modernen Ordnungsvorstellungen kompatibel war.

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Ausgehend von den skizzierten Kontexten widmet sich diese Arbeit der Frage, welche Bedeutungszuschreibungen bezüglich der Technik und des technischen Fortschritts sich an die Filmfigur des Ingenieurs im deutschen Zukunftsfilm der 1930er Jahre knüpfen. In einem technikhistorischen Zugriff auf cineastische vergangene Zukünfte soll hierfür das Referenzverhältnis zwischen filmischer Narration und zeitgenössischen außerfilmischen Diskursen auf zweierlei Weise untersucht werden: zum einen hinsichtlich der verwendeten technizistischen Ästhetik, die sich in den jeweiligen Nova manifestiert, zum anderen hinsichtlich der die wissenschaftlich-technische Welt repräsentierenden Hauptfiguren – Wissenschaftler, Erfinder und Ingenieure. Folgende Ausgangsthesen werden die Untersuchung anleiten:

Im Gegensatz zur Figur des mad scientist, mittels derer das naturwissenschaftlich-technische Fortschrittsideal mindestens ambivalent bis eindeutig kulturkritisch verhandelt wird, dient die Figur des Ingenieurs im Allgemeinen dazu, technisches Handeln in seinen Hoffnungspotenzialen aufzuzeigen und damit technisierte Zukunftsversprechen als eingelöst oder einlösbar zu präsentieren. Diese positive Konnotation findet sich in Science-Fiction-Werken unterschiedlichster Provenienz; sie eint die ansonsten disparat verlaufende Entwicklung von Gattung und Genre, angefangen bei den voyages fantastiques eines Jules Verne, über die amerikanischen pulp magazines und die deutschen Zukunftsromane der 1920er und 1930er Jahre bis hin zu Werken der Wissenschaftlichen Phantastik resp. des utopischen Films in den ehemaligen Ostblock-Staaten. Diese metanarrative Klammer umfasst aus divergenten kulturgeschichtlichen Kontexten stammende Entwürfe der Science-Fiction.

Darüber hinaus knüpfen die deutschen Zukunftsfilme der 1930er Jahre im Besonderen an sozialpolitische Gesellschaftsvisionen an, die sich um technokratisch grundierte Lösungen der zeitgenössisch äußerst virulenten Frage nach dem Konflikt von Kapital und Arbeit bemühen, indem die Technik als vermittelndes und regulierendes Element eingesetzt wird und ihr Repräsentant, der Ingenieur, als entsprechende Mittlerfigur zwischen Industriearbeiterschaft und Unternehmertum auftritt. In ihrer hoch ideologisierten, symbolischen Verdichtung verarbeitet diese Figurenkonstellation mithin eine damalige sozioökonomische Konstellation, entsprach doch die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit deutlich mehr dem Charakter einer industriellen Klassengesellschaft als noch das Deutsche Kaiserreich, dessen soziale Konfliktlinien mit dem Gegensatz von Stadt und Land oder auch der Frage der Religionszugehörigkeit wesentlich komplexer verliefen.60 Mit dem Ingenieur als zentraler Ordnungsinstanz können ←32 | 33→diese Filme gleichsam als fiktionalisierter Beitrag des zeitgenössischen Krisendiskurses gedeutet werden.

Schließlich fällt auf, dass die Lösungen des aufgeworfenen Konflikts zwischen Kapital und Arbeit geschlechtlich codiert sind, also anhand symbolischer Repräsentationen von Männlichkeit und Weiblichkeit erfolgen. So treten auf der Ebene der Figurencharakterisierung, gerade im Hinblick auf die Figur des Ingenieurs, miteinander konkurrierende Männlichkeitsbilder auf. Die Figurenkonstellation wiederum ist durch Relationen verschiedener Formen von Männlichkeit geprägt, die mithilfe des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit der Soziologin Raewyn Connell entschlüsselt werden können.

1.2 Forschungsstand

Eine Analyse kinematographischer vergangener Zukünfte aus (technik-)historischer Perspektive betritt weitestgehend Neuland. Dem liegt eine doppelte Berührungsangst der (deutschsprachigen) Geschichtswissenschaften gegenüber dem Genre der Science-Fiction und dem Medium des Spielfilms zugrunde:

Das Potenzial der Science-Fiction für geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen wurde bisher vornehmlich innerhalb der ohnehin der Populärkultur deutlich affineren anglo-amerikanischen Forschung ausgelotet. Doch selbst hier offenbart sich eine randständige, defensive Ausgangsposition, wenn etwa die britische Historikerin Farah Mendlesohn die titelgebende Fragestellung folgendermaßen formuliert: „Warum schreibt eine Geschichtswissenschaftlerin über Science Fiction?“61 In ihrem Essay plädiert Mendlesohn für einen gesellschaftsgeschichtlichen Zugang, der sich der Erforschung des Allgemeinen und Typischen des Genres (im Gegensatz zum literaturwissenschaftlichen Analyseansatz der „privileged best examples“) unter Einbezug seiner spezifischen Produktions- und Distributionsbedingungen widmet.62 Die amerikanische Historikerin Janice Liedl wiederum konzeptualisiert die Science-Fiction als wichtige Quelle zum Verständnis populärer Geschichtsbilder und -narrative, dies nicht ausschließlich, aber unter besonderem Augenmerk auf das Subgenre der counterfactual history.63

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Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaften forderten zwar schon in den 1980er Jahren Michael Salewski und Susanne Päch eine analytische Auseinandersetzung mit der Science-Fiction; ihr programmatischer Aufruf, sie nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihres massenkulturellen Charakters als „Ausdruck des gegenwärtigen historischen Selbstverständnisses, der geistigen Befindlichkeit der Gesellschaft“ ernst zu nehmen, bewirkte außerhalb der eigenen Beiträge jedoch nur wenige Ergebnisse.64 So wurden zur Geschichte der Raumfahrt und der Robotik/Künstlichen Intelligenz die diesbezüglichen fiktionalen Entwürfe, die gleichzeitig Hauptmotive des Genres darstellen, oftmals en passant abgehandelt oder den realtechnischen Entwicklungen beiseite gestellt.65 Zum besseren Verständnis des komplexen Beziehungsgeflechts von Techno-Imaginärem und realtechnischen Entwicklungen favorisieren jüngste Ansätze ein Aufbrechen dichotomer Kategorien „such as science/fiction, real/imaginary“66 zugunsten einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, die auf die wissensstrukturierende und handlungsleitende Funktion techno-imaginären Denkens und damit einhergehender Realitätseffekte zielt. Anhand einer solchen Perspektive rückt zwar der Einfluss „technikbasierter Zukunftsvorstellungen“, Utopien und Visionen „auf die Formung von Leitbildern der Technikentwicklung und die Technikakzeptanz“67 in den Vordergrund; allerdings werden dabei ←34 | 35→Medien der Popularisierung im Allgemeinen und die Science-Fiction im Besonderen tendenziell als diskursives „Anhängsel“ betrachtet.68 Somit behandelt die um 2000 revitalisierte historische Zukunftsforschung das Genre – wenn sie ihm nicht gleich die Zukunftsfähigkeit in Gänze abspricht69 – allenfalls kursorisch.70

Zu dieser in der Geschichtswissenschaft im Großen und Ganzen vorherrschenden Missachtung der Science-Fiction gesellt sich die tradierte und weiterhin verbreitete Berührungsangst gegenüber dem Spielfilm als Quelle. So wurde der Historikerzunft zu Recht lange Zeit eine generelle Bilderfeindlichkeit nachgesagt, die visuellen Medien nur eine illustrierende Funktion zubilligte. In der Tat dominieren bis heute Untersuchungen textlich überlieferter Quellenbestände. Unterdessen hat jedoch der in den Kulturwissenschaften vor nunmehr 20 Jahren ausgerufene „iconic“, „visual“ oder auch „pictorial turn“,71 in dessen Rahmen sich um die Etablierung einer (zunächst kunstgeschichtlich verankerten) Allgemeinen Bildwissenschaft bemüht wurde, auch in der Historiographie deutliche Spuren hinterlassen. Ausgehend von der Einsicht, dass mit dem Siegeszug der Bildmedien in die Alltagskultur, der in der zweiten Hälfte ←35 | 36→des 19. Jahrhunderts seine Anfänge nahm, visuelle Botschaften eine wesentliche Funktion in der Produktion und Kommunikation von historischem Wissen und historischer Erfahrung innehaben, werden Bilder zunehmend in ihrer Bedeutung als historische Quellen ernst genommen und ihr eigenständiger Beitrag zu einer (Re-)Konstruktion der Vergangenheit untersucht.72 Der Schwerpunkt liegt jedoch gleichbleibend auf statischen Bildern – wie dem Gemälde, der Karikatur, dem Plakat, und insbesondere der Fotografie.73 Die Beschäftigung mit bewegten, also filmischen Bildern stellt bis heute eine besondere Herausforderung für die historische Forschung dar – egal, ob es sich dabei um zufällige Überreste oder in dokumentarischer Absicht erfolgte Aufnahmen (also Filmdokumente), um Dokumentarfilme, Unterrichtsfilme, Doku-Dramen oder die auch hier besonders interessierenden Spielfilme handelt.74 Diesbezügliche Schwierigkeiten lassen sich bis zu den Anfängen des Films zurückverfolgen: Als dieser Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, verfügten die gleichfalls noch jungen Geschichtswissenschaften bereits über ein festes Raster an Instrumentarien und Methoden zur historischen Quellenkritik, in welches sich dieses neue Medium schlechterdings nicht fügte. Auch der flüchtige und gleichzeitig komplexe Charakter der Filmbilder sowie deren primäre Wirkung im Bereich des Emotionalen und Unbewussten bereiten den vorzugsweise stabilitäts- und kausalitätsorientierten Geschichtswissenschaften besondere methodische Schwierigkeiten.75 Darüber hinaus befinden sich gerade Spielfilme in ihrer Eigenschaft als „Mythomotoren“ in direkter Konkurrenz zur Geschichtsschreibung. Sie

Details

Seiten
376
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631801543
ISBN (ePUB)
9783631801550
ISBN (MOBI)
9783631801567
ISBN (Hardcover)
9783631793091
DOI
10.3726/b16107
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
Historische Filmanalyse Hegemoniale Männlichkeit Zwischenkriegszeit Science-Fiction Historische Zukunftsforschung Ingenieursgeschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019., 376 S.

Biographische Angaben

Anke Woschech (Autor:in)

Anke Woschech studierte Psychologie, Soziologie, Romanistik und Geschichte in Dresden und Montpellier. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte an der TU Dresden, wo sie auch promoviert wurde.

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Titel: Ingenieure auf der Leinwand
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