Von der Bildung des Politischen zur politischen Bildung
Politikdidaktische Theorien mit Hannah Arendt weitergedacht
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 1.1 Geschichte der politischen Bildung seit 1945
- 1.2 Theoretische Reflexion der politischen Bildung
- 1.3 Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit
- 2. Kurt Gerhard Fischer: Politische Bildung als praktische Philosophie
- 2.1 Der Mensch als bildungsbedürftiges Wesen
- 2.2 „Consensus minimum atque omnium“
- 2.3 Demokratie als Lebensform
- 2.4 Die Wandelbarkeit des Politischen
- 2.5 Das Elementare politischer Bildung
- 2.6 Einsichten als Denkvoraussetzungen
- 2.7 Politischer Unterricht als Suche nach Wahrheit
- 2.8 Das exemplarische Lernen
- 3. Hermann Giesecke: „Nicht das Leben, nur die Bildung bildet“
- 3.1 Der Prozess des Heranwachsens und das Phänomen der Weltoffenheit
- 3.2 Die Unterscheidung von Erziehung, Bildung und Lernen
- 3.3 Der Begriff des Politischen und die Aufgabe des Unterrichts
- 3.4 Mündigkeit, Partizipation und Emanzipation
- 3.5 Der Konflikt als Inhaltsauswahl
- 3.6 Die unterschiedlichen Formen des Wissens
- 3.7 Politische Kategorien und die kategoriale Politikdidaktik
- 3.8 Individualität, Identität und der Begriff der Freizeit
- 4. Wolfgang Hilligens „existenzialistische Zeitdiagnose“
- 4.1 Chancen, Gefahren und Herausforderungen
- 4.2 Freiheit und Ordnung als normative Kategorien
- 4.3 Schlüsselfragen in der politischen Bildung
- 4.4 Optionen für eine menschenwürdige Gesellschaft
- 4.5 Freiheit als Vielzahl der Möglichkeiten
- 4.6 Demokratie als Überwindung von Ungleichheit
- 4.7 Die drei Dimensionen des Politischen
- 4.8 Zur Didaktik des politischen Unterrichts
- 5. Hannah Arendts Verständnis des Politischen
- 5.1 Der Zusammenbruch der Tradition: Denken ohne Geländer
- 5.2 Amor Mundi – Die Liebe zur gemeinsamen Welt
- 5.3 Die menschlichen Grundtätigkeiten: Vita activa
- 5.4 Zur Komplexität der Arendt’schen Theorie des Handelns
- 5.5 Politische Freiheit
- 5.6 Natalität
- 5.7 Die Unabsehbarkeit der Taten und die Unwiderruflichkeit des Getanen
- 5.8 Die Wiederentdeckung der antiken Polis
- 5.9 Das Phänomen der Macht
- 5.10 Die Kategorie der Geschichtlichkeit
- 5.11 Zur Unterscheidung von Gewalt und Autorität
- 6. Politikdidaktische Theorien mit Hannah Arendt weitergedacht
- 6.1 Hannah Arendt und das exemplarische Lernen
- 6.1.1 Die Unterscheidung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten als Voraussetzung für den politischen Unterricht
- 6.1.2 Kommunikation, Meinungsbildung und Urteilsfähigkeit
- 6.1.3 Die Spontaneität des Handelns als Anfangen-Können
- 6.2 Hannah Arendt und die kategoriale Bildung
- 6.2.1 Identität als „vernetzte Realität“ – Die Notwendigkeit der Anwesenheit anderer Menschen
- 6.2.2 Die Zerstörung der politischen Kategorien durch die Erfahrungen des Totalitarismus
- 6.2.3 Mitbestimmung als aktives Tätigsein in der Welt
- 6.3 Hannah Arendt und die existenziellen Herausforderungen
- 6.3.1 Das Denken in Grenzsituationen als Chance im Scheitern
- 6.3.2 Der menschliche Wille als Fähigkeit, Versprechen zu halten
- 6.3.3 Die revolutionäre Fähigkeit, neue Realitäten zu schaffen
- 7. Schlussbetrachtung
- 8. Bibliographie
- Primärliteratur
- Sekundärliteratur
- Online-Quellen
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„Hannah Arendt – Ihr Denken veränderte die Welt“ – mit diesem Titel feierte am 8. Januar 2013 der Film von Regisseurin Margarethe von Trotta in den deutschen Kinos seine Premiere. Gerade der Untertitel lässt dabei vermuten, dass es sich bei diesem Film um eine gesamtbiographische Darstellung des Werkes Arendts handelt; der Film befasst sich jedoch ausschließlich mit einem – wenn auch bedeutenden – Abschnitt im Leben Hannah Arendts: Es werden ihre Beobachtung und anschließende Veröffentlichung des Eichmann-Prozesses in Jerusalem Mitte der 1960er Jahre und die sich daraufhin entwickelte Kontroverse gezeigt. Dabei sind es vor allem ihr Begriff von der „Banalität des Bösen“ und ihre sarkastische, oftmals auch sehr distanzierte Ausdrucksweise, die in der Öffentlichkeit so heftig diskutiert wurden. Arendt hat in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der für den Transport von Millionen europäischer Juden in die Vernichtungslager verantwortlich war, nicht als Ungeheuer, sondern als „lächerlichen Hanswurst“1 bezeichnet, der unfähig war zu denken.2 Ihre Absicht war es, die „Legende von der Größe des Bösen“, zu zerstören und den Menschen die Bewunderung von der „dämonischen Macht“ zu nehmen.3 So zitiert Arendt in einem Interview den Schriftsteller Bertolt Brecht:
„Die großen politischen Verbrecher müssen preisgegeben werden, insbesondere der Lächerlichkeit. Sie sind nicht große politische Verbrecher, sondern Menschen, die große politische Verbrechen zuließen, was etwas vollkommen anderes ist.“4
Schon an diesem kurzen Zitat wird deutlich: Für Hannah Arendt liegt die „Banalität des Bösen“ nicht im menschlichen Charakter, sondern sie zeigt ← 9 | 10 → sich in den ausgeübten Handlungen der Menschen. Und damit hebt diese Erkenntnis gerade das hervor, was für ihr gesamtes Denken von Bedeutung ist: Hannah Arendt beschäftigt sich in ihren Werken in erster Linie mit konkreten Erfahrungen in der Welt. In der Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess und dem Totalitarismus entwickelt sie ein Bewusstsein, das zur Grundlage ihres Denkens wurde. Mit ihrem Verständnis von Politik, das sich durch Phänomenalität definiert und als Handeln zwischen den Menschen entsteht, hat Arendt einen Weg gewählt, der aus den „finsteren Zeiten“ herausführen sollte.5 Sie zeigt eine Idee des Politischen, die daran erinnert, dass politisches Handeln Freiheit ist und Freiheit schafft, dass es unterschiedliche Menschen im öffentlichen Raum zusammenführt, wo sie nach dem Gemeinwohl streben und spontan, dem Neuen offen gegenüber, agieren können. Ihr Verständnis ist daher nicht utopisch oder wirklichkeitsfremd, weil es sich dafür eignet, die politische Realität zu verstehen, zu verändern und im besten Fall sogar zu verbessern.6
Um noch einmal auf den Film über Hannah Arendt zurückzukommen: Auf der offiziellen Homepage hat der interessierte Zuschauer die Möglichkeit, sich über die Eichmann-Kontroverse hinaus zu informieren; gleichzeitig werden Einblicke in das Leben von Hannah Arendt gewährt. Für Lehrende steht des Weiteren umfangreiches Material für die „schulische und außerschulische Bildung“ zur Verfügung. Einleitend heißt es darin:
„Hannah Arendt ist weder im Alltag, noch in den Lehrplänen für die meisten präsent. Dabei kann sie mit ihren Analysen des Totalitarismus […] und mit ihrem Verständnis von Politik in einem modernen Staatswesen, ihrer hervorragenden Vernetzung in Philosophie und Literatur der abendländischen Kultur als Kronzeugin für das gesamte 20. Jahrhundert gelten. […] Denn sie wirkt historisch und aktuell wegweisend in ihrem Verständnis von Menschlichkeit, persönlicher Verantwortung und regellosem Denken – für die aktuelle Politik in gemischtnationalen Gesellschaften und für die Anerkennung und Würdigung jedweder Pluralität menschlichen Lebens. Das macht sie auch und gerade für junge Menschen zu einer spannenden Denk-Partnerin.“7
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Auch aus diesem Vorwort wird einsehbar: Hannah Arendts „weltveränderndes Denken“ beschränkt sich nicht auf den Eichmann-Prozess und auf ihre Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. In ihrem Denken kann sie gleichzeitig wegweisend auch für die aktuelle Politik wirken. Und wenn es stimmt, dass sie gerade für junge Menschen interessant ist, warum findet man sie weder „im Alltag noch in den Lehrplänen“8 wieder?
Tatsächlich gibt es wenig Literatur, die sich mit Hannah Arendts politischem Denken im Zusammenhang mit schulischer Bildung oder dem Bereich der Erwachsenen- und Weiterbildung auseinandersetzt.9 Auch Arendt selbst hat sich in ihren Schriften nicht konkret mit dem Begriff der Bildung beschäftig. In ihrem Essay Die Krise in der Erziehung, der 1958 publiziert wurde und einem Vortrag entstammt, den sie im Mai 1958 in Bremen gehalten hat, schreibt Arendt: „Ich bin von Beruf nicht Pädagogin und werde also hier über etwas sprechen, wovon ich im Sinne der Experten nichts verstehe.“10 Tatsächlich schreibt Arendt in ihrem Essay, ausgehend von der Krise der Erziehung in den Vereinigten Staaten von Amerika, von den politischen Problemen in der ← 11 | 12 → modernen Welt. In ihren Ausführungen zur Erziehungskrise thematisiert Arendt in erster Linie das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen in der Welt und den zunehmenden Traditions- und Autoritätsverlust in der Erziehung. Hannah Arendt verwendet dabei den Begriff der Erziehung ausschließlich für Erziehungsprozesse von Kindern, der so verstanden spätestens mit dem Schulabschluss endet. Die Entwicklung des Kindes vollzieht sich nach Arendt daher immer in einem geschützten Raum: in der Familie und in der Schule, nicht jedoch in der Öffentlichkeit. Lernen jedoch – weil es sowohl im Privaten als auch öffentlich stattfinden kann – ist nicht mit Erziehung gleichzusetzen. Es scheint daher so, als könne Arendts Erziehungsbegriff zunächst wenig hilfreich für den umfassenden Bereich der Bildung sein.
Wenn nun aber Arendts Denken wegweisend für die gegenwärtige Politik sein soll, impliziert dies nicht auch die politische Bildung? Wenn sich ihr Verständnis dafür eignet, die Realität zu verändern und zu verbessern, bedarf es dann nicht auch einer Bildung, die zum Verstehen der Welt beiträgt und sich mit den elementaren Fragen des politischen Lebens auseinandersetzt? Oder anders gefragt: Was versteht man im Allgemeinen unter politischer Bildung?
Im Grunde hat diese zunächst die Aufgabe, Einsichten in fundamentale Sachverhalte unseres Daseins in einem rational-dialogischen Sinne zu vermitteln, die prägende Wirkung gewinnen.11 Mit anderen Worten: Die Bürgerinnen und Bürger sollen mit den gemeinsamen Angelegenheiten vertraut gemacht und zur Teilhabe am öffentlichen Leben befähigt werden. Gerade die heranwachsende Generation muss in die jeweilige politische Wirklichkeit, in die sie hineingeboren wird, geleitet werden. Es geht nicht nur darum, dass sich die Lernenden umfassendes Wissen aneignen; politische Bildung muss auch zum Verstehen der Phänomene beitragen. Es soll dabei nicht nur die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen verbessert, es soll ihnen zugleich ein Bewusstsein für die Realität vermittelt werden. Bildung beinhaltet dabei immer eine doppelte Dimension – bezogen auf den Inhalt sowie auf den Prozess der Vermittlung und Aneignung. Dabei ist die politische Bildung auch von neuen Entwicklungen in der Politik und sich ständig wechselnden Themen abhängig und fordert so verstanden eine ← 12 | 13 → Reihe von Kompetenzen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die leitenden Fragen der politischen Bildung wie folgt bündeln: Wie sollen die Menschen ihr Zusammenleben gestalten? Was bedeutet es, gemeinsam tätig zu sein? Wie ist Freiheit für alle Menschen möglich? Wie können gegensätzliche Meinungen, mögliche Konflikte oder Probleme gelöst werden? Welche politische Ordnung kann die gemeinsamen Angelegenheiten der Menschen am besten sichern? Und welche Regeln und Gesetze können das Miteinander in der Gegenwart und in der Zukunft garantieren?
Eine derartig verstandene politische Bildung existiert in Deutschland bereits seit dem 19. Jahrhundert. Es gibt natürlich auch Ansätze, die sich bis weit in die Antike zurückverfolgen lassen, die aber nicht einem Verständnis von moderner politischer Bildung entsprechen.12 In diesem Zusammenhang sind daher in erster Linie die unterschiedlichen Konzepte und Theorien in der deutschen Politikdidaktik von Bedeutung, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt wurden. Die meisten dieser didaktischen Ansätze suchten vor allem praxisfähige Antworten für die Befähigung zum „demokratieorientierten“ Urteilen und Handeln. Aber auch die Vermehrung und Spezialisierung des Wissens und die zunehmenden existenziellen Probleme und Konflikte in der politischen Welt stellten und stellen die politische Bildung fortwährend vor eine große Herausforderung. Dabei sind die Theorieentwürfe politischer Bildung jeweils „Teil der geistigen Situation ihrer Zeit“ und als solche geprägt von den politischen Verhältnissen, in denen sie entwickelt wurden und auf die sie sich beziehen. Diese Arbeit soll aber keine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der politischen Bildung seit 1945 sein. Gleichwohl wird für ein besseres Verständnis zunächst ein kurzer Überblick über die Entstehung und Weiterführung der politischen Bildung in Deutschland gegeben.13
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1.1 Geschichte der politischen Bildung seit 1945
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war vor allem durch die Auseinandersetzung zwischen Theodor Wilhelms14 Partnerschaftspädagogik und den Versuchen der Neubelebung der klassischen Staatsbürgerkunde der Weimarer Republik durch Theodor Litt und andere Autoren geprägt. Theodor Wilhelm orientierte sich in seinen Ausführungen am „Erfahrungslernen“ des amerikanischen Pragmatismus und vor allem auch an den pädagogischen und philosophischen Ideen John Deweys. In erster Linie sah die Partnerschaftserziehung dabei keine inhaltliche Auseinandersetzung mit politischen Themen vor, sondern sie beinhaltete vielmehr die Vermittlung von demokratischem Verhalten. Politische Bildung verstand Wilhelm danach nicht mehr als „Erziehung zum Staat“, sondern als Chance, eine friedensstiftende und friedenserhaltende Lebensweise der Menschen zu ermöglichen. Theodor Litt hingegen warf den partnerschaftlichen Erziehungskonzepten vor, dass sie den Begriff des Politischen in den sozialen Bereich übertragen würden. Diese Ansätze würden den Staat, als alleinigen Garanten für Frieden und Ordnung, sowie politische Konflikte und das Kämpfen um Macht ausblenden. Mit dieser Auseinandersetzung ging in Deutschland auch die Diskussion einher, ob für die politische Bildung ein eigenes Fach erforderlich ist oder ob sie besser als Unterrichtsprinzip aller Fächer zu realisieren sei.
Anfang der 1960er Jahre entstanden schließlich die ersten Konzepte politischer Bildung, die gleichzeitig eine neue Phase in der didaktischen Diskussion einleiteten. Viele dieser Konzeptionen aus dieser Zeit waren und sind für die politische Bildung über einen längeren Zeitraum von besonderer Bedeutung gewesen – und sind es zum Teil noch heute. Ausgangspunkt für die Überlegungen waren zunächst die zunehmende Stofffülle und die ← 14 | 15 → Unübersichtlichkeit der zu vermittelnden Inhalte. Die politikdidaktischen Publikationen beinhalteten dabei vor allem eine grundsätzliche Forderung, dass sich politischer Unterricht auf das Wesentliche konzentrieren sollte; im gleichen Zusammenhang wurde in vielen Fällen auch eine Kritik an der politischen Bildung selbst geäußert: Ihre Wirkung wurde durch die kaum mehr überschaubare Masse von Wissensinhalten und durch die bloße Vermittlung dieser Kenntnisse als bedroht angesehen. So traten zunehmend Probleme der didaktischen Erschließung und Bemühungen um die Darstellung politischer Grundeinsichten in den Vordergrund. Zentrale Fragen waren nun: Was soll politischer Unterricht vermitteln? Wozu soll er befähigen? Und warum und in welcher Form bedarf es überhaupt eines politischen Unterrichts?
Mit der Studentenbewegung und den Protesten von 1968 wurden schließlich noch einmal ganz neue Ansätze in die Überlegungen politischer Bildung aufgenommen. Viele Didaktiker wurden nun durch die Ideen der Kritischen Theorie beeinflusst und orientierten sich in ihren Ausführungen am Begriff der Emanzipation. Es kam infolgedessen auch zu einer bildungspolitischen Polarisierung, in deren Zentrum die Auseinandersetzung zwischen konservativen und progressiven Strömungen, beziehungsweise zwischen rechten und linken Positionen stand. So plädierten die Vertreter einer emanzipatorisch verstandenen politischen Bildung für einen gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozess mit dem Ziel, überflüssige Herrschaft von Menschen über Menschen abzubauen. Auf der anderen Seite gab es Autoren, die das wesentliche Ziel der politischen Bildung in der Vermittlung der Fähigkeit und Bereitschaft zur politischen Beteiligung sahen. Dieses sollte durch eine unvoreingenommene Urteilsbildung und verantwortliche Entscheidungsfähigkeit im Sinne der Grundnormen der demokratischen Ordnung realisiert werden.
Für Peter Massing ist seit den 1980er Jahren die Zeit der Produktion von politikdidaktischen Konzeptionen in der politischen Bildung vorbei. Die anschließende „nachkonzeptionelle Phase“15 ist vor allem durch Pluralisierung und Aufsplitterung der verschiedenen politikdidaktischen ← 15 | 16 → Ansätze gekennzeichnet. Das wissenschaftliche Spektrum der politischen Bildung erweitert sich zunehmend – gerade Orientierungen würden in einem ständigen Wechsel miteinander konkurrieren: Lebenswelt-, Schüler-, Erfahrungs-, Zukunfts- oder Handlungsorientierung – um nur eine Auswahl zu nennen. Diese Entwicklung wird dabei nicht nur von einer „Entwertung des Kognitiven“16 begleitet, sondern gleichsam auch von einem zunehmenden Verlust von theoretisch bereits Erreichtem. Weder die deutsche Wiedervereinigung noch das Bewusstsein von den Gefährdungen der Lebenswelt konnten einer theoretisch-normativen Neufundierung politischer Bildung entscheidende Impulse geben.17 Die Rezeption politischer Bewegungen und Auseinandersetzungen erfolgt nach Massing vielmehr
„[…] selektiv, oberflächlich oder eklektizistisch, so daß der Vorwurf, vor allem ‚zeitgeistorientierte Alibiveranstaltung“ zu sein, […] nicht so leicht von der Hand zu weisen ist. Von einer theoretisch-normativen Fundierung kann jedenfalls keine Rede sein. Auch die in jüngster Zeit festzustellende ‚Flucht‘ in die Methoden läßt für eine Grundlegung politischer Bildung wenig erwarten.“18
Diese Pluralisierung bzw. Aufsplitterung der politikdidaktischen Konzepte lässt sich noch an einem anderen Zusammenhang ablesen: Es soll dabei die These aufgestellt werden, dass man in der Auseinandersetzung mit politischer Bildung immer auch berücksichtigen muss, welcher Begriff von Politik einem jeweiligen Verständnis zugrunde liegt. Weder in der Politikwissenschaft noch in der Politikdidaktik gibt es einen einheitlichen Politikbegriff. Es liegt im Wesen dieser Wissenschaften, dass es nicht den einen Begriff und nicht die eine Lösung gibt. Politische Bildung umfasst demzufolge auch nicht nur eine einzige Herangehensweise, sondern beschäftigt sich immer mit vielerlei Perspektiven, Ansätzen und Ideen. Deutlich wird dies, wenn man die jeweiligen Verständnisse der deutschen Politikdidaktiker der Nachkriegszeit auf ihren Politikbegriff und ihre jeweilige Darstellung von politischer Bildung untersucht. Eine ausgezeichnete Möglichkeit bietet hierzu das Interviewbuch zur Politikdidaktik, das von Kerstin Pohl erstmals 2003 herausgegeben wurde.19 ← 16 | 17 → Darin stellen die wichtigsten deutschen Politikdidaktiker ihre Vorstellungen zu Grundfragen aus Theorie und Praxis der politischen Bildung dar; insbesondere die jeweiligen Politik- und Bildungsverständnisse sind für die zu entwickelnde Thematik von besonderer Bedeutung.
So ist für Wolfgang Wilhelm Mickel Politik eine Sache „[…] sittlich fundierter – auf den Prinzipien der Demokratie und Ethik (Kant) beruhender – aktiver Teilnahme an und Auseinandersetzung mit den öffentlichen Angelegenheiten […].“20 Paul Ackermann zitiert den deutschen Politikwissenschaftler Gerhard Lehmbruch, wenn er Politik als gesellschaftliches Handeln versteht, „[…] welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Konflikte über Werte … verbindlich zu regeln.“21 Peter Massing vertritt ein ähnliches Politikverständnis. Prägendes Element des Politischen ist für ihn der Konflikt; zu „[…] große Übereinstimmung, ein breiter Konsens oder das ständige Gerede vom Gemeinwohl“22 machen ihn zutiefst misstrauisch. Für Wolfgang Sander hingegen sind es gerade die gemeinsamen Angelegenheiten menschlicher Gesellschaften, die das Politische ausmachen: „Politik gibt es, weil wir als Menschen nur in Gesellschaften leben, zugleich aber dieses Zusammenleben auf höchst unterschiedliche Weise gestalten können.“23
Es gibt darüber hinaus auch einige Politikdidaktiker, die die These vertreten, dass politische Bildung keines ihr zugrunde liegenden Politikbegriffes bedarf. Für Siegfried George erscheinen vielmehr „[…] soziologische Denk- und Arbeitsweisen besonders geeignet, [um] aus der Sozialkunde politische Bildung mit Politisierungseffekten zu machen.“24 Auch Hans-Werner Kuhn vertritt eine ähnliche Ansicht: „Politik lässt sich nicht einfach definieren.“25 Es kann somit kein einheitlicher Politikbegriff für die politische Bildung festgestellt werden. Je nach individuellem Verständnis wird Unterschiedliches am Politischen hervorgehoben, einbezogen oder ganz ausgegrenzt.
Wie verhält es sich nun mit dem Begriff von politischer Bildung? Welche Ziele sollte der politische Unterricht verfolgen? Für Bernhard Sutor besteht ← 17 | 18 → die Aufgabe des Politikunterrichts in erster Linie darin, „[…] dem künftigen ‚Normalbürger‘ des demokratischen Gemeinwesens ein Grundverständnis für Politik zu vermitteln und seine Bereitschaft zu politischer Beteiligung zu fördern.“26 Für Georg Weißeno ist der Politikunterricht ebenfalls für die Vermittlung spezifischer Kenntnisse über die Politik und für eine normative Orientierung zuständig: „Insofern ist er systemorientiert und folgt bestimmten politischen Grundüberzeugungen. Sie […] werden auf der Basis von demokratietheoretischen Erörterungen gewonnen.“27 Carl Deichmann führt in seiner Beantwortung der Frage nach den Zielen des politischen Unterrichts den Begriff der Bürgerrolle ein: „Das allgemeine oberste Lernziel der politischen Bildung ist die Befähigung zur aktiven Wahrnehmung der Bürgerrolle durch Entwicklung einer demokratischen politischen Identität.“28 Für Gotthard Breit schließlich sollen die Lernenden nicht nur im Politikunterricht, sondern in allen Fächern „[…] das Bewusstsein ausbilden, für sich selbst verantwortlich zu sein. Sie sollen die Bereitschaft und die Fähigkeit entwickeln, sich ihres ‚Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen‘ (Kant).“29
1.2 Theoretische Reflexion der politischen Bildung
Die historischen Ausführungen und die kursorische Darstellung der individuellen Politikbegriffe haben gezeigt, dass die Didaktiker ausgehend von ganz unterschiedlichen Verständnissen von politischer Bildung auch immer neue konzeptionelle Ansätze entwickelt haben. Viele Autoren plädieren heute für einen weiten Politikbegriff, der die gesamte Lebenswelt der Heranwachsenden umfassen soll. Andere Didaktiker hingegen fordern, dass sich die politische Bildung an einem engen Politikbegriff orientieren muss. Im Mittelpunkt dieser Ansätze steht dann oftmals ein Politikverständnis, das sich auf die drei Dimensionen des Politischen – polity (Form), policy (Inhalt) und politics (Prozess) – bezieht oder an dem Politikzyklus als Prozessmodell orientiert.
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Wolfgang Sander macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass es aber grundsätzlich nicht sinnvoll ist, sich den Verlauf der politikdidaktischen Forschung als endlose Reihe von einander ablösenden, immer neuen Konzeptionen zu denken:
„Zwar bleibt es eine Aufgabe der didaktischen Theoriebildung, den jeweiligen Stand von Forschung und theoretischer Reflexion so aufzuarbeiten und zu systematisieren, dass im Sinne von fachdidaktischen Konzeptionen gut begründete Kriterien für die Beantwortung der wesentlichen Entscheidungsfragen bei der Planung von Lernangeboten in einem konsistenten Argumentationszusammenhang entwickelt werden. Gleichwohl stellt sich aber Politikdidaktik als Wissenschaft heute als ein offeneres Feld dar, in dem […] eine Vielzahl unterschiedlicher, zum Teil auch auf sehr viel speziellere Fragestellungen gerichteter wissenschaftlicher Arbeitsschwerpunkte möglich und notwendig ist.“30
Politikdidaktik kann sich demzufolge auch in „theoretischer Reflexion“ mit den grundlegenden Fragen des eigenen Selbstverständnisses und der Identität von politischer Bildung beschäftigen. Anders formuliert: Die politische Bildung hat sich in den letzten Jahren zunehmend die Möglichkeit offen gehalten, für eine Erweiterung durch philosophische oder politiktheoretische Ansätze zugänglich zu sein. Wenn die politische Bildung zum Gegenstand die politischen Probleme der gegenwärtigen Zeit, die politischen Prozesse und Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten hat, bedarf es auch einer Begründung
„[…] ihres auf Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zielenden Sinnes. Dazu muss die politische Bildung zurückgreifen auf das Arsenal der europäischen politischen Philosophie. Diese darf aber dann gerade nicht zu einer von den politischen Problemen abgelösten Ideengeschichte werden. Die politischen Ideen, die große Denker in unterschiedlicher Weise formuliert haben, waren ihrerseits immer Antworten auf situationsbedingte Fragen nach der guten bzw. der angemessenen Ordnung.“31
Die Didaktik kann sich im Sinne Bernhard Sutors mithilfe von theoretischen Verständnissen auf ihre ursprüngliche Zielsetzung zurückbesinnen. Politiktheoretische Ansätze können so dazu verhelfen, den Gehalt wesentlicher ← 19 | 20 → Fragen und Zusammenhänge freizulegen und auch erweiternd als politische „Ordnungsreflexion“ auftreten – gerade in Zeiten von Unordnung und Unübersichtlichkeit. So können nicht nur Erfahrungen und Einsichten aufgezeigt werden, die den spezifisch politischen Begriffen inhärent sind, diese können zudem auch aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Dabei muss sich jeder ideengeschichtliche Beitrag daran messen lassen, ob er wirklich etwas Neues hinzuzufügen vermag. Gleichzeitig muss politische Bildung auch immer den Ansprüchen gerecht werden, sich mit existenziellen Fragen und der damit einhergehenden Verantwortung einzelner Menschen auseinanderzusetzen. Auch in diesem Zusammenhang können politiktheoretische Ansätze mögliche Antworten und Begründungen auf derartig fundamentale Themen liefern. So kann ein politiktheoretisches Verständnis, das eine andere Herangehensweise, eine neue Denkart mit einbezieht, auch für den gegenwärtigen Diskurs erhellend und bereichernd sein.
1.3 Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit
Diese Arbeit möchte einen Beitrag zu einer solch theoretischen Reflexion leisten und eine Verbindung zwischen Hannah Arendts Denken und der politischen Bildung herstellen. Es werden im Folgenden drei politikdidaktische Ansätze, die als „Klassiker“ der politischen Bildung gelten können, mithilfe von Arendts Verständnis des Politischen weitergedacht. So werden in den ersten Kapiteln zunächst die Konzepte von Kurt Gerhard Fischer, Hermann Giesecke und Wolfgang Hilligen vorgestellt, die zu den „Gründungsvätern“ der Politikdidaktik zählen und deren Schriften noch immer zu den bedeutendsten und einflussreichsten der politischen Bildung in Deutschland gehören. Die von ihnen entwickelten Ansätze prägten die Diskussion in der politischen Bildung nachhaltig und sie sind weiterhin auch für den gegenwärtigen politischen Unterricht richtungsweisend: Die dargestellten Themen und Analysen lassen sich in vielen Fällen ohne Schwierigkeiten in den aktuellen Kontext integrieren und sind so auch noch für nachfolgende Generationen von Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit den politikdidaktischen Theorien wird dabei in erster Linie auf der Grundlage der Primärliteratur nachgezeichnet. Um die Ansätze von Fischer, Giesecke und Hilligen aus einer neuen Perspektive weiterzudenken, bedarf es einer Darstellung, die den ursprünglichen Gehalt der Konzepte sichtbar macht. Es wird daher in ← 20 | 21 → den ersten Kapiteln nur ausgewählte Sekundärliteratur herangezogen, wenn sie beispielsweise den historischen Kontext der jeweiligen Didaktik erhellen oder andere entscheidende Beiträge zur Zielsetzung dieser Arbeit leisten können.32
Details
- Seiten
- 347
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783653046748
- ISBN (MOBI)
- 9783653981933
- ISBN (ePUB)
- 9783653981940
- ISBN (Hardcover)
- 9783631652091
- DOI
- 10.3726/978-3-653-04674-8
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (Juli)
- Schlagworte
- Politikbegriff Hermann Giesecke Phänomenalität existenzialistische Zeitdiagnose
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 347 S., 1 Graf.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG