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Die Hofordnungen der Herzöge von Burgund

Band 2: Die Hofordnungen Herzog Karls des Kühnen 1467–1477

von Valérie Bessey (Band-Herausgeber:in) Sonja Dünnebeil (Band-Herausgeber:in) Paravicini Werner (Band-Herausgeber:in)
©2021 Andere 552 Seiten
Open Access
Reihe: Kieler Werkstücke, Band 19

Zusammenfassung

In wenigen Texten tritt die Figur Herzog Karls des Kühnen von Burgund (reg. 1467-1477) in seinem Ehrgeiz und seinem Organisationsvertrauen so deutlich hervor wie in diesen seinen Hofordnungen. Hier werden sie erstmals ediert, zunächst die Ordnung für seine (3.) Frau Margarete von York von 1468, dann das umfangreiche Hofordnungswerk von 1469, dessen Prachthandschriften (deren eine abgebildet wird) an fremde Höfe verschickte wurden, weiter die Ergänzungsordonnanz von 1472, die Gardeordonnanz von 1473 und schließlich neben einem Hofstaatsverzeichnis die überaus detaillierte Ordnung von 1474, die bis zum Ende der Regierung auch die Änderungen im Personalbestand verzeichnet. Hinzu kommen eine kurze Hofstaatsbeschreibung von 1472 und die Sonderrechte der Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies von 1473. Der ganze Nordwesten Europas ist betroffen: Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und das Reich. Glossar, Bibliographie und mehrere Indices erschließen den Band. Königlicher Anspruch, Organisation und Zeremoniell, zivile und militärische Verwaltung, Audienz, Hofkapelle und Höchstgerichtbarkeit werden hier illustriert sowie eine Hoforganisation, die für das habsburgische Europa vorbildlich wurde.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Editionsgrundsätze
  • Edition
  • 1 Die verlorene Hofordnung von 1468
  • 2 Die Hofordnung für Herzogin Margarethe von York von 1468
  • 3 Das Hofordnungswerk von 1469
  • 3.1 Die allgemeine Ämterordnung (Rahmenordonnanz) von 1469
  • 3.2 Die einzelnen Ämterordnungen
  • 3.2.1 Die Ordnung für den Ersten Kammerherren
  • 3.2.2 Die Ordnung für die zwei Kammerherren (sechs Monate Dienst)
  • 3.2.3 Die Ordnung für die drei Kammerherren (vier Monate Dienst)
  • 3.2.4 Die Ordnung für die vier Kammerherren (drei Monate Dienst)
  • 3.2.5 Die Ordnung für die zwei Brotmeister (sechs Monate Dienst)
  • 3.2.6 Die Ordnung für die zwei Schenken (sechs Monate Dienst)
  • 3.2.7 Die Ordnung für den Ersten Vorschneider
  • 3.2.8 Die Ordnung für den Ersten Stalljunker
  • 3.3 Die verlorene Personalordonnanz
  • 4 Die Ergänzungsordonnanz von 1472
  • 5 Die Gardeordonnanz von [1473]
  • 6 Die Hofordnung von 1474 und das zeitgleiche Hofstaatsverzeichnis
  • 6.1 Das Hofstaatsverzeichnis von 1474
  • 6.2 Die Hofordnung von 1474
  • Anhang
  • 7.1 Kurzbeschreibung des Hofstaates von 1472
  • 7.2 Die Vorrechte der Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies (1473)
  • Verzeichnisse
  • Übersicht über die Zahl der Ämter und Amtsinhaber in den Hofordnungen Karls des Kühnen
  • Glossar
  • Chronologisches Verzeichnis der Nachträge in der Hofordnung von 1474
  • Abkürzungen
  • Archivalienverzeichnis
  • Bibliographie
  • Indices
  • Index der Ausstellungs-, Publikations- und Nachtragsorte
  • Index der genannten Personen

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EINLEITUNG

Geboten werden: die verlorene Ordonnanz für den Herzogshof vom 2. März 1468 (Nr. 1)1, die Ordnung für die Herzogin Margarethe von York vom 31. August 1468 (Nr. 2), das Hofordnungswerk vom 1. Januar 1469, mit all seinen Einzelordonnanzen, jedoch ohne die verlorene Personalordonnanz, die die Namen der Amtsträger nannte (Nr. 3), die Ergänzungsordonnanz vom 19. April 1472 (Nr. 4), die Gardeordonnanz von 1473 (Nr. 5), das Hofstaatsverzeichnis (Nr. 6.1) und die Hofordnung vom 13. Februar 1474 (Nr. 6.2). Diese galt anscheinend bis zum Tod des Herrschers, der letzte Korrektureintrag datiert vom 25. Februar 1476 (§ 344a)2 und ist allein mit den Namen aller Amtsträger und darüber hinaus den Streichungen und Zusätzen überliefert. Sie zählt nicht weniger als 1511 Paragraphen, die zahlreichen Nachträge nicht eingerechnet3. Wenn es sich um Ernennungen handelt, setzen diese Nachträge voraus, dass der Herzog einen offenen Brief (lettres patentes) ausgestellt hatte, wonach erst, zuweilen nach Wochen, der Eintrag in die Hofordnung erfolgte4. Im Anhang wird (1) eine kurze Hofstaatsbeschreibung vom Jahre 1472 nachgereicht, die bei Hofe vom conseil de justice, dem conseil a la guerre, der chambre des finances und dem (eigentlichen) estat de sa maison spricht. Außerdem (2) die Aufzeichnung der Vorrechte der Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies vom 13. Mai 1473, die in der Hofordnung von 1474 nicht durchweg berücksichtigt sind5. Gerne hätte ich die ausführlich-anschauliche Hofesbeschreibung des als Hofmeister und Gardekapitän an der Redaktion all dieser Texte beteiligten Olivier de la Marche in den Band aufgenommen, aber sie ist bereits im Jahre 1888 zitierbar gedruckt worden, während von den Hofordnungen nur Nr. 5 bislang veröffentlich worden ist, allerdings vorkritisch. Eine kommentierte Neuedition des »Estat«, die einen eigenen Band füllen würde, bleibt ein Desiderat6.

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Organigramm des Hofes Herzog Karls (aus: HIL TMANN, Organisation, 2008, S. 216f.)

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Karl der Kühne hat nur neuneinhalb Jahre regiert, vom 15. Juni 1467 bis zum Tode vor Nancy am 5. Januar 1477, Jahre, in denen er ganz Europa in Aufregung und Abwehr versetzte. Seine Hofordnungen sind ein Höhepunkt der Gattung, nicht allein in burgundischem Vergleich. Sofort nach seinem Regierungsantritt hat der neue Herzog sich an deren Formulierung gemacht und hat diese Arbeit nicht etwa seinen Räten überlassen, sondern persönlich daran teilgenommen. In Nr. 4 sind sogar einige Korrekturen seiner Hand erhalten. Aus den Texten spricht dieselbe neue Verwaltungsmentalität, die auch in vielen anderen seiner Texte begegnet: Alles soll seine Ordnung haben und nach klar definierten Regeln ablaufen: ordre et regle heißt die neue Devise7. Sie entspringt einerseits dem Unwillen über den unter seinem Vater vorgeblich eingerissenen Schlendrian8, andererseits der Überzeugung, durch Reglementierung und Bürokratisierung alles besser machen zu können. Man lese nur die Vorschriften für ein Urlaubsgesuch in der Garde, für das ein eigenes Formulare und ein vielstufiger Instanzenzug vorgesehen war9. Dass die Quartierszuteilung, selbstverständlich nach Rang und Würde, bei diesem reisenden Hof von grande multitude10 ein fast tägliches Problem, eingehend geregelt werden musste, leuchtet dagegen sofort ein (Nr. 5 §§ 231–250). Es gab einen eigenen marechal du logis, mit dem man dann auch unzufrieden sein konnte, denn der Amtsträger wurde am 31. Oktober 1475 cassé und durch einen anderen ersetzt (Nr. 6.2 § 1300a).

Zuchtmittel war die Streichung der täglichen Gage (3 s. pro Kopf, ob Mensch, ob Pferd)11, waren Berichtspflichten12, selten ein Lob13. Es wurde nicht nur angedroht, die Gagen zu streichen (royer)14, die Hofordnung von 1474 (Nr. 6.2) zeigt, dass es tatsächlich dazu kam und immer wieder zum Vermerk cassé, häufig unter Angabe der Gründe. Opfer waren in aller Regel Edelleute, nicht das eigentlich dienende Personal:

§§ 201a, 202a, 212a (s’est tenu plus longuement de son hostel qu’il n’en avoit le congé), 214a und 218a (zwei fremde Grafen: depuis sa retenue il n’est pas venu servir), 218b, 228a, 269c, 275a, 286a, 287ab, 300a-b (en contemnant les ordonnances de monseigneur s’est absenté de son hostel sans son congé), 302a (en contemnant les ordonnances de monseigneur s’est absenté de son hostel sans son congé), 305a-b (pour estre party de cest ost sans son congié), 311-312a-d (se sont tenuz absens de son hostel et service sans son congié), 313a (pour ce qu’il s’est tenu absent de son hostel et service sans son congié), ←10 | 11→340a, 348a, 353a, 363a, 365a (en contemnant les ordonnances de monseigneur, s’est tenu absent de son hostel sans son congié), 381a, 382a (Rückkehr nach England), 385a, 389a, 437a (pour non estre venu en son service durant le siege de Nuyss et et pour certaines causes), 439a (pour non estre venu en son service durant le siege de Nuyss), 440a (pour certaines causes et consideracions a ce le mouvans, dont il ne veult icy aulcune declaracion en estre faicte), 446a, 448a, 457a, 459a, 460a, 462a, 464a (en contemnant les ordonnances de monseigneur, s’est absenté de son hostel et demeuré plus longuement hors d’iceluy que ne duroit son congié), 465a, 563a (pour ce qu’il est au service de ceulx qui tiennent son party contraire, vgl. unten S. 18, Anm. 71), 567a, 568a (pour non estre venu en son service durant le siege de Nuysse), 586a (pour ce qu’il s’est tenu plus longuement absent de son hostel que ne duroit son congié), 593a (pour non estre venu en ce present vo[y] age de Colongne [= vor Neuss, vgl. 469a]), 596a, 598a, 602a, 1055a (ein archer de la garde cassé pour ses delictz).

Im schlimmsten Fall war die indignation, der Huldentzug des Fürsten zu erwarten15, die mindestens den Verlust des Amtes bedeutete. Andererseits enthält diese Ordnung auch Zeugnisse dafür, dass für bewährte Diener im Alter gesorgt wurde16. Dies gilt auch für die Lebenszeit Karls des Kühnen hinaus17 und betrifft Edelleute nicht.

Nirgendwo sieht man den Herzog lächeln (sofern dies in solchen Texten möglich ist), besonders wenn er das Narrenfest verbietet (Nr. 3.1 § 155), obschon auch er Narren bei Hofe beschäftigte, die aber nicht so genannt wurden, vielmehr Monseigneur le Glorieux, Patoulet, Mery Briant und le Philosophe18. Allein die Musik scheint ihm Freude bereitet zu haben19. Allenthalben begegnen wir dem »vernünftigen Wahnsinn«, den Jacob Burckhardt an Karl erkannte20, der rennt, als ob es einen Brand zu löschen gelte21.

Gekennzeichnet werden diese Ordnungen, die nicht mehr wie bisher nur Amt, Amtsträger, Dienstzeiten und Gehalt nennen, also im Grunde Finanz- und Sparvorschriften sind, dadurch, dass sie eine Fülle von Verhaltens- und Verfahrensvorschriften machen und somit zu Zeremonialordnungen werden – was sie zur Quelle für die Kenntnis von Zeit und Raum bei Hofe macht. Sogar zum Schweigegebot22, zu Trommelschlag und Trompetensignal sind hier Angaben zu finden: das dreimalige Zeichen zum Satteln (les selles), Aufsitzen (a cheval), Versammeln im Abstand von anderthalb ←11 | 12→Stunden und dann nur einer halben Stunde23 ist sicher nicht neu und wird noch lange so gehandhabt worden sein.

Dies wird besonders in der Tatsache deutlich, dass Anfang 1469 in dem, was man nur als »Hofordungswerk« bezeichnen kann, eine Mantelordonnanz allgemeiner Verhaltensvorschriften erlassen wird, dazu für die Leitung der acht adligen Ämter entsprechende Einzelordonnanzen ergehen, die Personalordonnanz aber, die die einzelnen Amtsträger mit ihren Gagen nennt, davon völlig abgetrennt (und wie gesagt verloren) ist24. Eine Ausnahme macht allein die Ordnung für die Herzogin (Nr. 2), die recht traditionell älteren Vorbildern folgt und im Übrigen ein Schlaglicht auf den Grund für die Anwesenheit der Demoiselles bei Hofe wirft: Sie heißen einmal les filles a marier (Nr. 2 § 218). Aber Geburten, Frauen und Kinder der Bediensteten sind bei Hofe unerwünscht (Nr. 2 § 229)25. Ausdrücklich wird befohlen, dass die gesamte Ordnung in Gegenwart der Herzogin vor versammeltem Personal verlesen werde (§ 230). Dies wird in den herzoglichen Texten nicht eigens vermerkt, wahrscheinlich deshalb, weil die Ämterordonnanzen schriftlich an die Amtschefs ausgeteilt wurden und diese für die Bekanntmachung zu sorgen hatten.

Mit Hilfe der neuen Texte ist es möglich, den Tagesablauf sowohl des Herrschers als auch der adligen Höflinge und bürgerlichen Räte zu rekonstruieren, in dem auch Freizeit für Zerstreuung und Erholung vorgesehen war26. So wurde etwa die Begleitung des Herrschers auf Wallfahrten (die sehr politisch sein konnten), bei der Beize und Landjagd eigens geregelt27. Der religiös bestimmten Jahresablauf tritt deutlich hervor mit seinen zahlreichen Heiligenfesten, unter denen die vier, drei Tage lang gefeierten nataulx die bedeutendsten waren, Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Allerheiligen, wozu noch der Tag des burgundischen »Nationalheiligen« Andreas und Georgs, des persönlichen Heiligen Karls des Kühnen hinzukommt; auch Mariae Lichtmess (2. Februar) wurde mit der leuchtenden Kerze in der Hand feierlich begangen28. Das außerordentlich detaillierte Kapitel, das der Kapelle gewidmet ist (Nr. 3.1 §§ 137–190, vgl. Nr. 6.2 §§ 3–36) zeigt an, welch zentrale Rolle Kirchgang, Meßbesuch, aber auch der Glanz der singenden Kapelle spielten.

Bislang kennen wir eher die Norm als die Praxis. Die Unterschiede zwischen den Vorschriften in der Abfolge der Hofordnungen selbst zeigt schon, dass die Verhältnisse sich schnell änderten und dass der seit 1470 unablässige, nur durch Waffenstillstände unterbrochene Kriegszustand nicht ohne Folgen für das Hofleben blieb. In ←12 | 13→Friedenszeiten, so können wir annehmen, haben sich alle diensttuenden Edelleute im Sommer (der von Ostern bis Allerheiligen währte)29 zwischen 8 und 9, spätestens aber um 9 Uhr (im Winter eine Stunde später) getrennt nach Räumen30 für die einen und die anderen zu versammeln (auch die chambre de parement wird genannt31), dann darf vom Vorgesetzten der Kammerherrn an die Tür von des Herzogs Kammer geklopft werden, sie geht auf, der Adel darf eintreten (der Erste Kammerherr – Anton, der große Bastard von Burgund – hatte jederzeit Zutritt)32, am lever33 des Fürsten teilnehmen, ihn ansprechen, wenn er es will, und ihn in geregelter Reihenfolge zur Messe begleiten, pour garder que mondit seigneur ne soyt empressé de personne34, wo wiederum der Zugang zu seinem oratoire geregelt ist. Sobald er am Tisch des disner sitzt, darf man seinerseits zum disner gehen, hat daraufhin aber den Fürsten weiter durch den Tag zu begleiten, bis die Vesper vorbei ist und der Herr beim souper sitzt, das man danach ebenfalls einnehmen kann (Nr. 3.1 §§ 200–202, Nr. 6.2 §§ 1350–1362). Doch nach dem disner des Herrn haben sich die Spitzen der Kammerherren, die Hofmeister (die über die vier Hofämter gebieten) und deren Einzelchefs zum Befehlsempfang beim Fürsten einzufinden (Nr. 3.2.4 § 13). Estrangiers non nobles hommes hatten keinen Zugang zur Kammer der Gentilshommes35. Wenn aber Fremde von Stand non de l’ostel36 oder ambassadeurs37 anwesend waren, und das war eigentlich immer der Fall, und wenn man in eine Stadt einritt oder sie verließ, dann galt es besonders, »ordre et règle« zu praktizieren, paarweise oder zu dritt zu reiten sans eulx entremesler (was überhaupt Grundsatz war)38, und prächtiges Exterieur zu zeigen39 – die Leibbogner erhielten einmal im Jahr neue paletoz d’orpheverie, Überkleider aus Goldtuch oder mit Gold verziert und zweimal einen neuen Federbusch40. Wenn bei feierlichen Gelegenheiten dem Herzog das Schwert vorangetragen wurde, war es, wie üblich, der oberste Stallmeister (escuyer d’escurie), der es führte (Nr. 6.2 § 1341). Über Land konnte es dann lockerer zugehen.

Auch wenn sein Treffen mit Kaiser Friedrich III. in Trier im Oktober-November 1473 nicht zur Königserhebung geführt hatte, beanspruchte Karl eine königgleiche Stellung und trat mit der entsprechenden Magnifizenz auf41. An drei Stellen begegnet ←13 | 14→in der Hofordnung von 1474 die Bezeichnung des Herzogs als mon souverain seigneur42, anstatt mon tres redoubté seigneur, was angesichts Karls Bestrebung, sich ganz aus der Unterordnung unter den König von Frankreich bzw. den römischen König und Kaiser zu lösen, und anzunehmender Sprachregelung wenig ist. Ganz durchgesetzt hat die Bezeichnung sich in der Tat nie, weder extern noch intern43. Der Anspruch auf Souveränität kommt auch darin zum Ausdruck, dass es im Diensteid § 1391 heißt, man werde dem Herzog envers et contre tous dienen (auch Nr. 7.2 § 13) und seine Geheimnisse wahren (secretz)44, denn hier hätte eine Ausnahme für den König, wenigstens den französischen, gemacht werden müssen. Dennoch folgt der Gottesdienst bei Hofe weiterhin l’usage de l’eglise de Paris (Nr. 3.1 § 139), während beim Wein das Maß von Lille gilt45.

Schon 1468/1469 findet eine gewaltige Vermehrung des adligen und fast nur des adligen Personals statt: anstelle von 160–170 beschäftigt der neue Herzog nun über 300 Leute, wie die täglichen Gagenlisten zeigen, und es werden mit ca. 360 noch mehr, 100 Kammerherren, 160, dann 200 Gentilhommes der vier Ämter von denen je 40/50 ständig am Hof zu sein haben, ihre Ämterchefs nicht eingerechnet und auch nicht die 12, dann 16 Gentilhommes der Kammer und die 10, dann 12 adligen Pagen in der Écurie. Die Integration der provinziellen Adelsgesellschaften und unterschiedlichen Adelsränge wird hier systematisch betrieben, der zeitlich begrenzte Dienst bei Hofe von drei, vier, sechs Monaten neben dem ständigen Dienst einiger Bevorzugter und schließlich der Einführung der Kategorie der »Pensionäre« für den Hochadel massiv eingesetzt (schon 1468 sind diese bis zu 40 Personen, für die es keine Pflichtzeiten gab, erstmals erwähnt, Nr. 1, § 4e). Die Kosten sind immens, sie betragen 320.219 £ 19 s. 9 d., wenn die einschlägigen Ausgaben des Argentiers hinzugerechnet werden sogar 460.382 £ 9 s. 9 d.46. Ein Teil davon war aber für Befestigungsbauten vorgesehen47. Es kann nicht erstaunen, dass es auch eine Löwin gab, die bewacht und ernährt werden musste (Nr. 6.2 § 714).

Die quantitative Übersicht (S. 429–441) führt diese Entwicklung eindrücklich vor Augen, während das umfassende Organigramm von Torsten Hiltmann einen deutschsprachigen Überblick über den gesamten Hof nach der Hofordnung von 1469 gibt (S. 8f.). Dabei kann gar nicht genug darauf hingewiesen werden, dass Karls hauptsächlicher Gegner, König Ludwig XI., ganz auf Prunk und Pracht verzichtete und sich die Leute kaufte48, wenn er sie nicht einfach terrorisierte49. Es ist kein Zufall, dass Karls letzte Hofordnung (Nr. 6.2) in Dijon veröffentlicht wurde, kurz nachdem er in einem ←14 | 15→wahren Todestheater die Leichen seiner Eltern hatte dorthin überführen lassen, eine Inszenierung, die sicherlich schon im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten seiner (ausgefallenen) Königserhebung geplant war50. Auch die Verwandlung des Grand Conseil in die court souveraine des Parlaments von Mecheln vom (8.) Dezember 1473 ist in diesem Rahmen zu sehen51.

Die Zeremonialisierung und Quantifizierung des Hofes werden durch eine dritte Veränderung ergänzt: die fortschreitende Militarisierung. Sie setzt 1471 ein, zum Zeitpunkt, als König Ludwig XI. den Krieg gegen Karl eröffnete und Karl mit der Militärordonnanz vom 31. Juli 1472 begann, seine ständige Armee der »compagnies d’ordonnance« aufzubauen52. Schon 1469 ist in der Ordnung der vier Kammerherren (Nr. 3.2.4 § 42) von les capitaines de cent lances die Rede und in §§ 103–107 wird eine kurze Militärordonnanz eingefügt. Die Ergänzungsordonnanz von 1472 (Nr. 4) verweist selbst auf den Beginn des Feldzugs hin, als man im Februar 1472 von Arras aufbrach, um Ludwig XI. Einhalt zu gebieten (Nr. 4 § 1 mit den Anm.). Nun wird gänzlich von Lieferungen für Mann und Pferd auf Geld umgestellt und ein beträchtlicher Teil des adligen Hofes in Befehlshaber der Armee verwandelt, Kommandanten einer »chambre«, darunter zu dixeniers über zehn hommes d’armes, und quarteronniers (bei den Leibbognern)53. Die Gardeordonnanz von 1473 und die Hofordnung von 1474 nehmen dies wieder zurück, aber nur, um alle Hofangehörigen in die Armee einzuordnen und nunmehr von escadres (squadre) zu reden (Nr. 5 § 1 und passim, Nr. 6.2 §§ 1, 1001 und passim); 1472 war schon der Begriff des conduitier (condottiere) übernommen worden, Jetzt muß jeder Amtsträger den Vorschriften gemäß bewaffnet sein (Nr. 6.2 §§ 1287–1299) – aber immer noch auf eigene Kosten. Selbst die besseren Kammerdiener trifft es, mit einer Sonderbestimmung für diejenigen, die zwischen 26 und 50 Jahre alt sind, sich also im besten Mannesalter befinden (Nr. 6.2 § 1292). Außerdem erhält die Armee, nach dem Vorbild der französischen, einen »prévôt des maréchaux«, einen Profoß, Maillart du Bac, der die Militärgerichtsbarkeit roh und rücksichtslos ausübt und deshalb ein gefürchter Mann ist54. Die Einrichtung einer Garde55 von 120 hommes d’armes unter Olivier de la Marche (Nr. 5) zwischen dem 25. und 28. Februar 1473, die erste Écroe die sie eigens nennt, datiert vom 8. Juli 1473, gehört hierher, dies neben den 40, dann 62/63 »archers du corps« oder Leibbognern. Die Garde übernahm die Nachtwache (le guet), die im Sommer von 9 bis 5 Uhr währte, im Winter von 8 bis 756.

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Fremde57 gab es nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Hofhaltung und damit in den Hofordnungen selbst: Deutsche, Italiener, Engländer und andere mehr. Jeder größere Hof brauchte sie, und sei es nur, um deren Landsleute zu empfangen oder diplomatischen Umgang mit den Herkunftshöfen zu pflegen. Die Hofordnung von 1474, die eine ganze Reihe von Ihnen nennt, vermittelt den Eindruck, dass ihrer mehr geworden sind, zugleich aber, dass viele nur kurze Zeit blieben.

Die Engländer stellten vier eigene Kompagnien von Bogenschützen, die in den Hofordnungen des Jahres 1474 erwähnt sind; einzelne werden bei den Leibbognern und in der Garde genannt58. Aber auch in den engeren Haushalt fanden sie Eingang und einer der Sänger der Kapelle, messire Richard Morton, der bekannte Komponist, stammte ebenfalls aus England59. Hier sei wenigstens ein Verzeichnis der Namen beigefügt.

Siehe im Index: Guillaume l’Anglais, (Griselle d’Angleterre), Jean l’Anglez, Richard l’Anglois, Thomas Chiselay, Georges (auch Barthélemy und Philippe) de Chiseval/ Chival (?), William und Richard Denis, Jean Dewit, Thomas Friman, Thomas Gibbes, David God, Jean Greston, Nicolas Grimston/Gruneston, Guillaume und Thomas Harington, Thomas Hausart, Richard Herissone, Roger Orselay/Horselay, Guillaume Salt, Guillaume Stanley, Talebot (Robert Talbot, s. Comptes de l’Argentier 1468, 2001, § 357), Jean Trocton, Thomas Winstowe.

Anthony Woodville Lord Scales, der Bruder der englischen Königin, erhielt zwar (zeitweilig) eine Pension von 1200 £ (Nr. 6.1 § 848), stand aber nicht eigentlich in burgundischen Diensten. Auch Thomas Boyd, Earl of Arran in Schottland, Schwager König Jakobs III, seit Februar 1470 als Gast des Anselm Adornes im Exil zu Brügge, war 1474, wenige Monate vor seinem Tod, pensionnaire mit einer Tagesgage von 30 s. (547 £ 10 s. im Jahr, er erhielt somit nicht dem Spitzensatz von 36 s.)60. Dass es sonst kaum Schotten am burgundischen Hof gab61, kann nicht verwundern, denn sie bildeten traditionell die Garde des französischen Königs.

Ebenso wichtig, ja wichtiger noch waren die Italiener. Karl hätte gerne den große Bartolomeo Colleoni in seinen Diensts genommen, aber die Republik Venedig gab ihren Generalissimus nicht frei62. So waren die prominentesten die als Anjouanhänger vertriebenen Neapolitaner unter dem Befehl des Cola de Monforte, Grafen ←16 | 17→von Campobasso, der vor der Entscheidungsschlacht vor Nancy das burgundische Heer verlassen wird, hier aber als Kammerherr begegnet, zusammen mit seinem Söhnen Angelo und Giovanni (Nr. 6.1 §§ 25, 26; Nr. 6.2 §§ 58, 59) und weiteren Neapolitanern, für die am Hof teils eigene Stellen geschaffen wurden, darunter Troilo und sein Sohn Alessandro de Rossano63. Einmal werden gleich drei Neapolitaner in den Garde-Dienst übernommen (ab dem 1. März 1473, Nr. 6.1 § 756), wohl nicht die eben genannten. Vom Arzt Matteo de’ Clarici wird gesagt (Nr. 6.1 § 632, Nr. 6.2 § 773), er sei zuvor im Dienst des Herzogs von Lothringen-Anjou gewesen, Renés II., der Karl schließlich besiegte. Daneben werden Francesco d’Este aus Ferrara (Nr. 6.1 § 48, Nr. 6.2 § 85), Agostino Campofregoso aus Genua64 und Jacobo Vischi, Graf von San Martino Canavese genannt (Nr. 6.1 § 28, Nr. 6.2 § 61). Auch ein Piemontese und ein Kalabreser begegnen, doch waren sie keine Edelleute, sondern valet de pied bzw. varlet de chambre (Nr. 6.2 §§ 647a, 727). Auch hier mag eine Liste weiteren Zugang eröffnen:

Fabrizio d’Altavilla (Hauteville) aus Capua, Perrot d’Arento, Hannibal Ayossa, Giovanni Filangieri di Candida, Sekretär (und Medailleur), Drayneto de Clarinis, Pierrequin Colin/ Ulin, gen. le Lombart (Diener in der Échançonnerie), Pierre de Diarro (?), Gaspard de Dortan/Ourtan (?), Agostino de Lignana Abt v. Casanova, Regnier Mancela, Nicolò Maria, Antoine de Novelle (?), Antoine de Pando (?), Mathieu Trogea, Aimé und dessen Bruder Goudefrin Valperghe (Valperga)65.

Mit der Herzogin Isabella von Portugal (1430, † 1471) oder dem Infanten Dom Pedro († 1449) waren einige Portugiesen gekommen und in hohem und niederen Dienst geblieben: Álvaro Eanes de Castelo Branco, Lopo Fernandes, Dom Fernando (Duartes Sohn), Lopo da Guarda, »Fernande de Lisbonne«, »Pierre Loup«, »Fernande Louppe«, Martim Afonso de Oliveira und João (Jean) Rodrigues«66. Es gab auch eine kleinere Gruppe von Kastiliern: Cristóbal Barbosa, Dominique Baxadonne (?), Cordo Huroet (?), Pedro Vasco de Guevara, und Jacques, Jean und Ladrón de Guevara67.

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Einige Deutsche scheinen auf, nicht nur die benachbarten Rheinländer (Salm-Reifferscheidt, Palant68) und die Nassauer69, denen eine große Karriere in den Niederlanden beschieden war, sondern auch ein rätselhafter »gentilhomme de l’empereur« als écuyer d’écurie (Nr. 6.1 § 386, eventuell Guillaume de Stauwenbach, § 550a-b), unbenamt »le tambourin d’Autriche« (Nr. 5 § 7, Nr. 6.1 § 740, Nr. 6.2 §§ 917, 1325, 1326), ein österreichischer Graf von Sonnenberg als Kammerherr (Nr. 6.2 §§ 218, 218a, 230), der ritterbürtige Pfälzer Friedrich von Flörsheim (Nr. 4 § 81) im Rang eines Échanson, dann eines Gentilhomme de la chambre (Nr. 6.1 § 198, Nr. 6.2 § 253), die Hoffnung seiner Familie (er wird vor Nancy fallen)70 ein sächsischer Maltitz71, Muskewitz72 und andere mehr:

Aarberg-Valengin, Baden-Hochberg, Boyer (Bayer?), die Musiker Bucquelin (Bücklin, Böcklin?), Gemen, Hans, Hansse, Helfenstein, Helmstatt, Kleve, Strünkede, Uexküll (Icxsil), Palebourg, Printhaghe, Ramstein, Rych (Reich?), Scherding (Schärding?), Schernich. Vgl. Nr. 6.2 § 1293: brigandine ou corsset fendu au costé a la maniere d’Allemaigne.

Exotischer wird es mit Leuten aus Albanien, aus Slawonien, aus Trapezunt (Trabzon, Trébizonde) am Schwarzen Meer, und möglicherweise aus der Türkei:

Georges, Simon und Thomas l’Esclavon (Nr. 6.2 §§ 997, 998, 1093, 1093a, 1482), Albanien: Nr. 6.2 §§ 1178, 1217. Aus Böhmen, aber in zweiter Generation, stammten Antonin und Claude Söhne des Johann Okorský alias d’Occors/Ocochs/Ocots (Nr. 4 §§ 126 und 144, Nr. 6.2 §§ 184, 426, 1025, 1129, 1191), siehe PARAVICINI, Deutsche Adelskultur, 2002/2012, S. 326–328, 452 mit Anm. 101. – messire Antoine de Trapesonde, Kammerherr (Nr. 6.1 § 173, Nr. 6.2 § 215), entstammte einem in der Levante niedergelassenen Zweig der florentinischen Alighieri, siehe Paviot, Ducs de Bourgogne, 2003, S. 288–290; Comptes de l’Argentier 1474, 2009, V, S. 273f. (Index). – Jaques le Turcq, valet de litière (Nr. 6.1 § 526, Nr. 6.2 § 632), le Turcq, archer der Garde (Nr. 6.2 § 1061).

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Besonders buntgewürfelt war, wie anderswo auch, die Gruppe de Leibbogner, während die Garde im Kern mehrheitlich aus Edelleuten der eigenen Lande bestand, wenngleich es auch hier Engländer und Italiener und andere Fremde gab.

Daneben ist es immer aufschlussreich, danach zu fragen, wer denn in diesen Texten nicht auftaucht. Ein messire Antoine, seigneur de Croy, anscheinend der bis 1465 allmächtige Erste Kammerherr, das Haupt seines rebellischen Hauses, wird zwar im Hofstaatsverzeichnis von 1474 als Kammerherr zweiten Ranges mit halbjährlichem Dienst genannt (Nr. 6.1 § 69, nicht in der gleichzeitigen Hofordnung). Aber nie hätte sich »le grand Croy« († 1475) mit einem solch subalternen Amt zufrieden gegeben. Frieden mit Herzog Karl hat er nie wirklich geschlossen. Es muß also heißen »messire Antoine, seigneur de Sempy«. Dieser jüngere Bruder Philipps Herrn von Quiévrain und künftigen Grafen von Chimay, Ritter, stand in der Tat schon seit September 1470 als Rat und Kammerherr wieder in der Huld des Herzogs. Im September 1472 ist er auf Karls Normandiefeldzug gestorben. Der Name muß versehentlich in das Hofstaatsverzeichnis eingetragen worden sein, vermutlich aus einer vorliegenden Liste73. Louis de Luxembourg, Graf von Saint-Pol, Konnetabel von Frankreich, den Karl im September 1475 an Ludwig XI. zur Hinrichtung ausliefern wird, begenet nur als ehemaliger Herr eines der Narren (Nr. 6.2 § 678). Die Namen des Bastards Baudouin von Burgund, von Jean de Chassa und Jean d’Arson, der Überläufer des Jahres 147074, sind ebenso abwesend wie derjenige des Philippe de Commynes, der im Jahre 1472 die Seite gewechselt hatte75.

Wie der Zwang der Realität die besten Vorsätze zurückdrängt, zeigt die »audience publique«, die Karl, der sich von Natur aus als geborener Sachwalter des Rechts begriff76, zu Beginn seiner Regierungszeit einführte. Dreimal die Woche sollte sie stattfinden, Montag, Mittwoch, Freitag und nach dem disner von 12/13 Uhr bis zur Vesperzeit dauern77. Die schriftlichen Eingaben sollten verlesen und sogleich entschieden werden, oder wenigstens den zuständigen Gerichten zugewiesen78, das Ganze in Anwesenheit des gesamten diensttuenden Hofadels, immerhin an die einhundert Mann, die dabei nur Decorum waren und ihrem Selbstverständnis nach eigentlich Besseres zu tun hatten und anders behandelt werden wollten. Zwar durften sie auf Bänken sitzen, aber wenn sich irgendwo Lärm erhob, dann sollte der »huissier de salle« seine Stimme erheben und Ruhe gebieten, worauf dann silence wieder einzukehren hatte ←19 | 20→(was auch für andere Versammlungen galt)79. Der Hofchronist Georges Chastellain lässt uns gleichwohl das adlige Murren hören80. Diese audience publique hat es tatsächlich gegeben, aber ihre Häufigkeit nahm ab: 1473/1474 sollte sie nur noch zweimal die Woche abgehalten werden, 1474 nur noch einmal81. Auf Feldzügen und im Kriegszustand fehlte für dergleichen Aufwand schlichtweg die Zeit.

Die audience publique versuchte, den externen Zugang zum Herrscher zu regeln, eine entscheidende Frage. Ausdrücklich wollte der Herrscher sich aber täglich nach der Vesper auch intern eine halbe Stunde zur audience ordinaire bei den Kammerherren, eine andere halbe Stunde bei den Edelleuten der vier Hofämter und der Kammer aufhalten (panetiers, échansons, écuyers tranchants, écuyers d’écurie, chambre)82, damit sie ihm (nach den Fremden und stets mit Diskretionsabstand) ihre Anliegen vortragen konnten (Nr. 3.2.4 §§ 15, 17–19), und das waren ausdrücklich auch Bitten um Ämter, Einkünfte und Geschenke, für sich und für andere: tant d’offices et benefices comme de drap d’or, d’argent et de soye (Nr. 6.2 § 1365: nur schriftlich mit mündlicher Erläuterung, ausgenommen ganz wichtige Sachen)83. Außerhalb der audience ordinaire wollte Karl aber in Ruhe gelassen werden: ne veult estre travaillé (Nr. 6.2 § 1366, Nr. 3.2.4 §§ 18f.).

Der Hofrat84 sollte täglich tagen, sogar zweimal, im Winter (der in seinem Fall vom Remigiustag, 1. Oktober, bis Ostern währte)85, morgens von 8 bis 11, im Sommer von 7 bis 10, und nachmittags von 3 bis 5, die Sonntage, die dreitägigen quatre festes principales, die Marien- und Apostelfeste ausgenommen86. Nr. 3.1 enthält §§ 232–304 eine ausführliche Ratsordnung, einschließlich einer Taxliste für alle Arten von gerichtlichen Schreiben und für die Entlohnung der Gerichtspersonen (§§ 256–303), dazu eine Liste der Ratsleute, einschließlich der acht ausnahmsweise namentlich genannten ←20 | 21→Kammerherrn (§ 304). Bestallungsbriefe ehrenhalber (aux honneurs) sollten mit 25 s. halb so viel kosten wie retenues a gages (§§ 279f., vgl. Nr. 6.2 § 476). Anderes wurde anschaulich danach berechnet, ob der Text auf eine Pergamenthaut (6 £ = 120 s.) bzw. ein Papierblatt (8 s.) passte oder nicht (§§ 293, 298)87. »Um Korruption zu vermeiden« soll den Parteien nicht mitgeteilt werden, wer Referent ihrer Sache war, und Geschenke sind streng verboten (Nr. 3.1 §§ 248f.) – ein frommer Wunsch, dem die Praxis in keiner Weise entsprach. Damit die Räte rechtzeitig kamen, wurde eine eigene Messe für sie eingerichtet, die im Winter zwischen 7 und 8 Uhr gelesen werden sollte, im Sommer eine Stunde früher; nachmittags hatten sie sich zwischen 2 und 3 dafür beim Kanzler einzufinden88. Ebenso sollten die Kammerherren und Gentilhommes um 8 (9) Uhr zur Messe gehen, damit sie eine Stunde später pünktlich ihren Dienst antraten89– das lever des Herzogs fand erst um 9 bzw. 10 Uhr statt90.

Zuweilen verstecken sich dramatische Situationen hinter einer trockenen Eintragung. Es war bereits die Rede vom Exil des Earl of Arran; dessen Bruder war nicht rechtzeitig geflohen und wurde in Schottland hingerichtet91. Zum 17. Mai 1474 wurde Dreux de Humières zum einem der beiden halbjährlichen Hofmeister ernannt, ou lieu de feu messire Pierre de Haguembach (Nr. 6.2 §§ 241a, 265a): Dahinter verbirgt sich der Zusammenbruch der burgundischen Herrschaft am Oberrhein: Peter von Hagenbach, Karls Landvogt dort, war nicht im Bett gestorben, sondern am 5. Mai 1474 von seinen Gegnern in Breisach mit dem Schwert hingerichtet worden92. Es war der Anfang vom Ende. Als Karl am 15. Juli 1475 in Calais93 seinem Sekretär Thibaut Barradot Anweisung gab, die Ernennung von Maître André Colin zum Bittschriftenmeister in die Hofordnung einzutragen (Nr. 6.2 § 801a), geschah dies genau zur der Zeit, als er dort in Gesprächen mit König Eduard IV. vergeblich versuchte, seinen großen Plan doch noch zu verwirklichen, der Ludwig XI. ruinieren sollte: Die englische Invasionsarmee hatte wirklich übergesetzt, war in die Pikardie eingefallen, aber er, Karl, war mit seinem Heer nicht zur Stelle gewesen, hatte sich von der Belagerung von Neuss nicht befreit, hatte den Augenblick verpasst, so dass Eduard IV. sich am 29. August im Vertrag von Picquigny mit Ludwig XI. einigte und das Land wieder räumte; Karl, der eilig mit nur wenigen Leuten herübergeritten war, konnte auch mit einem zweiten Treffen am 19. und 20. August bei Péronne daran nichts mehr ändern – und fand dennoch die Zeit, die besagte Order zu geben.

Lediglich erwähnt sei das Selbstverständliche: dass die Hofordnungen (wenn die Personalordonnanzen überliefert sind, und das ist hier nur zweimal der Fall (1472 und 1474), hervorragende, geradezu unentbehrliche Quellen für die Geschichte der Personen und Gruppen bei Hofe sind, auch wenn die Patronats- und Abhängigkeitsverhältnisse unsichtbar bleiben und mit Hilfe anderer Quellen rekonstruiert werden müssen. Alle Namen wurden mit den täglichen Gagenabrechnungen oder Écroes verglichen, von denen aber nur an die 10 % erhalten sind94. Die Datenbank »Prosopographia ←21 | 22→Curiae Burgundicae« (PCB)95 macht sie zugänglich. Die Écroes nennen aber nur Datum, Namen und Gage, nicht aber das Amt. Die beiden Textsorten ergänzen sich somit, weshalb in diese Datenbank auch das Hofordnungsmaterial aufgenommen worden ist.

Karl der Kühne hat auf sein Hofordnungswerk von 1469 besonderen Wert gelegt. Dann es wurden nicht nur Arbeitsexemplare für den Hofzahlmeister (maître de la chambre aux deniers) angefertigt, so können wir annehmen, sondern ein in Samt gebundener Luxuskodex mit Goldschließen für den Herzog selbst, eingehüllt in einen kostbaren Beutel mit Goldschnur96. Von den acht Ämterordonnanzen wurden ebenfalls teure, samtgebundene Exemplare geschaffen, von denen sogar zwei erhalten sind, beide heute in der Österreichischen Nationalbibliothek, Nr. 3.2.4 und 3.2.8 (dieses auf S. 156–165 abgebildet), mitsamt der eigenhändigen Unterschrift des Herzogs. Wir wissen, dass mit der Gardeordonnanz (Nr. 5) und den Militärordonnanzen97 ähnlich verfahren wurde. Auffälligerweise ist nur Nr. 4 original im Archiv einer burgundischen Verwaltung erhalten, sonst stammt alles aus dem Ausland. Das gilt insbesondere für die beiden Ausfertigungen der Hofordnung von 1469 (Nr. 3.1), die beide heute in England aufbewahrt werden und beide keine Verwaltungsexemplare sind. Es fehlen Belege dafür, dass diese Exemplare von Karl etwa an Friedrich III. bzw. Maximilian oder an den englischen König und einen seiner Räte gesandt worden wären. Aber es liegt doch nahe, dergleichen zu vermuten.

Andererseits fällt auf, dass trotz dem Wert, den Karl diesen Texten sichtbar beilegte, so viel verloren gegangen ist. Keine Texte haben wir von der 1. Hofordnung des Jahre 1468. Vom Hofordnungswerk von 1469 fehlt ganz die Personalordonnanz (die für fremde Höfe von geringerer Bedeutung war), und sechs von acht Ämterordonnanzen sind nur in Abschriften des frühen 16. Jahrhunderts erhalten, wie überhaupt das praktische oder gelehrte Interesse eines Viglius Wiger Aytta van Zwichem († 1577) (Nr. 3.2) oder des Jean Jacques Chifflet († 1660) (Nr. 3.1, Nr. 6.1, 7.1) ansonsten verlorene Texte erhalten hat, auch Nr. 2 ist nur deshalb noch vorhanden. Die erwähnte Prunkhandschrift des Herzogs war vielleicht zu wertvoll, um eine Überlebenschance zu haben, und manches wurde sicherlich Burgunderbeute der Schweizer. Aber selbst im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert verschwand noch eine sogleich zu erwähnende Handschrift, die vielleicht einmal aus Privatbesitz wieder auftauchen wird.

Ist auf weitere Entdeckungen zu hoffen? Die auf Literaturstudium und briefliche Anfragen beschränkte Suche in spanischen Archiven blieb vergebens: Es hat sehr den Anschein, dass man sich mehr für Olivier der la Marches literarische Beschreibung interessierte als für den archivalischen Text98. Andererseits führte erst ein erneuter ←22 | 23→Blick ins handschriftliche Inventar der »Papiers d’Audience« der Archives Générales du Royame in Brüssel zur Entdeckung der Texte von sechs der acht Ämterordonnanzen von 1469, die bislang gänzlich unbekannt geblieben waren. Und die Entdeckung der zweiten Handschrift der Hofordnung von 1469 war reiner Zufall: Bei einem Besuch im Londoner College of Arms, der den Herolden galt, stieß ich in des John Anstis († 1744) ungedrucktem Werk »Officers of arms« bei den burgundischen Herolden auf den Hinweis auf jene Cotton-Handschrift, die bislang noch niemand erwähnt hatte – kein Wunder, denn sie war 1731 und erneut 1865 durch Brand schwer beschädigt worden und in keinem neueren Katalog zu finden99. Die Garde-Ordonnanz ist allein in einem Druck des Jahres 1846 aus Oudenaarde überliefert, danach hat niemand mehr die verzierte Handschrift gesehen. Es ist also mit weiteren Funden zu rechnen.

Am Ende dieser Einleitung sei demjenigen, der seit dem Jahre 1973 die Veröffentlichung der burgundischen Hofordnungen betrieben hat100, ein Seufzer der Erleichterung erlaubt. Den langen Weg zu gehen, begann er als Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Paris (DHIP) unter Karl Ferdinand Werner, der sich als Schüler von Fritz Ernst immer für das späte Mittelalter interessierte. Während der ersten Kieler Jahre 1984–1993 wurde das Vorhaben zugunsten des Inventars von Karls Briefwechsel zurückgestellt, dann ab 1993 in Paris als Direktor wiederaufgenommen. Damals führte Holger Kruse die begonnene Edition der Hofordnungen Herzog Philipps des Guten weiter und machte daraus einen Band der »Instrumenta« des DHIP, der 2005 erschien; mit ihm wurde auch eine Tagung über Hofordnungen insgesamt geplant, im Jahre 1996 durchgeführt, 1999 veröffentlicht101. Derweil hatte die Arbeit am 2. Band begonnen, deren Zwischenergebnisse im Mai 1997, Oktober 2000, im Februar 2004 institutsintern vorgelegt wurden. Holger Kruse war bis zu seinem Ausscheiden Ende 1998 daran beteiligt, Rohabschriften fertigten anfangs Valérie Bessey und Ute Tobiasch; Juliette Chegaray, Sébastien Hamel, Sonia Houck halfen bei den Kollationierungen, nach Holger Kruse übernahm Anke Greve die Leitung bis Ende 2003, nach ihr Torsten Hiltmann. Als ich Ende Oktober 2007 das DHIP verließ, war viel gesammelt, aber nichts definitiv redigiert, und die Arbeit stockte. Um dennoch die Gesamtedition vorwärts zu bringen, wurde der 3. und letzte Band der Gesamtedition (1477–1506) vorgezogen in Zusammenarbeit mit Valérie Bessey und Jean-Marie Cauchies (Brüssel/Löwen), dem besonderen Kenner der Regierungszeit Herzog, dann König Philipps des Schönen. Dieser 3. und letzte Band, den das DHIP nicht mehr drucken wollte, erschien in französischer Sprache 2017 in derselben Reihe der Kieler Werkstücke (Reihe D) wie nun auch dieser 2. Band in deutscher. Danach nahmen sich Valérie Bessey und Sonja Dünnebeil des verwaisten Materials an und schufen nach erneutem Handschriftenvergleich, Einarbeitung neuer Handschriftenfunde, Überprüfung und Ergänzung aller Angaben, schließlich Abgleich mit dem Material der »Prosopographia Curiae Burgundicae« (dazu unten in den Editionsgrundsätzen) den endgültigen Editionstext, mitsamt Vorbemerkungen, Kommentar, Glossar und Indices, was alles der Unterzeichnete sowohl begleitet als auch seinerseits revidiert hat. Nun ist die lange Reise zu Ende, die Edition liegt nach 47 Jahren Planung und Arbeit abgeschlossen vor, wenigsten für eine Generation oder zwei.

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Bleibt der abzustattende Dank. An die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, zumal Valérie Bessey und Sonja Dünnebeil, die in vorbildlicher Zusammenarbeit das letzte, lange Stück des Weges gegangen sind. An Torsten Hiltmann, der mit Bedacht an erster Stelle der genannten Mitarbeiter steht. An all die anderen, die jeder an seiner Stelle dazu beigetragen haben, dass diese Edition zustande kam. Nicht alle Kräfte konnten während meiner Amtszeit vom DHIP bezahlt werden. Es halfen aus die Fritz Thyssen Stiftung (Köln), die Fondation pour la protection du patrimoine culturel, historique et artisanal (Lausanne) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Bonn). Letztere hat überdies jene zwei Jahre finanziert, die schließlich den Durchbruch und Abschluß brachten. Die Verwaltung der Gelder übernahmen nach 2007 zeitweilig die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, das Institut de Recherches Historiques du Septentrion der Universität Lille III (Dank an Bertrand Schnerb), die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Dank an deren Generalsekretärin Angelika Schade), während die Österreichische Akademie der Wissenschaften zu Wien, Institut für Mittelalterforschung, Abteilung Editionsunternehmen und Quellenforschung, Sonja Dünnebeil während der Zeit ihrer Mitarbeit am Projekt einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellte und den Rat der Kollegen. Die Druckkosten wurden zu einem kleinen Teil von der DFG, zu größeren von der Fondation du Patrimoine getragen, die sie mir schon im Jahre 2006/2012 bewilligt hatte und nie daran zweifelte, dass das gegebene Versprechen auch gehalten werde.

Archivare und Bibliothekare und weitere Kollegen haben im Lauf der Jahre geduldig Auskunft erteilt und Reproduktionen gesandt. Eigens genannt seien (mit dem damaligen Heimatort) Christiane van den Bergen-Pantens (Bibliothèque Royale, Brüssel), Hilda Coppejans-Desmedt und Annelies Somers (Rijksarchief Gent), Frances Harris (British Library, London), Dieter Kudorfer (Bayerische Staatsbibliothek, München), Elisabeth Lalou (Centre national de la recherche scientifique, Paris), Barbara Lhost (Bibliothèque de la ville, Tournai), Jorge Lopez (Bibliotheca Nacional, Madrid), David A. L. Morgan (University College, London), Benoît Pellistrandi (Casa Velazquez, Madrid), José Luis Rodriguez de Diego (Archivo general, Simancas) und Elie Verhaege (Stadsarchief Oudenaarde).

Mitarbeitern und Partnern, Gönnern und Förderern sei hiermit der geschuldete Dank gesagt.

Kronshagen, am 11. November 2019, dem Geburtstag Herzog Karls des Kühnen Werner Paravicini


1Was der Chronist George Chastellain von ihr erzählt, gleicht dermaßen dem, was die Hofordnung von 1469 vorschreibt, dass Zweifel daran aufkommen könnten, dass es sich wirklich im Abstand von weniger als einem Jahr um zwei verschiedene Texte handelt. Die Parallelnachrichten schließen diese Möglichkeit jedoch aus. – PARAVICINI, Ordre et Règle, 1999/2002, behandelt Karls Hofordnungen eingehend, diese Arbeit ist parallel zu dieser Einleitung zu lesen, doch fehlt dort noch die Angabe von Nr. und §; siehe auch ders., Olivier de la Marche, 2003.

2Für die letzten zehn Monate von Karls Leben haben wir keinen datierten Eintrag, was denn doch auffällig ist. Ich habe deshalb zunächst auf eine weitere, verlorene Hofordnung vom 4. Jan. 1476 geschlossen (PARAVICINI, Ordre et Règle, 1999/2002, S. 677), doch spricht der Nachtrag vom 25. Febr. eindeutig dagegen.

3Ein chronologisches Verzeichnis der Nachträge ist auf S. 453–456 einzusehen.

Details

Seiten
552
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631826416
ISBN (ePUB)
9783631826423
ISBN (MOBI)
9783631826430
ISBN (Hardcover)
9783631824986
DOI
10.3726/b17139
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Edition Belgien Frankreich Adel Garde Zeremoniell Niederlande Margarete v. York Parlament von Mecheln Verwaltung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 552 S., 12 farb. Abb.

Biographische Angaben

Valérie Bessey (Band-Herausgeber:in) Sonja Dünnebeil (Band-Herausgeber:in) Paravicini Werner (Band-Herausgeber:in)

Dr. Valerie Bessey wurde an der Universität Sorbonne (Paris IV) promoviert. Sie arbeitet vorrangig für die Société de l'Histoire et du Patrimoine de l'ordre de Malte in Paris und ediert Quellen zum Malteserorden und zum Hof der Herzöge von Burgund im Mittelalter. Dr. Sonja Dünnebeil arbeitet vorrangig am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ediert Quellen zur Geschichte Burgunds, des Ordens vom Goldenen Vlies und zu den Habsburgern des späten 15. Jahrhunderts. Dr. Werner Paravicini, geboren 1942, forscht seit seiner Dissertation (Guy de Brimeu) und Habilitation (Die Preußenreisen) über Adel und Höfe im spätmittelalterlichen Europa. Er war Universitätslehrer in Kiel und von 1993 bis 2007 Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris.

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Titel: Die Hofordnungen der Herzöge von Burgund
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